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Lasch, Agathe

Geb. 4.7.1879 in Berlin in einer jüdischen Kaufmannsfamilie, gest. 18.8.1942 (bei der Deportation nach Riga).

 

Relativ ärmliche Familienverhältnisse zwangen sie, ihr Studium selbst zu finanzieren. 1898 legte sie eine Lehrerprüfung ab, mit dem Hauptfach als Turnlehrerin, und unterrichtete seitdem bis 1907 an privaten Schulen. Um 1900 unternahm sie einen halbjährigen Studienaufenthalt in Frankreich. 1906 machte sie ein externes Abitur in Berlin und begann ihr Studium der Germanistik (Deutsche Philologie und Skandinavistik) und Romanistik zuerst in Halle, dann in Heidelberg, nachdem der Berliner Germanist Roethe sich geweigert hatte, sie als Frau zu seinen Veranstaltungen zuzulassen. 1909 promovierte sie bei Braune in Heidelberg mit dem ersten Teil des 1910 veröffentlichten Werkes »Geschichte der Schriftsprache in Berlin bis zur Mitte des 16. Jhdts.«,[1] das bis heute das Modell für parallele lokale Fallstudien zum »Über­gang von der niederdeutschen zur hochdeutschen Schriftsprache« ab­gibt. 1910 legte sie in Karlsruhe das Staatsexamen für Gymnasien ab – aber weder das noch die Promotion verhalfen der gelehrten Frau und Jü­din zu einer Anstellung. Die erhielt sie erst 1912 an dem Frauen­college Bryn Mawr (Philadelphia) als Dozentin für Deutsch.[2]

Die Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg veranlaßten sie 1916 noch vor dem Kriegseintritt der USA zur Remigration nach Deutschland, wo sie C. Borchling an das Deutsche Seminar des Koloninalinstituts holte, um dort das von ihm geplante Hamburgische Wörterbuch aufzubauen, das mit den dialektalen Formen einen volkskundlichen Sammelauftrag hatte. Sie blieb weiterhin Angestellte (wiss. »Hilfsarbeiterin«), auch nachdem sie 1919 an der inzwischen neu gegründeten Universität habilitiert hatte.[3] Aufgrund ihrer bereits 1915 erschienenen Grammatik (s.u.) wurden ihr keine schriftlichen Habilitationsleistungen abverlangt. 1923 wurde ihr zwar der Titel eines Professors verliehen, aber erst 1926 erhielt sie eine besoldete Stelle als a.o. Professor und wurde dann auch auf Antrag Borchlings Mitdirektorin des Germanischen Seminars.

Sie mußte dort das Fach »Deutsche Philologie« in seiner ganzen Breite vertreten. Eine auf die sprachwissenschaftliche Venia eingeschränkte Habilitation hatte die Fakultät abgelehnt – ihre literaturwissenschaftliche Qualifikation bewies L. mit ihrer »Probevorlesung« über »Neue Niederdeutsche Literatur« im 16. und 17. Jhd., wie sie in den folgenden Jahren auch regelmäßig vor allem über mittelniederdeutsche Literatur (bzw. Ausgaben) las. In der Sache waren es aber die sprachgeschichtlichen Aufschlüsse in den literarischen Texten, die sie beschäftigten und die ihr auch sprachsoziologische Rückschlüsse erlaubten, wenn sie dokumentierte dialektale Formen von dialektalen Stereotypen in den literarischen Texten unterschied, so ihre detaillierten Ausarbeitungen »Die Mundart in den nordniedersächsischen Zwischenspielen des 17. Jahrhunderts«.[4] Ihre Lehrveranstaltungen spannten vom Altgermanischen, Gotischen, bis zum frühen Neuhochdeutschen, z.B. zur Sprache Luthers. Ihr Arbeitsbereich war vor allem aber die Betreuung der beiden großen Wörterbücher, die am Hamburger Seminar angesiedelt waren: neben dem »Hamburgischen Wörterbuch«, zu dem sie selbst (mit Hilfskräften) Material erhob, bearbeitete sie seit 1927 das »Mittelniederdeutsche Wörterbuch«, dessen erste sieben Lieferungen (a-extrakt) sie von 1928-1934 selbst redigierte.[5] Für Borchling war L. auch in der Kommission des Reichsinnenministeriums für die »Neugestaltung« der deutschen Rechtschreibung, an deren strikt phonographisch ausgerichtetem Reformvorschlag sie mitarbeitete.[6]

