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Karl Mannheim (früher Károly Manheim)

geb. 27.3.1893 in Budapest, gest. 9.1.1947 in London

          M. wuchs zweisprachig in einer jüdischen Familie in Budapest auf (die Mutter war Deutsche).[1] Dort absolvierte er seine Ausbildung von der Schule bis zur Promotion 1918. Selbst literarisch aktiv, gehörte er zu den intellektuellen Zirkeln in Budapest, in denen György Lukács eine dominierende Rolle spielte. Im Rahmen der revolutionären Neuordnung in Ungarn erhielt er durch Lukács eine Dozentenstelle für Kulturphilosophie am Pädagogischen Seminar der U Budapest, ohne dessen politisches Engagement zu teilen. Mit dem Ende der ungarischen Räterepublik wurde er entlassen und emigrierte (wie auch Lukács) nach Deutschland.
 

            Da M. sich schon vorher theoretisch an Max Weber orientiert hatte, ging er nach Heidelberg, wo dessen Bruder Alfred sich um die Weiterführung von dessen Neubegründung der Soziologie bemühte. Bei ihm habilitierte er 1926 in Heidelberg in Soziologie mit einer Arbeit über Konservatismus.[2] Zunächst lehrte er an der Volkshochschule Darmstadt; 1930 erhielt er eine Professur für dieses Fach an der U Frankfurt.[3] 1933 wurde er aus rassistischen Gründen entlassen und emigrierte über die Niederlande nach England, wo er an der Londoner School of Economics, seit 1941 auch an der U London lehrte, seit 1945 mit einer Professur für Soziologie. 1940 hatte er die englische Staatsbürgerschaft angenommen.

            Seine zweifache Auswanderung verarbeitete er sehr unterschiedlich (s. dazu Kettler u.a., Q). Nach seiner ersten nach Deutschland verstand er sich als Mitglied des deutschen politischen und kulturellen Lebens; er konnte sich erfolgreich in der dortigen sozialwissenschaftlichen Szene etablieren, sodaß er auch problemlos diesem Katalog subsumierbar ist. Zu der angestrebten Naturalisierung ist es allerdings nicht mehr gekommen. Die zweite Auswanderung gestaltete sich für ihn schwieriger: in der akademischen Soziologie in England konnte er nicht richtig Fuß fassen, wohl aber in der „gebildeten“ Öffentlichkeit, in der er durch Vorträge (und anschließende Publikationen) sehr präsent war. Das brachte ihm auch seine erste erziehungswissenschaftliche Professur am Londoner Institute for Education ein.[4] 

            In Deutschland hatte sich der Horizont seiner Arbeit von einer traditionell erkenntnistheoretisch ausgerichteten Philosophie zu soziologischen Fragestellungen verschoben,[5] indem für ihn der soziale Ort der Reflexion in den Vordergrund rückte, wodurch diese auch als historisch variabel (bzw. dynamisch) zu verstanden werden muß.[6] Programmatisch deklarierte er sein Unternehmen als Kultursoziologie (manchmal sprach er auch von Kulturphilosophie), in der die deskriptiv zu erfassenden Phänomene für ihre konstitutiven Bedingungen analysiert und damit historisch definiert werden. Einen ambitionierten Aufriß seines Programms stellte er mit „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiet des Geistigen“ 1928 auf dem 6. deutschen Soziologentag in Zürich vor (repr. in  Wolff [Q]: 566 – 613). Er differenzierte eine gewissermaßen anthropologisch zu verstehende Ebene der „Auslegung des Daseins“ als spezifisch menschliche Existenzbedingung[7] gegenüber historisch spezifischen Artikulationen der Auslegung; für beides benutzte er den Terminus der Ideologie. [8] Das definierte für ihn das spezifische Arbeitsprogramm der Geisteswissenschaften, deren analytische Konzepte die historische Praxis auslegen, anders als bei einer naturwissenschaftlichen Analyse, die ihren Gegenstand in einer objektivierenden Idealisierung formal modelliert und mit dem Postulieren von Gesetzen zu erklären versucht.

