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Gelb, Adhémar

Geb. 18.11.1887 in Moskau, gest. am 7.8.1936 in Schömberg/Baden-Württemberg.

 

Nach dem Abitur 1906 in Moskau studierte er Philosophie (mit einem Schwerpunkt in Psychologie) in Berlin und München. 1910 promovierte er in Berlin bei Stumpf mit einer sehr ambitionierten Dissertation »Theoretisches über Gestaltqualitäten«,[1] die sich aber in einer kursorischen und reichlich diffusen Kombination von zeitgenössischen Definitionsversuchen erschöpft (größte Autorität war dabei Husserl). Es ist wohl seinen konkreten Erfahrungen der nächsten Jahre zu verdanken, daß seine späteren Arbeiten einen anderen Zuschnitt erhielten, in denen er die Fragestellung der Dissertation weiter verfolgte und präzisierte. 1910 bis 1912 war er Assistent bei Stumpf in Berlin, ab 1912 dann in Frankfurt am Psychologischen Institut der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, das 1914 in die neugegründete Universität eingegliedert wurde. 1915 holte ihn Kurt Goldstein für seine Forschungen über die Folgen von (Kriegs-)Hirnverletzungen an das Frankfurter Speziallazarett für hirnverletzte Soldaten, wo er dann mit diesem gemeinsam seinen spezifischen Forschungsansatz entwickelte.

Nach dem Krieg wurde er eingebürgert (1920). 1919 wurde er in Frankfurt mit einer Venia für Philosophie und Psychologie habilitiert und 1924 zum a.o. Professor ernannt, 1929 wurde er (gemeinsam mit Wertheimer) Direktor des Psychologischen Instituts. In Frankfurt war G. maßgeblich daran beteiligt, daß eine sozialpsychologische Komponente in der dortigen Sozialwissenschaft bestimmend wurde.[2] 1931 erhielt er eine (ordentliche) Professur für dieses Lehrgebiet in Halle, wo er 1933 aus rassistischen Gründen entlassen wurde (im Sommersemerster lehrte er dort noch), zunächst mit allen materiellen Sanktionen, die ihn auf die Unterstützung von Freunden angewiesen sein ließen. 1934 erhielt er dann über ein Gnadenverfahren geringe Bezüge. Er führte zunächst noch Berufungsverhandlungen mit der Universität Stockholm; 1935 hielt er in diesem Zusammenhang Gastvorle­sungen an der Universität Lund. Obwohl er zunächst noch mit Goldstein (und wie dieser mit einer Unterstützung der Rockefeller Stiftung) in die Niederlande emigrierte, kam es zu keiner endgültigen Emigration mehr, weil G. wegen seiner Krankheit (Lungentuberkulose) zurück nach Deutschland mußte, wo er daran verstarb (zu den schwierigen Lebensumständen nach 1933, s. Wolfradt, Q).

Seine Arbeiten sind vor allem wahrnehmungspsychologisch ausgerich­tet.[3] Für die Sprachwis­senschaft sind seine Arbeiten zur Aphasie in Verbindung mit Kurt Goldstein wichtig geworden, die bei diesem dargestellt werden, vor allem die »Psychologische[n] Analysen hirnpathologischer Fälle. Über Farbamnesie nebst Bemerkungen über das Wesen der amnestischen Aphasie überhaupt und die Beziehung zwischen Sprache und dem Ver­halten zur Umwelt«.[4] Die in diesem Beitrag herausgestellten metho­dologischen Überlegungen (bes. S. 131ff.) zeigen G.s Handschrift. Sie betonen die Zirkularität vieler quantitativer Untersuchungen, bei denen unklare begriffliche Prämissen der Forschung nur in großer Serie reproduziert werden; dem stellte er die Notwendigkeit qualitativer Fallstudien ge­genüber, die die einzelnen Symptome in den handlungs- bzw. lebens- (»erlebnis«-) praktischen Kontext der Probanden stel­len. Statt normativem Registrieren von pathologischen Abweichungen zeigen diese Arbeiten in phänomeno­logisch reicher Beschreibung die Struktur eines Syndroms auf – ge­rade weil sie sich zunächst auf den idiosynkratischen Einzelfall einlassen.

Vom Methodischen her liegen Homologien zu den struktu­ralen Be­schreibungen der Sprachwissenschaft auf der Hand – sie ma­chen diese Arbeiten gerade auch für die heutige Forschung im Ver­gleich zu den zahlreichen statistisch untermauerten rein klassifi­katorischen Arbeiten der Aphasiologie der Nachkriegsjahre auf­schlußreich. Wie wenig dahinter ein Abgleiten in reine Kasuistik lag (wie die Kritik verschiedentlich lautete), zeigen auch die theoretisch-zu­sammenfassenden Arbeiten, die so auch in der dama­ligen interna­tionalen Sprachwissenschaft registriert wurden, wofür besonders die Einladung zu einem Beitrag in dem Son­derband »Psycho­logie du langage« spricht (neben dem von Goldstein der ein­zige zur Sektion »Sprachpathologie«),[5] der tatsächlich eine Summe der dama­ligen sprachtheo­retischen Diskussionen bietet. G. argumentierte dort, wie schon der Titel signalisiert (»Remarques générales sur l‘utilisation des données pathologiques pour la psychologie et la philosophie du langage«),[6] vor dem Hintergrund eines bemer­kenswerten Überblicks über die Sprachwissenschaft, ins­besondere auch über kulturanalytische Richtungen, wie z.B. seine wiederhol­ten Hinweise auf Vossler zeigen. Daß er seine Arbeiten in diesem, im weitesten Sinne kulturanalytisch verstandenen Umfeld situ­ierte, zeigt auch die Tatsache, daß er in Frankfurt/M. z.B. in das kritische Habilitationsverfahren von Benjamin einbezogen wurde (s. dort).

In den postum veröffent­lichten Gastvorträgen (redak­tionell betreut von W. Hochheimer), die er 1935 in Lund gehalten hat (»Zur medizinischen Psycho­logie und philosophischen Anthropolo­gie«),[7] entwic­kelte G. systematisch seine Überlegungen zu den experimentellen For­schungen weiter, wobei er auch für die Sprachanalyse die Probleme atomisierender »positivi­stischer« Beobachtung und einer ihr ent­sprechenden Reduktion des Gegenstandsverständnisses zeigt.

Q: Rudolf Bergius, »Zum 75. Geburtstag von Adhémar Gelb«, in: Psych. B. 7/1962: 360-369); DBE und NDB (R. Bergius); Geuter 1986; Heuer/Wolf 1997; U. Wolfradt, in: Stengel 2013: 119 - 124)


[1] Leipzig: Barth 1910 (60 S.).

[2] S. Wiggershaus 1986: 59. Zu seiner erfolgreichen Rolle als Hochschullehrer dort, s. etwa die große Zahl der von ihm dort betreuten Dissertationen, aufgelistet bei Ash 1995: 424-425.

[3] S. die Darstellung von Werk und Leben mit einem Schriftenver­zeichnis von Bergius (Q).

[4] In: Psych. F. 6/1925: 127-186.

[5] In: J. de Psych. normale et pathologique 30/1933.

[6] a.a.O., S. 403-429.

[7] In: Acta psychologica (Lund) 3/1937: 193-271; nachgedruckt Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969.