1933 war sie als Jüdin von der Entlassung bedroht, wogegen sich eine Resolution ihrer Schüler und Mitarbeiter wandte – vor allem aber auch eine Intervention von vier skandinavischen Kollegen.[7] Im Juni 1934 wurde sie vorzeitig wegen »nichtarischer Herkunft« zwangspensioniert. Auch die Arbeit am Wörterbuch wurde ihr verweigert. Es folgte ein Publikationsverbot, sodaß sie nach 1935 nur noch kleinere Aufsätze in skandinavischen Zeitschriften veröffentlichen konnte. Zu den makaberen Seiten ihrer Entlassung gehört es, daß zu ihrem Nachfolger der stramme Nationalsozialist Hans Teske ernannt wurde, dessen Dissertation über den sprachlichen Übergang vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen in Lüneburg (also eine Replik auf ihre Arbeit zu Berlin!) sie in einer Rezension als methodisch unzulänglich kritisiert hatte.[8] Mit Teske mußte sie sich über die Organisation und die methodische Vorgehensweise im Hamburgischen Wörterbuch auch noch nach ihrer Entlassung auseinandersetzen.[9]

Früh gab es Versuche, für sie eine Stelle im Aus­land, vor allem in den skandinavischen Län­dern zu finden, die eine Emigration möglich gemacht hätten; Ange­bote dazu lagen auch vor. Woran es lag, daß es nicht zur Emigration kam, ist unklar – vielleicht scheiterte es an der verweigerten Immigrati­onserlaubnis für ihre Schwestern, mit denen sie zusammen bleiben wollte. Die Wider­sprüche ihrer dama­ligen Situation werden gerade auch bei positiv gemeinten Stellung­nahmen deutlich: in der erwähnten Resolution ihrer Schü­ler und Mitarbeiter am Institut, von G. Cordes und W. Niekerken verfaßt, die sich ge­gen die drohende Entlassung richtete, aus der 1934 immerhin »nur« die vorzeitige Pensionierung wurde, hieß es, daß niemand an ihr »jemals auch nur den geringsten Grad zersetzen­den Geistes verspürt habe, sondern nur wohltuende, unser deutsches Volkstum berei­chernde Arbeit«.[10] Es ist schwer, hier taktisch gemeinte Formu­lierungen von tatsächlicher Kollusion zu unterscheiden, so auch bei Borchling, der noch 1946 an der gleichen Stelle zufügte, daß bei A. L. »rassi­sche Zugehörigkeit manch einer gar nicht empfunden hatte« (bei Borchling heißt sie auch noch 1946 Luise Sarah Agathe L., S. 9).

In den Ambivalenzen solcher Äußerungen spiegeln sich die Verhältnisse, unter denen L. gelitten hat. Auch wenn Borchling die »gelehrte Person« mit »klugen, braunen Augen« (so Borchling über sie nach Cordes) schätzte und noch 1939 Bemühungen unterstützte, für sie eine Anstellung im Ausland zu finden, so litt sie doch nicht zuletzt gerade auch unter den persönlichen Enttäuschungen[11] – Borchling nannte das »die Schattenseiten ihres Charakters«. Ihre Situation am Hamburger Institut charakterisierte sie selbst durch eine Äuße­rung über ihre studentische Mitarbeiterin: »Im übrigen war sie viele Monate hindurch der einzige Mensch, der die Tätig­keit im Seminar überhaupt für mich möglich machte. Es wäre ihr leicht ge­nug gewesen, in den Ton der anderen einzustimmen, sie hat es da­mals nicht getan. Dafür bleibe ich ihr immer dankbar«.[12]