             Er sprach so von der „Seinsverbundenheit“ geisteswissenschaftlicher Analysen, die deren hermeneutische Anlage bedingt. Mit dieser sind sie immer auch selbst nur historische Akte („partikulär“, wie er es auch bezeichnete), die im diskursiv verfaßten Wissenschaftsprozeß in der Konkurrenz mit alternativen Vorschlägen artikuliert werden – im „Kampf um die Beherrschung der öffentlichen Auslegung des Seins“, wie er es pathetisch formulierte (Wolff [Q], S. 574). Daher stehen sie immer auch zur Disposition. Spezifische wissenschaftliche Auslegungen haben anthropologisch betrachtet keinen anderen Status als solche des Alltagshandelns (oder auch religiöse Gedankenformationen) – sie dienen letztlich der Weltorientierung und unterliegen damit dem Kriterium der Brauchbarkeit. In diesem Vortrag (in der ausführlichen gedruckten Fassung) illustrierte M. das in einem historisch intendierten Durchgang durch verschiedene Ausprägungen solcher „Ideologien“, die er dazu auch in der Art ihrer sprachlichen Artikulation identifiziert: mit der Möglichkeit der statischen Symbolisierung in topischen Ausdrucksformen (z.B. Sprichwörtern), mit monopolisierenden Formen der Blockierung bei diglossischen Sprachverhältnissen, schließlich in der Moderne mit der Homogenisierung aller intellektuellen Optionen auf der Basis einer auch homogenisierten sprachlichen Matrix.

            Bereits vorher hatte er mit seinen „Beiträge[n] zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“ (1921-22, in: Wolff [Q], S. 91-154) einen methodologisch verstandenen Abriß geliefert.[9] Dort differenzierte er systematisch verschiedene Ebenen der Analyse sozialer Daten:

  • · die deskriptive Ebene der Beschreibung, die „objektive“ Strukturen isoliert,
  • · die subjektive Ebene des Beobachtbaren als Ausdruck (von „Intentionalem“),
  • · die dokumentarische Ebene, die in Homologien der so beobachtbaren Strukturen die damit artikulierten (bzw. manifestierten) gesellschaftlichen Konstellationen faßt – die für die Akteure nicht transparent sein müssen. Diese Ebene spricht er mit dem Terminus „Weltanschauung“ an.

Zur Veranschaulichung dienten ihm hier vor allem kunstgeschichtliche Argumentationen – immer in Abgrenzung zu einer naturwissenschaftlichen Analyse.[10]

            Mit solchen Debatten-Beiträgen wurde er zu einem wichtigen Vertreter der Bemühungen um eine Neubegründung der sozialwissenschaftlicher Forschung unter  kulturphilosophischen und wissenssoziologischen Prämissen, damit aber auch der Sprachforschung. Er entwickelte seine Argumentation immer in Abgrenzung zu reduktionistischen Ansätzen, darunter für ihn auch marxistischen. Entsprechend breit wurden seine Beiträge damals in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert – vor allem auch kritisch.[11] Da seine Argumentation oft die Problemstellung nur aufreißt und nicht immer eindeutig ist (s. schon die Hinweise oben zum Ideologie-Begriff), war die kritische Diskussion geprägt von Beiträgen, die sich  M.s Position „vereindeutigend“ zurechtlegten, vor allem so bei den zahlreichen Kritiken von einer explizit politisch linken Position aus.

            Für M. ging es vor allem um methodische Fragen der Analyse der Artikuliertheit sozialer Praktiken und ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen– so eben auch bei politisch linken (marxistischen) Postionen. Verbunden war das für ihn mit einer programmatischen Argumentation zur (Neu-) Ausrichtung der Soziologie, die auf einen disziplinär gesicherten Ort für solche Analysen zielte. Da, wo er sich an ein soziologisches Publikum wandte, standen derartige Aspekte u.U. auch im Vordergrund; für sein grundsätzliches Unternehmen waren sie aber sekundär, wie nicht zuletzt auch die öffentliche Diskussion darum zeigt.[12]

            Das wird sogar da deutlich, wo er wie bei dem oben angeführten Vortrag vor Soziologen spricht. Vor einem solchen Publikum präsentierte er sein eigenes wissenssoziologisches Programm als genuine Rekonstruktion einer wissenschaftlichen Soziologie – gegen die verschiedenen Spielarten politisch engagierter Ansätze (wobei er das Konzept der Wert<urteils>freiheit von Max Weber reklamierte). Entsprechend heftig wurde er im Fach auch kritisiert. Aber seine prominente Rolle in der damaligen Diskussion motivierte seine Berufung an die Stiftungsuniversität Frankfurt: parallel zum dort eingerichteten Institut für Sozialforschung. Entgegen den Erwartungen des Frankfurter Kuratoriums kam es aber nicht zu dem, was man heute „Synergie“ nennt, sondern zu einer heftigen Abgrenzung, vor allem von Seiten Horkheimers. M.s Fokus auf strukturellen Analysen und Konfigurationen wurde in der „Kritischen Theorie“ als Quietismus stigmatisiert, der sich einer Stellungnahme zu den gesellschaftlichen Widersprüchen verweigert.[13] In verschiedenen Spielarten zieht sich diese Argumentation durch die Diskussionsbeiträge – in bes. radikaler Form steht dafür bei den in dieser Dokumentation Repräsentierten der Beitrag von K.Wittfogel (1931), der dort auf M. als „Kryptomarxisten“ eindrischt. [14] Diese explizit linke Kritik bestimmte auch nach dem Krieg das Bild von M.

