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Hoenigswald, Richard

Geb. 18.7.1875 in Magyaróvár (Ungarisch-Altenburg),[1] gest. 11.7.1947 in New Haven (Connecticut).

 

H. studierte zunächst in Wien Medizin (Dr. med. 1902), dann in Graz und Halle Philosophie. 1904 promovierte er, nachdem er vorher bereits wissenschaftstheoretische Arbeiten publiziert hatte. 1906 habilitierte er in Breslau, nachdem er sich zuvor hatte protestantisch taufen lassen. 1915 wurde er eingebürgert, in einem langwierigen Verfahren, bei dem sein Judentum (trotz der Taufe!) zunächst einen Hinderungsgrund gebildet hatte. 1916 wurde er dort zum a.o. Professor, 1919 zum o. Prof. ernannt. Im Ersten Weltkrieg mußte er Kriegsdienst als Arzt in einem Militärhospital leisten. 1930 erhielt er eine o. Prof. für Philosophie in München, 1933 wurde er aus rassistischen Gründen entlassen. In diesem Fall kam es zu einer der wenigen Solidaritätsaktionen von Kollegen: flankiert von einer Protestresolution von 12 Professoren intervenierte die Universität gegen die Entlassung beim Kultusministerium, das schließlich erst auf der Basis eingeholter Negativgutachten die Entlassung vollzog.[2] Seinen Sohn Heinrich (Henry H.) schickte er zum Studium ins Ausland und bemühte sich selbst wohl auch zunächst vergeblich um ein Visum für die USA (1936 steht er in den Listen der »Notgemeinschaft«).[3] Nach dem Pogrom 1938 wurde er im KZ Dachau inhaftiert und nur gegen die Selbstverpflichtung zur Emigration freigelassen. Daraufhin mußte er zunächst in die Schweiz ausreisen, bis er 1939 für sich und seine Frau (nicht aber den Sohn Heinrich H.) ein Visum bekam. In den USA konnte er nicht mehr Fuß fassen, wozu auch seine fehlenden, auch später nur unzureichenden Englischkenntnisse beigetragen haben. 1944 nahm er dennoch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. Nach dem Krieg gab es wohl Versuche, H. nach München zurückzuholen (Vossler bemühte sich darum, s. Q: Grassl 1998: 239), die H. aber auch aus politischen Gründen ablehnte.

In Deutschland war H. einer der prominentesten Neukantianer, der sich in Frontstellung zur Marburger Schule artikulierte, etwa in seiner Habilitationsschrift »Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik«.[4] Vor 1933 publizierte er entsprechend der Rolle der Philosophie in der akademischen Ausbildung (z.B. in Hinblick auf das in der Lehrerausbildung geforderte »Philosophicum«) eine Reihe grundsätzlich ausgerichteter Werke in der Pädagogik, in der Religionswissenschaft (zum Mythos), auch exegetische Arbeiten im Bereich der Dichtung, neben seinem Arbeitsschwerpunkt in der Wissenschaftstheorie.

Im Gegensatz zu der rein in der kritizistischen Tradition argumentierenden Habilitationsschrift nehmen seine späteren Schriften explizit Forschungsbefunde der Einzelwissenschaften auf, vor allem in Auseinandersetzung mit dem Psychologismus, und so auch die Diskussionen der zeitgenössischen Sprachwissenschaft, wobei die Orientierung auf sprachliche Fragen sich für ihn aus seinen theologisch-pädagogischen Überlegungen ergab, wie aus seinem Briefwechsel deutlich wird (s. bei Otto, Q, z.B. S. 87).

Wichtig waren dabei für ihn offensichtlich auch persönliche Kontakte zu Fachkollegen, in Breslau vor allem Erwin Koschmieder; dort betreute er auch die der Schrift gewidmete Dissertation von A. Modrze. In der Münchener Zeit wurde vor allem Vossler wichtig, den er in seinen späteren Schriften immer wieder zitiert.[5] Wie bei diesem ist auch bei H. die Analyse der Sprache eingebettet in die Frage nach der Kultur,[6] gegen die Naturalisierung des Sprachlichen in den zeitgenössischen positivistischen Begründungsversuchen. Parallel zu Husserl verschiebt sich bei ihm die wissenschaftstheoretische Begründung hin zu der sozialen Dimension der Form wissenschaftlicher Argumentation, die er in den Grundkategorien der Sprache angelegt findet, so z.B. in seinem 1940 im Exil fertiggestellten zweibändigen Werk »Die Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre«.[7]