1937 zog sie nach Berlin zu einer Schwester: hier konnte sie zunächst noch wissenschaftlich arbeiten und auch pri­vate Seminare abhalten; dazu gehörte auch die fortgesetzte Betreuung der Dissertation von A.Hübner, die formal Teske übenommen hatte (beim formalen Abschluß des Verfahrens 1938 war sie nicht beteiligt).[13] Sie arbeitete an einem großen Projekt zur Rekonstruktion der Herausbildung des »Altsächsischen« (Altniederdeutschen) als eigener, vor allem auch schriftkulturell ausgebauter Sprache – in Abgrenzung von den zunächst dominierenden angelsächsischen Einflüssen auf der einen Seite, dem (Alt-)Hochdeutschen auf der anderen. 1938 wurde ihr der Zugang zu den Bibliotheken verboten, schließlich ihre eigene Bibliothek von der SS konfisziert. Eine finnische Studentin, Martta Jaatinen, war mit ihr nach Berlin gegangen und lieh für sie aus den Bibliotheken Bücher aus, die sie dort selbst nicht benutzen konnte. Nur einige ihrer zuletzt noch fertig gestellten Arbeiten sind erhalten, wie insbesondere die Studie zum »altsächsischen Taufgelöbnis« (s.u.); andere wie z.B. eine Untersuchung über »Lübecker Stadtschreiber im Mittelalter«, sind verschollen. 1939 bemühte sie sich schließlich doch noch, eine Stelle in Oslo oder in Dorpat/Tartu zu erhalten, wo die Universitäten sich auch für sie einsetzten, aber das Auswärtige Amt bzw. die Botschaften verhinderten ihre Auswanderung.[14] Immerhin gab auch Borchling im Rahmen dieses Verfahrens eine positive Stellungnahme ab, in der er betont, daß L. seinerzeit aus freien Stücken aus den USA zurückgekehrt sei, »weil sie die damals ausbrechende antideutsche Hetze nicht ertragen konnte«.[15] G. Cordes berichtete später, daß er sich noch persön­lich nach ihrem Abtransport um die Bibliothek gekümmert habe und noch Bücherkisten habe retten können, während Handschriftliches vernichtet worden sei.[16] Daß L. in den letzten Jahren illusionslos das Ende er­wartete, wird aus Mitteilungen der wenigen deutlich, die mit ihr noch persönlichen Kontakt hatten, s. etwa E. Nörrenberg (Q). Am 15.8.1942 wurde L. in Berlin nach Riga abtransportiert (gemeinsam mit zwei Schwestern; eine dritte war schon früher, am 19.1.1942, nach dort deportiert worden und dort umgekommen). Auf dem Transport dahin ist sie verstorben: bei der Ankunft des Zuges am 18.8.1942 war sie tot (dieses Datum wird meist als Todesdatum genannt).[17]

In der germanischen Sprachwissenschaft war L. mit der frühen Publikation ihrer »Mittelniederdeutschen Grammatik«,[18] die sie in Bryn Mawr redigiert hatte (das Vorwort datiert dort: 26.12.1913), sofort zu einer Autorität geworden, wie es im Vorwort von H. Eggers zur Neuauflage 1974 heißt: »Die Mittelniederdeutsche Grammatik von A. L. hat, als sie im Jahre 1915 erschien, eine neue Phase der niederdeutschen Philologie eingeleitet [...] [A.L.] stellte die grammatische Erforschung des Mittelniederdeutschen mit diesem Werk durch die zuverlässige Auswertung des umfangreichen Quellenmaterials auf sicheren Boden. Ihre Mittelniederdeutsche Grammatik wurde dadurch zum Ausgangspunkt für eine sehr ergiebige weitere Forschung«. Diese Darstellung ist bis heute unersetzt. Ihre damalige Wirkung läßt sich direkt an den Konsequenzen der Publikation auf ein paralleles Unternehmen ablesen, das der schwedische Germanist Colliander begonnen hatte und noch im Druck abbrach.[19]

Die Bedeutung von L.s Grammatik lag in der genauen Darstellung, die, anders als Vorgängerversuche, nicht auf die »junggrammatische« Extrapolation einer sprachgeschichtlichen Idealform abgestellt war, sondern die regional differenzierte Überlieferung mit der Rekonstruktion schreibsprachlicher Sonderformen herausarbeitete. Diese Fragestellung verfolgte sie weiter, was sich in ihrem Studienbuch niederschlug: »Aus alten niederdeutschen Stadtbüchern«[20] mit einer sorgfältigen Textedition und ausführlichem Kommentar, vor allem auch zu den späteren editorischen Eingriffen bei Textab­schriften. Sie demonstriert eine deskriptive Grundhaltung, die den überlieferten sprachlichen Befund zum Gegenstand hat und diesen nicht gewissermaßen für vorgeschichtliche Vorstufen röntgt und als Folie für die literarische Hochkultur nimmt. Wie auch bei ihrer Textausgabe ist ihr Gegenstand derselbe, den auch Historiker in ihren Archiven bearbeiten.