            Bei M.s frühen systematisch angelegten kulturphilosophischen Arbeiten waren sprachanalytische Exkurse gewissermaßen unvermeidlich – ohne daß für ihn die Sprachanalyse dabei ein eigenes Gewicht erhalten hätte. Solche sprachtheoretischen Exkurse in seinen frühen Arbeiten repräsentieren in ihrer differenzierten Anlage eine ältere disziplinär nicht gestutzte Sprachreflexion (also Sprachforschung), die vieles artikuliert, was in der inzwischen professionalisierten Sprachwissenschaft wieder neu entdeckt wird. Das gilt insbesondere für M.s Aufriß über „konjunktives und kommunikatives Denken“, an dem er seit 1922 gearbeitet hat, den er aber später im englischen Exil nicht mehr wiederaufgenommen hat.[15] Hier entwickelte er seine Argumentation der notwendigen Situierung von Denkformen in Hinblick auf die sozialen Bedingungen, die sie ermöglichen – in Frontstellung zu allen Spielarten eines Relativismus, der sie in einer anekdotischen Beliebigkeit faßt, aber auch gegen alle Bemühungen um eine deterministische Reduktion. Er rekonstruiert sie vielmehr als situativ gebundenen Umgang mit den Erfahrungen – im Gegensatz zu ihrer abstrakten Subsumtion unter formale Schematismen, wie sie das naturwissenschaftliche Denken konstituieren.

            Grundfigur seiner Argumentation ist die zunächst notwendig „konjunktive“ Bindung von Denkformen, bedingt durch den sozialen Ort ihrer Genese – konjunktiv ist dabei im wörtlichen (etymologischen) Sinne als „gebunden“ zu verstehen (lat. conjunctum).[16] Diese Bindung hat ein kommunikatives Gegenstück in der Ausrichtung der Bearbeitung der Erfahrungen auf eine soziale Praxis, in der sie weitergeben und weiter bearbeitet werden kann: also dem systematischen Ort der Sprache und ihrer Funktion als Artikulation von Erfahrungen. Diese erfordert eine relative Abstraktion, die aber zugleich mit ihrer sozialen Bindung gegenüber einer begrifflich offenen Bearbeitung eine Schranke setzt.[17]

            In dieser Form waren sprachtheoretische Fragen bei M. durchgängig Thema – allerdings eher als negativer Grenzwert seiner Analysen. So z.B. auch in dieser frühen methodologischen Arbeit (1921-22), bei der er die mit der definitionsgemäß arbiträren Natur der sprachlichen Zeichen verbundene Typisierung von Erfahrungen von den damit artikulierten Sinnstrukturen unterschied (s. dort besonders. S. 113). Dabei wandte er sich gegen eine Reduktion der Sprachreflexion auf propositional artikulierte Sachverhalte und generell auf die Abstraktion der „Wortsprache“; statt dessen richtete er die Analyse (jedenfalls programmatisch) auf Äußerungen aus, die umfassend „physiognomisch“ in ihrem Sinn zu deuten  sind (vgl. S.134-136).[18] Insofern bieten seine Überlegungen durchaus Ansatzpunkte für die Sprachanalyse, insbesondere auch für eine noch ausstehende Theorie des Sprachausbaus.

            Da, wo M. analytisch spezifischer wird, geht er „begriffsgeschichtlichen“ Fragen nach, die er an ihrer sprachlichen Artikulation festmacht, jeweils auch  im Rückgang auf das „strukturierte Denken des Alltagslebens“ (so in dem frühen Manuskript von 1922, s. Fn. 15). In seiner Habilitationsschrift von 1926 (s. Fn. 2) merkte er bei der Abgrenzung von konservativ gegenüber traditionalistisch ausdrücklich an, daß „der zuverlässigste Führer in der Geschichte: die Sprache“ ist (so in der Kurzfassung, Wolff [Q]: 417). Allerdings operierte er bei der konkreten Analyse nur mit Paraphrasierungen, fixiert auf die konzeptuellen Argumentationsfiguren jenseits dessen, was er als ihre sprachlichen „Verpackung“ ansah.