Der systematische Ertrag dieser Beschäftigung ist sein Werk »Philosophie und Sprache«,[8] in dem er in kritischer Auseinandersetzung mit anderen Neukantianern, v.a auch mit Cassirer,[9] auf der Autonomie der Sprache insistiert, die nicht nur nicht naturalistisch reduzierbar ist (auf Tatbestände der Phonetik genauso wenig wie auf kommunikative Praktiken, die sich auch bei Tieren finden), sondern auch nicht in einer allgemeinen Symbolpraxis aufgeht, wie es bei Cassirer angelegt ist. Auch wenn viele seiner Ausführungen etwas langatmig als umständliche akademische Umformulierungen von relativ elementaren Tatbeständen daher kommen,[10] so ist das Buch doch über weite Strecken eine sehr systematische Rekonstruktion strukturaler Ansätze in der neueren Sprachwissenschaft, gegen atomisierende Tendenzen, sei es physikalistischer, sei es psychologistischer Ausrichtung, die gerade heute wieder Konjunktur haben. In diesem Sinne sind seine Ausführungen zum Phonembegriff gegenüber einer physikalischen Lautanalyse (S. 27-28) genauso bemerkenswert wie die zur syntaktischen Analyse, so zum Primat der Satzstruktur gegenüber dem Wort (S. 108-110, 383). In dieser Hinsicht entwickelte er seine Argumentation strikt funktional. Dazu gehört auch, daß er sprachliche Systeme als dynamisch faßte: die Anforderungen der sprachlichen Praxis machen ggf. Formen des Sprachausbaus nötig, wie er es z.B. in Hinblick auf Entlehnungen aus anderen Sprachen diskutiert (z.B. S. 140).

Systematisch trennt er philosophisch-logische Grundbegriffe, etwa die für die sprachliche Äußerung konstitutive Prädikation, von der grammatischen Struktur des Satzes mit der keineswegs notwendigen zweiteiligen Subjekt-Prädikatsstruktur (S. 117). Im Rückgang auf Humboldt, der seine primäre Autorität in dieser Hinsicht ist, sieht er die Grundstruktur der Sprache durch Verständigung definiert, also dialogisch, wie es für ihn in dem System der Personalpronomina symbolisiert ist, gegenüber der Hypostasierung sprachlicher Elemente, auf denen die (monologische) Logik beruht (S. 335, 355). In dieser Hinsicht trennt er strikt zwischen der Betrachtung von Sprache als „Prinzip“: den notwendigen Momenten der sprachlichen Formgebung intellektueller Aktivität, und der empirischen Analyse von Sprache als „Tatsache(n)“, wodurch für ihn der Raum für die Analyse von Sprachverschiedenheit definiert ist.

Sprache ist für ihn notwendig immer nur als besondere Sprache zu fassen, eingebunden in die Bestimmtheit einer Sprachgemeinschaft (so gegen die Fortschreibung des Babel-Mythos auch in wissenschaftlichen Arbeiten zum Sprachursprung): die Besonderung ist für ihn die Grundform der empirisch zugänglichen Wirklichkeit. Für das Subjekt spricht er so von der Monas (gr. „[das] Eine“), die sich nur in der reflexiven Differenz zum anderen (wie bei der Gegenüberstellung von Ich / Du) zugänglich ist – nicht anders als auch eine Sprache (bis hinunter zur Ausdifferenzierung dialektaler Formen) sich nur in der Differenz zu anderen Sprachen fassen läßt. So gesehen ist Sprache nur zu verstehen in ihrem Potential für ihre Verwirklichung in der Vielheit von Sprachen (bei dieser Überlegung bezieht er sich bemerkenswerterweise auf Schuchardt (S. 153, 160).

Die Einheit der Sprache in dieser Vielfalt ist für ihn nicht in biologischen Grundbeständen des Spracherwerbs begründet, sondern in der Möglichkeit der Übersetzung zwischen den Sprachen – eine auch heute noch bemerkenswerte Position gerade in der Auseinandersetzung mit der kognitivistischen Ausrichtung der derzeitigen Sprachwissenschaft (vgl. S. 131). Die Subjektivität der Monade findet zwar auch einen sprachlichen Ausdruck (vgl. damit die Kategorie Ausdruck bei Bühler), aber dieser steht gewissermaßen neben dem auf Erkennen ausgerichteten sprachlichen Akt. Dieser zielt auf Verständigung, die nur in einer "intermonadischen" Form möglich ist: auch reflexiv ist für das Ich nur verständlich, was auch für andere verständlich ist. Damit entwickelte H. eine bemerkenswerte Position in der Auseinandersetzung mit der kognitivistischen Ausrichtung der Sprachreflexion. Für H. gehört Sprache zur Kultur; damit ist sie Potential für Ausbauformen der Sprachpraxis, wozu er nicht zuletzt die Schrift rechnet, die, gegen alle romantisierenden Sichtweisen, für ihn nichts der Sprache Externes ist (S. 123-125, 177-184).[11]