L. betrieb die niederdeutsche Philologie auf ihrer ganzen (sprachwissenschaftlichen) Bandbreite: von grammatischen Einzel­studien zum Altsächsischen bis hin zur gegenwärtigen Mundart, insbesondere durch ihre Arbeit am »Hamburgischen Wörterbuch«.[21] In ihrer letzten, (in Skandinavien!) veröffentlichten Arbeit spiegelt ihr großes, oben schon erwähntes sprachhistorisches Projekt: in der Auseinandersetzung mit einem in der Forschung strittigen altniederdeutschen Text, einem als »altsächsisch« registrierten Taufgelöbnis aus dem späten 8. Jhd.[22] In einer minutiösen Detailanalyse erweist sie den Text als Produkt eines angelsächsischen Geistlichen, der zwar dialektale Elemente seines westfälischen Wirkungsbereichs übernommen hat, ansonsten aber bei seiner angelsächsischen Sprache geblieben ist, von der er offensichtlich annehmen konnte, daß sie von seinen Adressaten verstanden wurde. Insofern zeigt L. hier die entscheidende Zäsur gegenüber den späteren Texten (wie insbesondere dem Heliand) auf, die sich um einen Ausbau des Niederdeutschen bemühen: das Taufgelöbnis ist für L. demgegenüber nicht niederdeutsch. Die Forschung ist ihr darin bis heute gefolgt – mit der Anerkennung des methodischen Modellcharakters dieser Untersuchung.[23]

Der Schwerpunkt ihrer Arbeit, der sie bis heute in der niederdeutschen Philologie ungemein modern erscheinen läßt, war ihr sprachsoziologischer Zugriff auf den gesellschaftli­chen Prozeß der Sprachpraxis, der in die überlieferten Dokumente eingeschrieben ist. Fern aller provinzieller Romantisierung des Niederdeutschen verfolgte sie die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Norddeutschland im Spannungsfeld der nationalen Umstrukturierungen Deutschlands seit dem 15. Jhd. – wo für die nostalgische niederdeutsche Philologie i.d.R. bis heute die »große Zeit«, und damit auch der Forschungsgegenstand aufhört. Ihre akri­bischen Fallstudien: »Beiträge zur Geschichte des Neuniederdeut­schen in Hamburg«[24] oder »Die Mundart in den nordniedersächsischen Zwischenspielen des 17. Jahrhunderts« (s. Anm. 4) verfolgen nicht die »Ausklänge« des Mittelniederdeut­schen, sondern analysie­ren die Dynamik der frühneudeutschen Verhältnisse. Eine schöne Zusammenfassung ihrer Position gab sie in »Vom Werden und Wesen des Mittelniederdeutschen«.[25]

Mit ihren Arbeiten ist L. eine profilierte Vertreterin einer kulturanalytisch ausgerichteten Sprachforschung, die sich des rigiden methodischen Instrumentariums der „Junggrammatik" bedient, sich in ihrem Gegenstandsverständnis aber nicht auf das damit Faßbare beschränken läßt. Ihre Position wird in dieser Hinsicht besonders in der scharfen Kritik an Chr. Sarauws niederdeutschen Forschngen deutlich, der strikt deskriptiv arbeitete und sich dabei ausdrücklich von einer von ihm als „heimatkundlich" apostrophierten Heangehensweise abgrenzte: dessen große Darstellung hält sie für verfehlt, weil es dort nicht um die Sprache „als ausdruck mittelalterlichen geisteslebens" geht.[26] In dieser Hinsicht lagen ihre Präferenzen dann doch schon eher bei jemand wie Teske, bei dem sie ansonsten die methodischen Schwächen deutlich herausstellte (s.  Fn. 8).

Über das enge Fach hinaus ist L. bis heute durch ein Buch bekannt, das sie als einen populärwissenschaft­lich gehaltenen Tribut an ihre Heimatstadt Ber­lin verstand: »Ber­linisch. Eine Berliner Sprachgeschichte«.[27] Über eine kursorische Darstellung ihrer Dissertation hinaus werden hier die modernen Verhältnisse einer Großstadt als Ausein­andersetzung mit bzw. Aneignung nationaler kultureller Formen (der Schriftsprache) ange­gangen und dabei die hi­storisch-dialektalen Vor­aussetzungen aufgezeigt. Durch die Art, wie L. hier soziologische Differenzie­rungen vornimmt, auch subjek­tive Reaktionen bis hin zu sprachli­chen Stereotypen (Berliner »Schnauze«) registriert, ist ihr Buch heute zum Standardliteratur­hinweis in der soziolinguistisch orien­tierten Stadtsprachenfor­schung geworden.[28] Auch hier ist ihre deskriptive Herangehensweise deutlich, die frei von Wertungen (»Sprachmischung« u. dgl.) die stabilisierten sprachlichen Formen als Ausdruck der städtischen Sprachverhältnisse beschreibt.