            Insofern hatten sprachbezogene Überlegungen bei seinem Bemühen um einer soziologische Theoriebildung nur einen eher beiläufigen Status; mit ihnen griff er selbstverständlich auf die zeitgenössische sprachtheoretische Reflexion zurück, wobei er ausgesprochen aufschlußreich grundlegende Argumentationsfiguren reartikulierte. Das gilt insbesondere für die soziale Vorgängigkeit der Formen der sprachlichen Artikulation, die als solche per definition einen Status der Unbestimmtheit haben und die erst in der Sprachpraxis eine Bestimmung erfahren. Diese ist nun selbst wieder auf verschiedenen Ebenen gebrochen, wobei die Kategorie des Stils eine Schlüsselrolle hat, mit der das Spannungsfeld von Vorgaben des Sprachsystems und individueller (idiosynkratischer) Praxis aufgebrochen und differenziert wird.[19]

           M. argumentierte gewissermaßen selbstverständlich in diesem Horizont, vor allem mit der Kategorie des Denkstils.[20] Diese hat bei ihm den Status eines Idealtyps, wie er es selbst in Anlehnung an die Arbeiten von Max Weber entwickelte. Als einen solchen idealtypischen Denkstil grenzte er den von ihm selbst reklamierten „historischen“ Denkstil von dem ahistorischen der Naturwissenschaften ab. Für diesen standen bei ihm vor allen die Systematisierungen im Wiener Kreis, mit denen für ihn sprachtheoretische Fundierungsfragen verstellt werden (so in der frühen Arbeit 1922, s.o., auch später durchgängig, s. z.B. bei Wolff [Q]: 286 oder 354). Die Stilanalyse war für ihn ein analytisches Instrument zur sozialen Situierung intellektueller Konfigurationen. Von seinen frühen Untersuchungen, in denen er diesen Fragen nachgegangen ist, wurde vor allem seine Arbeit zum Generationenproblem einflußreich.[21]

            Bei seinen historisch ausgerichteten Überlegungen kamen für ihn sprachliche Fragen vor allem im Sinne der jeweiligen „Begriffsbildung“ in den Blick, die er in Hinblick auf den damit ggf. verbundenen „Bedeutungswandel“ analysierte, ausführlich so z.B. in seiner Habilitationsschrift von 1926 (s. Fn. 2), in der er z.B. ausführlich die „Begriffe“ Eigentum und Freiheit in der Konfrontation von Textpassagen bei Möser gegenüber Hegel analysierte (in der Ausgabe 1984: 113ff.). Aber auch hier hat die sprachliche Form in seiner Analyse keinerlei Eigengewicht. Seine Stilanalyse zielte auf Invarianten hinter anschaulich greifbarer Verschiedenheit. Ihm ging es um Strukturen des Denkens, die zwar nur in ihrer sprachlichen Artikulation zu fassen sind, in dieser aber nur ein „Gehäuse“ haben, an dem nicht abzulesen ist, ob es ggf. auch leer ist (weshalb die Kompilation von „einschlägigen“ Formulierungen, ggf. als Beleg für Vorläufer o.ä., für ihn sinnlos ist). Insofern röntgte er gewissermaßen bei seiner „denksoziologischen“ Analyse die ggf. auch als Belege angeführten argumentativen Figuren für den damit artikulierten historischen Sachverhalt. Ergebnis sind die so identifizierbaren Denkstile.

            Die Denkstile waren dann in seinem ausgesprochen erfolgreichen Werk „Ideologie und Utopie“ seine wissenssoziologische Grundfigur.[22] Hier richtete er die Analyse nicht nur auf die sozialen Bedingungen aus, unter denen die in den Blick genommenen Denkstile möglich wurden, sondern auf die damit artikulierten Handlungsorientierungen. In diesem Sinne versuchte er hier den Begriff der Ideologie zu präzisieren. Insoweit diese sich nicht mit den damit gefaßten Verhältnissen deckt, in dieser Differenz aber die Bemühungen zu einer entsprechenden Veränderung der Verhältnisse artikuliert, sprach er von „Utopie“. In diesem Band macht er sehr deutlich, daß Denkstile „idealtypische“ Konstrukte für eine empirische (soziologische) Analyse sind (in Anlehnung an Max Weber). Sie decken sich gewissermaßen definitionsgemäß nicht mit empirisch Beobachtbarem, vgl. „Jede konkrete, soziologisch stilgeschichtliche Analyse des Denkens zeigt, daß Denkstile sich ununterbrochen mischen und gegenseitig durchdringen“ (S. 133). Entsprechend diagnostizierte er auch beim „Fascismus“ (diese italienische Schreibweise verwendete er durchgängig), daß sich bei ihm verschiedene Denkstile „mischen“ (S. 193).