Die Themen, die er in diesem Werk, wenn auch z.T. recht kursorisch, behandelt, zeigen die diskursiven Formationen der damaligen Sprachwissenschaft in Deutschland, gerade auch in ihren rassistischen und politisierenden Obertönen. Kritisch rekonstruiert er so z.B. den Begriff der Artikulationsbasis als sozial-kulturell fundiert (S. 135ff.), die Möglichkeit von Mehrsprachigkeit (S. 184) u.a. Im Ausgang von seinem mit sprachlichen Kategorien rekonstruierten Konzept des »monadischen« Ich, das eine »Präsenz« setzt, kommt er zu einer Differenzierung zwischen der physikalischen und der sprachlichen Zeitbegrifflichkeit, die sich in grammatischen Kategorien wie Tempus und Aspekt entfaltet und in dem erlebten Jetzt fundiert.[12]

In späteren Schriften nimmt er diese Überlegung wieder auf bzw. entwickelt von ihnen her seinen Versuch einer Begründung der Philosophie, so in dem nachgelassenen Werk »Die Systematik der Philosophie aus individueller Problemgestaltung entwickelt«,[13] wo er Teile seines Buches von 1937 z.T. sehr ausführlich reformuliert, dabei u.a. auch in der dort schon angelegten Frontstellung zu den Arbeiten des Wiener Kreises, die wie beim frühen Carnap in einer sprachkritischen Attitüde die Besonderheit der sprachlichen Formen durch einen logischen Kalkül zu umgehen versuchten (vgl. dort Band 1, S. 36f.). Dem stellt er die unhintergehbare Vielheit der Sprachen gegenüber, die nur durch eine kulturelle Anstrengung in einem Übersetzungsprojekt zu überwinden ist (S. 429ff.), wozu auch der Sprachausbau in der Schrift gehört, für dessen Analyse er auch schriftpsychologische Befunde heranzieht, die deren Nichtreduzierbarkeit auf die gesprochene Sprache zeigen (S. 620ff.). Seine Grundautoritäten sind Humboldt und aus der neueren Forschung vor allen Dingen Bühler.

Obwohl in der Philosophie eine gewisse Neuentdeckung von H. unterwegs ist, insbesondere auch durch die Publikation des Nachlasses,[14] steht seine sprachwissenschaftliche Rezeption noch aus – wie auch umgekehrt in dem ihm gewidmeten Symposion (1995) die sprachwissenschaftlichen Implikationen seiner Arbeiten trotz einer eigens eingerichteten Abteilung »Sprache und Kultur« nicht thematisch wurden.[15] Sprachwissenschaftliche Nachwirkungen hatten seine Arbeiten offensichtlich nur bei denen, mit denen er auch früh persönlichen Kontakt hatte, vor allem so in der Breslauer Zeit: dem erwähnten Koschmieder und auch E.Zwirner, der sich bei seinem theoretischen Begründungsversuch der „Phonometrie" explizit auf H. bezieht. [16] Bei diesen beiden wird denn auch H.s. Ansatz, die Reflexion auf Schriftstrukturen als duale Seite der Reflexion auf Strukturen der gesprochenen Sprache zu verstehen, aufgenommen.



Q: LdS: unplaced; BHE; B/J; Walk 1988; DBE 2005; S. Marck, »Am Ausgang des jüngeren Neukantianismus. Ein Gedenkblatt für R. H. und Jonas Cohn«, in: A. Philosophie 3/1949: 144-164 (sprachwissenschaftliche Zusammenhänge werden allerdings nicht erwähnt); H. Meyer, »Der Philosoph R. H. wird neu entdeckt«, in: Aufbau 3 (vom 30.1.1998): 16-17; W. Schmied-Kowarzik (Hg.), »Erkennen – Monas – Sprache. Internationales R.-H.-Symposion Kassel 1995«, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997 (darin die Biographie S. 463-473), Bibliographie (474-485). Ebenfalls dort autobiographische Erinnerungen des Sohnes Henry H., dem ich auch für weitere Hinweise zu danken habe. W. Otto (Hg.), »›Aus der Einsamkeit‹. Briefe einer Freundschaft: R. H. an Ernst Lohmeier«, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. Ein ausführlicher Lebenslauf in R. Grassl, »Der junge R. H.«, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998: 205-241. Außerdem R. Grassl/P. Richart-Willmes, »Denken in seiner Zeit. Ein Personenglossar zum Umfeld R. H.s«, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998.