Ihre methodische Strenge stellte sie gegen den Elan der Neuerer – mit Frontstellungen, die makaber genug die spätere politi­sche Konstellation präfigurieren. Das gilt so insbesondere für ihre Kontroverse mit Frings zur »niederdeutschen Zerdehnung«. L. hatte in ihren Untersuchungen zur Schreibvariation mittel­niederdeutscher Texte Anhaltspunkte gefunden, in den charakteri­stischen westfälischen öffnenden Diphthongen für alte Kurzvokale in offener Silbe (V[kurz]σ[ → VV → V[lang], also z.B. ĕ → iə u. dgl.) ein gemein-niederdeutsches Durchgangsstadium zum späteren Quantitätenausgleich anzusetzen.[29] Frings hatte diese Annahme einer scharfen und herablassenden Kri­tik vom »modernen« Standpunkt der Kulturraumfor­schung/Sprachgeographie unterzogen.[30] Die junge, noch nicht habilitierte Dozentin in Bryn Mawr antwortete selbstbewußt und unterzog ihrerseits Frings' Argumentation einer auch für dessen späteres Werk gültigen Kritik einer anachronistischen Rückprojektion aus modernen Mundartbefunden statt historisch kontrollierter Rekonstruktion der Sprachentwicklung.[31]

Die Rekonstruktion der Lautentwicklung des Niederdeutschen in Interaktion mit morphologischen Prozessen blieb ihr Hauptarbeitsgebiet, s. die umfangreichen Beiträge zur Geschichte des »Neuniederdeutschen in Hamburg«.[32] Vor diesem Hintergrund verfaßte sie nicht zuletzt auch eine ganze Reihe von methodisch strengen Rezensionen, z.B. zu A. C. Höjberg Christensen, »Untersuchungen zur Kanzleisprache Lübecks«.[33] Auf dieser Basis unternahm sie eine Reihe von sprachsoziologisch klärenden Analysen, so ihre begriffsgeschichtliche Rekonstruktion von »Plattdeutsch«,[34] die den Terminus als verständliche Sprache erklärt, gegen die volksetymologische Anbindung an die Sprache des »platten Landes«. Einen gewissen Abschluß fanden diese Untersuchungen in ihrer Gesamtdarstellung »Vom Werden und Wesen des Mittelniederdeutschen« (s. Anm. 25). Syntaktische Fragen haben in ihren Arbeiten einen eher marginalen Status, vgl. aber immerhin »Der conjunctiv als futurum im mhd. und im altsächsischen«,[35] bemerkenswert durch den systematischen Vergleich der niederdeutschen und der hochdeutschen Entwicklung.

In jüngster Zeit hat es eine ganze Reihe von Anstrengungen gegeben, das Andenken von A. L. zu bewahren.[36] Das betrifft insbesondere den Niederdeutschen Sprachverein, der 1979 die »Kleinen Schriften« L.s wieder herausgeben ließ und der seit 1992 für die Stadt Hamburg einen Agathe-Lasch-Preis für Nachwuchsforscher verleiht, sowie eine Reihe von Initiativen der Universität Hamburg, die im Jahre 1999 dazu geführt haben, daß ihr dort ein »Agathe Lasch Hörsaal« gewidmet wurde.[37] Ähnliche Bemühungen hat es in Berlin an der Freien Universität gegeben (initiiert von Norbert Dittmar), mit einem gewissen Medienecho.

 