            Die Rückseite dieser „denksoziologischen“ Analyse war für ihn deren notwendige Historisierung: Denkstile sind immer gebunden an die sozialen Bedingungen, unter denen sie möglich werden (wurden) – sie sind also „konjunktiv“ i.S. seiner o.g. frühen Arbeit, ggf. noch kommunikativ gebrochen, wenn ihre sprachliche Artikulation sozial zirkuliert. Dadurch ist sein Unternehmen dynamisch angelegt: die wissenssoziologische Analyse zielt nicht auf eine „Milieu“-Bindung im Analysierten. Im Sinne ihrer Historisierung steht sie auch selbst zur Disposition. Die analytische Reflexion zielt hier darauf, mit den aufgewiesenen Formen der Denkstil-Bedingtheit auch die Möglichkeit für die Überwindung der darin liegenden Schranken historischer Praxis transparent zu machen.[23] Insofern geht eine Kritik, die in M.s Unternehmen ein beliebiges Spiel mit Relativisierungen sehen will, an der Sache vorbei. Nicht unproblematisch ist allerdings, wie M. selbst mit dieser Lesweise seines Vorhabens umging, wenn er gelegentlich dem drohenden Problem eines vollständigen Relativismus in der Analyse, dem auch sein eigener Ansatz verfallen würde, damit begegnete, daß er die besondere Instanz der „sozial freischwebenden Intelligenz“ reklamierte, die gewissermaßen extraterritorial die nötige Syntheseleistung zum Abgleich konträrer Positionen erbringen kann.[24]

            1933 war für M. in jeder Hinsicht ein Bruch, den er auch theoretisch zu verarbeiten suchte. Das spiegelt sich in seinem letzten noch in England auf  Deutsch geschriebenen Buch: „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“, auf der Grundlage von dort gehaltenen Vorträgen. [25] Der mit der Vertreibung erfahrene zivilisatorische Bruch durch den Faschismus war für ihn auch eine intellektuelle Herausforderung, der er die Bestimmung der gesellschaftlichen Konstanten gegenüberstellte – mit der Leitfrage, welche gesellschaftlichen Strukturen auch in solchen revolutionären Umbrüchen fortgeschrieben werden. Dabei differenzierte er systematisch zwischen gesellschaftlichen Strukturen hinter dem Rücken der Subjekte auf der einen Seite (im Sinne von Max Weber ein funktionaler Faktor der Rationalität in der Entwicklung), und den subjektiven Faktoren bei deren Verarbeitung, zu denen auch regressive Reaktionsbildungen gegenüber dem zunehmenden Eingespanntwerden in „Rationalisierungsmaßnahmen“ (etwa am Arbeitsplatz) gehören, die sich aber auch im Ruf nach einem starken “Führer“ ausdrücken (vgl. dort S. 36) – und eben auch die endemischen Formen des Rassismus (S. 53) . Jetzt entwickelte er seine Argumentation auch in Auseinandersetzung mit angelsächsischen soziologischen Theoriebildungen, aber dominant blieb für ihn weiterhin die deutschen Tradition, vor allem Max Weber. Der Rückgriff auf sprachanalytische Fragen wie in seinen frühen Arbeiten findet sich hier nicht mehr – nur nebenbei kam er hier auf Erscheinungen wie die Propaganda u. dgl. zu sprechen (S. 181). [26]

            Sein wissenssoziologisches Projekt führte er mit der Isolierung von historisch definierten Strukturen weiter (er sprach von den principia media gegenüber anthropologischen und kognitiv-erkenntnistheoretischen Konstanten). Bei seinen späten Arbeiten in England war seine Reflexion auf die Möglichkeit einer Anleitung politischen Handelns ausgerichtet. Das bestimmte den Rahmen für sein weiteres (in dieser Hinsicht durchaus erfolgreiches) Agieren im englischen Exil, vorrangig mit einer pädagogischen Ausrichtung. Zugleich verschob sich bei ihm der argumentative Rahmen hin zu einer allgemeiner politisch ausgerichteten Diskussion, vor allem auch durch seine Aktivität in religiösen Diskussionskreisen wie dem auf die Festigung einer konservativen Ordnung ausgerichteten Oxforder Zirkel „The Moot“, der dafür in der Religion die zentrale Instanz sah.[27]

            Darin lag für ihn eine Reaktion auf den erfahrenen Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung im faschistischen Deutschland, zugleich aber auch eine Abgrenzung zu seinen früheren Arbeiten, in denen er zwar den Faschismus durchgängig angesprochen hatte,[28] aber nur in Hinblick auf den damit verbundenen Denkstil – und diesen vor allem auch im Vergleich mit dem marxistischen Denkstil: beide als Blockierung der offenen reflexiven Potentiale gefaßt, die im Denken angelegt sind (faschistisch als „Reprimitivisierung“ des Denkens, Marxismus als dessen orthodoxe Erstarrung).[29] Mit seiner Vertreibung hatte sich das Koordinatensystem seiner Analyse verschoben: jetzt sah er im Faschismus eine endemische gesellschaftliche Gefahr, die auch nicht auf Deutschland beschränkt war. Ihr war für ihn letztlich nur mit einer religiösen Fundierung gegenzusteuern – so eben auch in England.

            Nur auf den ersten Blick erscheinen seine späten Arbeiten in England als Bruch in seinem Werk, wie es in der einschlägigen Sekundärliteratur auch oft dargestellt wird. M. hatte sein wissenssoziologisches Projekt immer schon politisch verstanden: als aufklärendes Bemühen um die „öffentliche Auslegung des Daseins“ (mit der von im selbst öfters genutzten Heideggerschen Paraphrase). Insofern war es von der Anlage her eben auch ein pädagogisches Unternehmen.