 



[1] In der Vita (als Beilage zur Dissertation, s. Schmied-Kowarzik, Q: 468) betont er: »Meine Muttersprache ist die deutsche«. Zur jüdischen Familiengeschichte, s. den Nachruf von Morpurgo Davies auf Henry (Heinrich) Hoenigswald (s. bei diesem, Q).

[2] S. dazu C. Schorcht, »Philosophie an den Bayerischen Universitäten 1933-1945«, Erlangen: Fischer 1990. Vor allem das vernichtend abgefaßte Gutachten von M. Heidegger vom 25.6.1933 (das das bayerische Kultusministerium angefordert hatte) war dabei zentral, der dort "die Berufung dieses Mannes an die Universität München als einen Skandal bezeichnen (muß)", der nur durch alles das zustande kommen konnte, wogegen der Nationalsozialismus gerichtet war: der politische "Liberalismus" und das "katholische System", die Ablenkung des Blicks von der "Herkunft aus Blut und Boden". Erschwerend kam für Heidegger hinzu, daß H. seine Position "mit einem besonders gefährlichen Scharfsinn und einer leerlaufenden Dialektik verficht" (das Gutachten ist abgedruckt in M. Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 16, Frankfurt: Klostermann 2000: 132 - 133).

[3] So Davies (s.o.). Nach anderen Quellen soll er sich zunächst geweigert haben auszuwandern.

[4] Heidelberg: Winter 1912. Damit schloß er an seine Dissertation über Humes Erkenntnistheorie an.

[5] Zu seiner zunehmend isolierten Situation in München, in der der Kontakt zu Vossler immer wichtiger wurde, s. die Briefe bei Otto (Q), bes. S. 102.

[6] So ist sicher auch nicht zufällig der Kultursoziologe Norbert Elias Schüler von H. gewesen, s. Meyer (Q).

[7] Postum in den nachgelassenen Schriften als Bd. 7 und 8 veröffentlicht, hgg. von H. Oberer/H. Wagner, Bonn: Bouvier 1969-1970; zu der sprachlichen Fundierung gerade auch mathematischer Repräsentationsstrukturen s. dort Bd. 1: 182-193.

[8] Basel: Haus zum Falken (Karger) 1937, Reprint Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1970. Eine erste Fassung des Manuskripts war wohl schon 1933 fertig. H. arbeitete aber kontinuierlich weiter daran, s. die Briefe bei Otto (Q), bes. S. 62.

[9] Zu dem er offensichtlich aber einen engeren persönlichen Kontakt hatte, auch in der Exilzeit, wie sich daran zeigt, daß er auch eine Göteborger Schrift aus dem Jahre 1937 zitiert, dort S. 215.

[10] Darauf reagierte Benjamin in seiner bissigen Rezension (WW III: 564-569), der sich aber offensichtlich gar nicht die Mühe gemacht hat, das Buch gründlich in seinen methodischen Implikationen zu lesen. Der umständliche Stil seiner Ausführungen ist offensichtlich bestimmt von dem Bemühen, die Leser bei ihrem Vorverständnis abzuholen. Das führt zu ermüdenden Wiederholungen und unklaren Passagen, die mit seinem wissenschaftstheoretischen Anspruch kontrastieren.

[11] In diesem Zusammenhang verweist er auf die von ihm selbst betreute Dissertation von Modrze, S. 180.

[12] Diese Überlegungen waren grundlegend für E. Koschmieder, »Zeitbezug und Sprache«, Leipzig-Berlin: Meiner 1929 (Reprint Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1974), besonders dort S. 2.

[13] Hgg. von E. Winterhager/H. Zander als Bd. 9-10 der nachgelassenen Schriften, Bonn: Bouvier 1977.

[14] Federführend ist das R. H.-Archiv an der Universität Bonn unter der Leitung H. Wagner.

[15] S. Schmied-Kowarzik (1997, Q), wo allerdings auch der dort anwesende Sohn Henry H. solche Zusammenhänge nicht ins Spiel bringt. Aufschlußreich für die Einordnung in die zeitgenössische sprachtheoretische Diskussion ist E.W.Orth, »Bedeutung, Sinn, Gegenstand. Studien zur Sprachphilosophie Edmund Husserls und R.H.s«, Bonn: Bouvier 1967.

[16] E. Zwirner, Grundfragen der Phonometrie (1936). Neuauflage Basel: Karger 1966 - aber auch in der Neuauflage führt Zwirner nur Schriften von H. bis 1930 an, die er aus der Breslauer Zeit kannte, also gerade nicht die »Philosophie und Sprache«.