Q: LdS: unplaced. Nachrufe: C. Borchling, in: Ndt. Mitt. 2/1946: 7-21; M. Jaatinen, in: Neuph. Mitt. 28/1947: 130-141; Gustav Kor­lén, in: Études Germaniques 5/1947: 92-94; E. Nörrenberg, in: Ndt. Jb. 82/1959: 6-7; J. Meier, in: Ndt. Jb. 103/1980: 7-13; W. Niekerken (Hg.), »Nachrufe auf A. L. Schriften von A. L.«, in: Ndt. Jb. 82/1959: 8-10; Claudine de l'Aigle, »Agathe Lasch. Aus ihrem Leben«, in: Ndt. Jb. 82/1959: 1-5. S. zu ihrer Vita noch Ro­bert Peters/Timothy Sodmann, »A. L. Leben und Werk«, in: ds. (Hgg.), »Agathe Lasch. Ausgewählte Schriften zur niederdeutschen Philologie«, Neumünster: Wachholtz 1979: IX-XXI; ein Nachruf im Bryn Mawr Alumnae Bulletin, Juli 1947, war mir nicht zugänglich. Außerdem Bachofer/Beck (1991); W. Krumm, »A. L. im Spiegel der Forschung«, in: Ndt. Korrespondenzblatt 105/1998: 58-62; sowie die biographischen Artikel in R. Bake/B. Reimers »Stadt der toten Frauen«, Hamburg, Landeszentrale für politische Bildung 1997: 313-316 (I. Böhle) und F. Kopitzsch (Hg.), »Hamburgische Biographie«, Hamburg: Christians 2001: 179-180 (W. Bachofer); IGL (U. Hass); Arch. B/J 15/2007; Z. Verein f. Hamburgische Landesgeschichte 93/2007: 118-121; N. Dittmar, in: N. Dittmar/P. Schlobinski (Hgg.), »Wandlungen einer Stadtsprache: Berlinisch in Vergangenheit und Gegenwart«, Berlin: Colloquium Verlag 1988: xii-xx, U. Hass-Zumkehr, in: W. Barner/Chr. König (Hgg.), »Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933«, Göttingen: Wallstein 2001: 203-211; C. M. Kaiser, »A. L.«, Teetz und Berlin: Hentrich und Hentrich 2007; M.Nottscheid u.a. (Hgg.). Die Germanistin A.L. (1879 - 1942). Aufsätze zu Leben, Werk und Wirkung. Nordhausen: Bautz 2009. Archivmaterialien der Univ. Hamburg, die mir W. Bachofer zugänglich machte. Hinweise von G. Cordes (Göttingen, †) u. A. Hübner (Hamburg, †).

 



[1] Dortmund: Ruhfus 1910.

[2] Die Leiterin des Colleges war damals in Deutschland, um eine geeignete Dozentin zu finden. L stellte sich ihr in Hamburg vor. Sie hatte zunächst eine Stelle als Teacher (mit einem Lehrdeputat von 20 Wochenstunden), später als Associate Professor of Teutonic Philology and German, s. dazu Kaiser (Q).

[3] Mit weiteren fünf Frauen, die in diesem Jahr von der neu geschaffenen Möglichkeit der Habilitation von Frauen im Deutschen Reich Gebrauch machten – in Preußen war das erst 1920 möglich.

[4] In der Festschrift Wilhelm Braune, Dortmund: Ruhfus 1920: 299-351. Diese Festschrift für ihren Heidelberger Lehrer Braune hatte sie selbst mitherausgegeben. Die Herausgeber werden im Band allerdings nicht genannt.

[5] Das Wörterbuch ist bis heute nicht abgeschlossen. Der spätere Bearbeiter G. Cordes vermerkt in seinem Vorwort zum 1956 erschienenen 1. Band A-F/V nur lakonisch an, dass die früheren Bearbeiter Agathe Lasch und Conrad Borchling »1942 bzw. 1946 verstorben« seien (Neumünster: Wachholz 1956, Bd. 1, ohne Seitenangabe).

[6] S. Kaiser (Q). Zu diesem Reformvorhaben, s. Strunk (Hg.), »Dokumentation zur Geschichte der deutschen Orthographie in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, Bd. 1, Hildesheim usw.: Olms 2006, die allerdings L. dort nicht erwähnt. Zu Borchlings offizieller Rolle dabei, s. dort S. 276. Aufgrund heftiger Proteste wurde dieser Vorschlag offiziell nicht mehr vorgelegt.

[7] Hinweise darauf bei Claudine de l'Aigle (s. Q), S. 3.

[8] S. ihre Rezension in der Dt. Literaturzeitung Jg. 1928, H. 17: Sp. 819-822, wo sie feststellt, daß die formalen Analysen »dem Verfasser offenbar wenig liegen« (821-822).

[9] S. die Akten der Hamburger Universität. Publiziert wurde das Hamburgische Wörterbuch erst 1956-2006 in 5 Bänden.

[10] Zitiert bei C. Borchling, »Agathe Lasch zum Ge­dächtnis«, in: Ndt. Mitt. 2/1946: 7-20, hier S. 20.