            Nach dem Zweiten Weltkrieg sind M.s Arbeiten in Deutschland in den Hintergrund gerückt. Erst in den 1970er Jahren kam es zu einer Art Neuentdeckung im Windschatten der mikrosoziologischen Neuorientierung, gewissermaßen im Kielwasser der Rezeption der US-amerikanischen Ethnomethodologie, in der auf M. verwiesen wird (vor allem so in den Arbeiten von H. Garfinkel).[30] Mit der Orientierung auf eine „qualitative Sozialforschung“ wurden in diesem Horizont auch M.s frühe methodologischen Schriften mit der dabei eingeführten dokumentierenden analytischen Ebene wieder neu gelesen. Trotzdem kommen immer noch auch ausdrücklich historische angelegte Darstellungen oft ohne Verweis auf M. aus, gerade auch bei dem seit einiger Zeit wieder in Mode gekommenen Konzept der Denkstile.[31]

            Zwar fungieren sprachanalytische Hinweise in seinem Werk eher beiläufig: er hat daraus nicht explizit seinen wissenschaftlichen Gegenstand gemacht. Die Art, wie er die sprachliche Form als unbestimmtes „Gehäuse“ für die allein relevanten damit artikulierten gedanklichen Formationen behandelt, positioniert seine Arbeiten jenseits der Sprachwissenschaft. Allerdings sind seine Arbeiten für die Sprachforschung im weiteren Sinne aufschlußreich, wie es vor allem für seine frühen von ihm selbst kulturphilosophisch verstandenen Arbeiten gilt. Sein Projekt der wissenssoziologischen Aufklärung markiert mit dem unvermeidbaren Rückgriff auf die sprachliche Artikulation eine Wegmarke auf dem Weg zu einer ausstehenden Theorie des Sprachausbaus.

Q: Amalia Barboza, Karl Mannheim. Konstanz: UVK 2009. David Kettler u.a., Schattenseiten einer erfolgreichen Emigration: K.M. im englischen Exil, in: Exilforschung 5/ 1987: 170-195; K.H. Wolff (Hg.), K.M. Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Neuwied: Luchterhand 1964 – dort auch ein umfangreiches Schriftenverzeichnis, einschließlich der Sekundärliteratur. In vielen soziologischen Überblickdarstellungen findet sich auch ein biographischer Abriß zu M. Eine 11bändige Werkausgabe ist 1997 erschienen: K.M., Collected works. London: Routledge 1997.

 

[1] Die Herausgeber seiner frühen Schriften, s.u., verweisen allerdings darauf, daß diese Spuren von ungarischen Interferenzen aufweisen, sodaß Deutsch für M. doch eine Zweitsprache geblieben sei.

[2] „Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens“, hg. von D. Kettler u.a., Frankfurt: Suhrkamp 1984. M. hatte daraus nur 1927 eine Kurzfassung publiziert:  „Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zu Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland“, in Wolff (Q): 408 – 508.

[3] Norbert Elias (1897-1990) ging mit ihm als sein Assistent; dafür brach er seine vorher in Heidelberg begonnene Habilitation ab. Promoviert hatte er 1924 in Breslau bei R. Hönigswald. Seine dann in Frankfurt begonnene Habilitation wurde aus rassistischen Gründen 1933 auch wieder unterbrochen. Er emigriere über die Niederlande und Frankreich ebenfalls nach England.

[4] Die zunächst nur durch Solidaritätsspenden der dort Lehrenden finanziert wurde und insofern auch keinen regulären korporationsrechtlichen Status hatte, s. dazu Kettler u.a. (Q) in Fn. 2.

[5] Seine ungarisch verfaßte entsprechende Dissertation veröffentlichte er 1922 auf Deutsch als „Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie“ in den „Kantstudien“, repr. in  Wolff (Q): 166 – 245.

[6] Dabei bildete für ihn Husserls phänomenologische Analyse mit ihrer Neufassung des Sinnbegriffs eine Schleuse, wie die Verweise auf ihn in seinen frühen Arbeiten zeigen, z.B. in Wolff (Q): 101, 208 u.ö.

[7] Mit dieser Umschreibung nahm M. öfters eine Formulierung von Heidegger auf, wobei er allerdings die Heideggersche Unterscheidung von Dasein gegenüber Sein ausblendet, für den die von M. meist genutzte Formulierung der „Auslegung des Seins“ gegenstandslos ist bzw. bestenfalls in einer ontologischen Grundlagenreflexion Sinn machen könnte.

[8] Diese metonymische Mehrdeutigkeit des Terminus hatte M. von den Diskussionen des 19. Jhd. geerbt: der allgemeine Begriff war insbesondere in der französischen philosophischen Tradition fest etabliert, in der die Schule der „Ideologen“ zu Beginn des 19. Jhd. mit diesem Konzept operierte. Der spezifische (bei M. „partikuläre“) Begriff hat sich dann im Feld der politischen Auseinandersetzungen vor allem mit dem Programm einer „Ideologiekritik“ durchgesetzt.

[9] Der Titel darf nicht irreführen: die Argumentation ist methodologisch intendiert und zielt auf die oben als generelle “Ideologie“ angesprochene intellektuelle Matrix des Denkens und seiner Artikulation, nicht auf „Weltbilder“ im Sinne von partikulären „Ideologien“. 

[10] In dieser Hinsicht sind seine Arbeiten ambivalent: er bezog sich immer auf faktisch vorzufindende naturwissenschaftliche Argumentationsformen als empirische „ideologische“ Artikulationen. Als spezifischer Denkstil ist für diese die Homogenisierung ihres Gegenstands und seine kausalgesetzlich verstandene Modellierung konstitutiv. In diesem Sinne ist für ihn selbstverständlich auch die naturwissenschaftliche Forschung grundsätzlich „denksoziologisch“ historisierbar.

[11] Eine umfassende Dokumentation dieser Diskussionen findet sich in V.Meja / N. Stehr (Hgg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp 1982. Daran war auch eine Reihe der hier dokumentierten Sprachforscher beteiligt, deren Beiträge dort abgedruckt sind: H.Marcuse (1929), H.Pleßner (1931), H. Speier (1930), K.Wittfogel (1931); außerdem Th. Geiger, der dort merkwürdigerweise fehlt, s. dazu die Hinweise in dem Eintrag zu ihm. 

[12] Sinnfällig ist das z.B. bei seiner Diskussion mit dem Romanisten (Literaturwissenschaftler) Ernst Robert Curtius (1886-1956) in der Neue[n] Schweizer Rundschau 1929, repr. in Meja / Stehr 1982, II: 417 – 437.

[13] Treibende Kraft dabei war Max Horkheimer (1895-1973), der in M. einen Exponenten der „traditionellen“ Theorie sah, die einen kritischen Zugang zu den gesellschaftlichen Verhältnissen versperrt, s. von ihm „Traditionelle und kritische Theorie“, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6/ 1937: 245 – 294, bes. S. 263. Eine detaillierte Kritik an M. sollte auf Horkheimers Druck hin Adorno (1903-1969) verfassen, der sich aber schwer damit tat – immerhin hatte er seinerzeit auch auf Befürwortung von M. hin ein englisches Stipendium für seinen Aufenthalt in Oxford (1934-1937).  Adornos Text wurde erst nach dem Krieg (und nach M.s Tod) aus Adornos Nachlaß veröffentlicht „Neue wertfreie Soziologie. Aus Anlass von Karl Mannheims 'Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus’(1937)" (in: Adorno, Gesammelte Schriften, Band 20 (I): 11-30, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998); vorher hatte Adorno nur Auszüge daraus publiziert (Das Bewußtsein der Wissenssoziologie, in: Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1955: 32-50). Zu dem Konflikt in Frankfurt und mit der Frankfurter „Kritischen Theorie“, s. A. Barboza, Die verpassten Chancen einer Kooperation zwischen der „Frankfurter Schule“ und K.M.s Soziologischem Seminar, in: R. Faber / E.M. Ziege (Hgg.), Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften vor 1945. Würzburg: Königshausen  Neumann 2007: 63 – 87. 

[14] Abgedruckt bei Meja / Stehr 1982, II: 594- 600. Eine Schlüsselrolle für die auch später noch weitergeführte Kritik hatte die von Lukács an M., in dem er (vor allem so auch in seinen Analysen zum Faschismus) einen Exponenten der „wehrlosen Kapitulation“ der bürgerlichen Intellektuellen vor der Reaktion sah, s. von ihm „Die Zerstörung der Vernunft“ (ungar. 1. Aufl. 1954), dt. Neuwied: Luchterhand 1962, bes. Bd. 3: 82-89.

[15] “Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit (Konjunktives und kommunikatives Denken)", in: S. D. Kettler u.a. (Hgg.), K.M., Strukturen des Denkens. Frankfurt: Suhrkamp 1980: 155 – 322. Die Hgg. nehmen mit guten Gründen an, daß M. seinen professionellen soziologischen Status in England nicht mit derartigen „philosophischen“ Exkursen gefährden wollte. Immerhin hat er diese Manuskripte in seinen englischen Jahren bei seinen Arbeitsunterlagen bewahrt.