[11] Ihre Situation am Germanischen Seminar kann nur als makaber bezeichnet werden: außer ihr waren alle direkten Kollegen dort nicht nur Mitglieder der NSDAP, sondern ausgesprochene Aktivisten: außer C. Borchling (1872-1946) noch H. Teske (1902-1945), G. Cordes (1908-1985), W. Niekerken (1900-1975). Teske übernahm 1934 ihre Stelle, war aber (wie Cordes) im Weltkrieg in einer Propagandakompanie in Flandern tätig; 1943 wurde Niekerken auf die Stelle berufen, die er auch nach dem Weltkrieg noch wahrnahm (s. dazu Maas [»Niederdeutsch«] 1994). L. hatte diese Personen z.T. auch persönlich gefördert: Cordes hatte sie sogar finanziell während seines Studiums unterstützt; Teske hatte sie fachlich bei der Dissertation mitbetreut.

[12] Zi­tiert bei Jürgen Meier, »Agathe Lasch – Worte des Gedenkens zu ih­rem 100. Ge­burtstag«, in: Ndt. Jb. 103 /1980: 7-13, hier S. 11.

[13] S. den Nachruf von Jaatinen (Q), S. 133f. Zum Promotionsverfahren von A.Hübner, s. M.Nottscheid in ds. u.a. (2009, Q) sowie persönliche Hinweise von A.H.

[14] Siehe Kaiser (Q). Zum Berufungsverfahren in Dorpat sind jetzt auch die Gutachten zugänglich, die nachdrücklich ihre wissenschaftliche Qualifikation hervorheben und detailliert darstellen, s. S. Jordan, »A. L. und der Lehrstuhl für Germanistik an der Universität Dorpat«, in: R. Damme/N. Nagel (Hgg.), »FS für Robert Peters«, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2004: 415-428; ausführlich zu den Interventionen in das Verfahren von Seiten der dt. Botschaft in Reval jetzt Kaiser in Nottscheid u.a. (2009,Q).

[15] Archiv Universität Hamburg.

[16] Tatsächlich bemühte er sich wohl darum, die Bibliothek für das Berliner Seminar zu sichern, bei dem er für eine Professur vorgesehen war. Zum Verbleib der Bibliothek s. auch A. Heuß, »Die Bibliothek der Professorin A. L.«, in: »Displaced Books«, Hannover: Laurentius, 2. Aufl. 1999: 109-111. Aufgetauchte verstreute Teile dieser Bibliothek tragen makabere Spuren der Isolation in der rassistischen Verfolgung und gleichzeitig opportunistische, respektvolle Anerkennung von Seiten der Parteigänger des Regimes, s. V. Dahlberg/R. Rentenaar, »Spuren der Bibliothek von A. L. in Däne­mark«, in: Ndt. Jb. 113/1990: 157-162 (bes. zu einem Widmungsexem­plar von R. H. Carsten).

[17] Riga war offiziell ein Ghetto; die Deportierten wurden dort aber systematisch umgebracht, s. dazu Gilbert 1982, bes. S. 104.

[18] Halle/S. 1917, 2. unveränd. Auf­l. Tübingen: Niemeyer 1974.

[19] Colliander hatte seine Grammatik strikt parallel zu der von A. L. aufgebaut – im Gegensatz zu dieser aber auch einen Syntaxteil vorgesehen. Von der »Mittelniederdeutschen Grammatik« von Colliander kenne ich die Druckfahnen (Umbruch), die aus dem Nachlaß von F. Holthausen in die Bibliothek der Volkskundlichen Kommission, Abt. Mundart- und Namenforschung, Münster, gekommen sind: auf dem Titelblatt steht »Heidel­berg: Winter 1912«; die Fahnen brechen mit S. 192, zu Beginn des dritten Hauptteils »Syntaktisches« ab. Sollte Colliander tatsächlich auch eine größere syntaktische Darstellung vorgesehen haben, dann wäre es eine Konsequenz der Publikation von A. L.s Grammatik gewesen, daß bis heute eine zusammenhängende syntaktische Untersuchung zum Mittelniederdeutschen aussteht, sieht man von dem wenig brauchbaren Versuch von C. A. Nissen ab, »Forsøg til en middelnedertyske syntax«, Kopenhagen: W. Prior 1884.

[20] Dortmund: Ruhfus 1927.

[21] Für eine Bibliographie s. Pe­ters/Sodmann, op. cit. (Q).

[22] Das altsächsische Taufgelöbnis, in: Neuphilologische Mitteilungen 36/1935: 92-133.