[16] M. übernahm den Terminus von Viktor von Weizsäcker (1886-1957), der als Mediziner in den 1920er Jahren vehement gegen eine „mathematisierende“ Homogenisierung im Denken argumentierte, s. von ihm insbesondere „Das Antilogische“ (1923, zugänglich in seinen ‚Gesammelten Schriften‘, Bd. 2: 368-394, Frankfurt: Suhrkamp 1998), worauf M. auch öfters verwiesen hat.

[17] Kommunikation grenzte er so explizit von Verstehen ab, s. Kettler u.a. 1980: 287. Mit dieser expliziten Unterscheidung bietet M. durchaus hilfreiche Differenzierungen gegenüber neueren ambitionierten Theorieentwürfen wie z.B. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt: Suhrkamp 1981.

[18] In seinem oben diskutieren Vortrag von 1928 thematisierte er u.a. auch Registerdifferenzierungen in der Sprachpraxis, darunter auch eine „enuntiativ gehaltene“ Artikulation, Wolff [Q]: 577.

[19] In diesem Sinne war Stil zeitgenössisch eine argumentative Grundfigur, wie es auch in diesem Katalog nachzuverfolgen ist, wenn man das Stichwort Stil bzw. Stilanalyse aufruft, das dann immerhin zu 70 Einträgen führt.

[20] S. dazu A. Barboza, Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims. Konstanz: UVK 2005.

[21] „Das Problem der Generationen“ (1928), in: Wolff (1964): 509 – 565.

[22] Bonn: Cohen 1929, danach mehrfach neu aufgelegt; hier zitiert nach der 9. Auflage Frankfurt: Klostermann 2015, s. dort bes. S. 187ff.

[23] In der Diskussion zu M. (nicht nur der frühen) hat das vor allem Pleßner (1931) herausgestellt, der M.s. Ansatz auf diese Weise anthropologisch rekonstruierte, s. bei Meja / Stehr 1982, II: 637- 662.

[24] Damit griff er explizit auf eine Argumentationsform von Alfred Weber zurück, dort S. 135.

[25] Leiden: Sijthoff 1935 – wohl ein Reflex seiner niederländischen Exilstation dort.

[26] Schon in seiner 1930 in Frankfurt gehaltenen Vorlesung finden sich ausweislich der zugänglichen Hörernachschriften nur noch pauschale Hinweise auf die Sprache, s. M. Endreß / I. Srubar (Hgg.), K.M.s Analyse der Moderne. M.s erste Frankfurter Vorlesung von 1930. Opladen: Leske + Budrich 2000, vgl. dort z.B.: „[Die Partikularisierung] nimmt uns vom Einsamsein weg. Vgl. Sprache! – Rekonstruktion des ursprünglichen Lebenszusammenhangs“ (S. 36-37).

[27] Dieser Diskussionskreis hatte sich 1938 um den Erzbischof von Canterbury, W. Temple, formiert und blieb in den Weltkriegsjahren aktiv. Dort wurde extensiv publiziert; M. war eines der aktivsten Mitglieder, s. Kettler u.a., Q.

[28] So vor allem ausführlich in seiner 1930 in Frankfurt gehaltenen Vorlesung, s. Fn. 26 für die jetzt zugänglichen in Hörernachschriften.

[29] Das war (und blieb!) denn auch der Tenor der Kritik an M., die ihm vorwarf, sich nur mit oberflächlichen Symptomen zu befassen, statt den gesellschaftlichen Prozeß zu analysieren.

[30] S. die kommentierenden Bemerkungen zu einem Beitrag von Garfinkel (1961), in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Reinbek: Rowohlt, Bd. 1: 214 – 262, bes. S. 236 – 241. Zu Garfinkel und der Ethnomethodologie, s. den Eintrag zu Schütz.

[31] Neuerdings findet sich für das Konzept des Denkstils geradezu stereotyp der Verweis auf Ludwik Fleck (1896-1961). Dabei wird übersehen, daß sich Fleck wie eben auch M. mit dieser argumentativen Figur im damals diskursiv Üblichen bewegte (s.o. Fn. 19). Bei Fleck steht der Ausdruck auch im Titel seines 1935 zuerst erschienenen Buchs (L.F., Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsche. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Zuerst Basel: Schwabe 1935, Repr. Frankfurt: Suhrkamp 1980), das aber erst über seine Neuflage 1980 breiter rezipiert wurde; er hatte so aber schon in früheren Aufsätzen argumentiert (s. L.F., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze [hg. von L.Schäfer /Th.Schnelle], Frankfurt: Suhrkamp 1983). Während Fleck als Medizinhistoriker sein Konzept ausgehend von den Strukturen der arbeitsteiligen Laborforschung in institutionellen Organisationen entwickelte, setzte M. damit von vorneherein sehr viel umfassender (allerdings auch abstrakter) bei der Analyse von kognitiven Matrizen an.