[23] S. z.B. U. Schwab, »Einige Beziehungen zwischen altsächsischer und angelsächsischer Dichtung«, Spoleto: Centro italiano di studi sull'alto medioevo 1988. Befremdlich ist dagegen der Kommentar des Altgermanisten Georg Baesecke (1876-1951), der bei aller Anerkennung (»die Untersuchung [...] [hat] kaum ihresgleichen«) die Art, wie L. hier ihre Isolation in eine akribische Arbeitsform umgesetzt hat, mit »überzüchteter Feinheit« der Analyse quittiert – L.s Schicksal konnte ihm nicht unbekannt sein (G. B., »Die althochdeutschen und altsächsischen Taufgelöbnisse«, in: Nachr. Göttinger AdW, Phil-hist. Kl. 3/1944: 63-85).

[24] Ndt. Jb. 44/1918: 1-50. Diese Fragestellung gab sie an ihre Schülerin Hübner weiter, deren Dissertation „Studien zur Sprachgestalt des frühen Hamburger Hochdeutsch" (1938) unveröffentlicht geblieben ist, weil der Satz bei einem Bombenangriff im Verlag vernichtet wurde, s. o. Fn. 13.

[25] Ndt. Jb. 51/1925: 55-76.

[26] Rez. zu Chr. Sarauw, Niederdeutsche Forschungen II. Die Flexionen der mittelniederdeutschen Sprache (Kopenhagen: B. Luno 1924), in: Anzeiger f. dt. Altertum 45/ 1926: 1 - 8; Zitat S. 1. Sarauw (1865 - 1925) war ein ausgesprochen moderner Sprachwissenschaftler, der auf der Grundlage eigener Dialektforschungen in Wales und Irland 1900 in Kopenhagen zum Keltischen promoviert hatte, wo er 1908 zum Dozenten für deutsche Sprache und Literatur ernannt wurde; 1916 zum Professor. Er arbeitete umfassend auch zu romanischen, slavischen und nicht zuletzt semitischen Sprachen (eine große Studie zur semitischen Akzentuierung erschien noch postum 1939); aber auch zur Literatur (mit einem Schwerpunkt bei Goethe). Bei seinem zweibändigen Handbuch zum Mittelniederdeutschen (Bd. I zur Lautlehre erschien 1921) wandte er sich ausdrücklich gegen die seiner Meinung nach „heimatkundlich" ausgerichtete gängige Forschung (wozu er offensichtlich auch L. rechnete, deren Arbeiten er zu ihrer Empörung auch nicht anführt). L.s Verdikt hat dazu geführt, daß umgekehrt Sarauw in der „autochthonen" niederdt. Sprachforschung weitgehend ausgeblendet wird.

[27] Ber­lin: R. Hobbing 1927.

[28] S. etwa die einschlägigen Beiträge in dem »Handbuch zur Sprach- und Kommunikationswis­senschaft«, Bd. 2.1 Sprachgeschichte, hgg. von W. Besch/O. Reich­mann/St. Sonderegger, Berlin: de Gruyter 1984. Unmittelbar daran schließt der (von den Herausgebern A. L. gewidmete) Sammelband von N. Dittmar/P. Schlobinski (Hgg.), »Wandlungen einer Stadtsprache: Berlinisch in Vergangenheit und Gegenwart«, Berlin: Colloquium Verlag 1988 an.

[29] »Tonlange Vokale im Mittelniederdeutschen«, in: Beitr. z. Gesch. dt. Spr. u. Lit. 39/1914: 116-134.

[30] »Tonlange Vokale«, in: Beitr. z. Gesch. dt. Spr. u. Lit. 40/1915: 112-126. Frings argumentierte von den modernen Dialektbefunden her für eine integrierte prosodische Analyse der Umbauerscheinungen in den germanischen Sprachen, gegen die Isolation regionaler Sonderentwicklungen.

[31] Beitr. z. Gesch. dt. Spr. u. Lit. 40/1915: 304-330.

[32] Ndt. Jb. 44/1918: 1-50.

[33] Anz. Dt. Altertum u. Dt. Lit. 40/1920: 34-42.

[34] PBB 42/1917: 134-156.

[35] Beitr. z. Gesch. dt. Spr. u. Lit. 47/1923:325-335.

[36] Zu der schwierigen Ehrung mit einem Straßennamen in Hamburg s. Böhle (Q).

[37] Parallel zu einem weiteren »Ernst Cassirer Hörsaal«.