Alexander Friedrich: UNTERM RETTUNGSSCHIRM

Dass Rettungsschirme Vorrichtungen sind, mit denen Großschuldner vorm Bankrott bewahrt werden, ist uns spätestens seit der jüngsten Finanzkrise bekannt. Zwar war die Redeweise durchaus länger schon gebräuchlich: So zitiert bereits der Spiegel 1988 den französischen Industrieminister, dass der kriselnde Staatskonzern Renault »sich nicht länger mehr auf den Rettungsschirm des Staates verlassen«[1] könne. Unschwer lässt sich hier die Metapher eines Fallschirms erkennen, der den Absturz verhindern soll, trägt doch der entsprechende Beitrag den Titel »In den Abgrund«. In der Finanzkrise, dreißig Jahre später, erlangt der »Rettungsschirm« allerdings eine eigentümlich schillernde Mehrdeutigkeit. Von welcher Art Schirm war da die Rede, der zunächst »aufgespannt«  und kurz darauf »erweitert« werden sollte (oder auch nicht) und alsbald zu etwas wurde, worunter man »schlüpft« oder »flüchtet«, sich »quetscht«,  bisweilen sogar »gedrängt« wird, obwohl nicht mehr viele »darunter passen«? Offensichtlich bewegen sich die darin bekundenden Vorstellungen nicht im metaphorischen Feld der Fallschirme. Geht man von den vielen begleitenden Abbildungen zur Krisenberichterstattung dieser Zeit aus, handelt es sich bei dem »Rettungsschirm« der Finanzkrise vielmehr um eine Art Regenschirm. Die Krise wäre demnach so etwas wie ein meteorologischer Zwischenfall, ein Wolkenbruch. Schlimmeres durchaus nicht. Bei einer Klimakatastrophe hätte man ja bereits zu nautischen Metaphern aus dem Umkreis von Rettungsbooten oder gar einer Arche übergehen müssen. Der Boden unter den Füßen schien also noch fest; worauf es ankam, war offenbar, die nicht wetterfesten Fußgänger vor drohender Durchnässung zu bewahren.

Seit nicht mehr nur die Gesundheit einzelner Unternehmen und der Bestand einer überschaubaren Zahl von Arbeitsplätzen, sondern ganze Staatshaushalte und die Existenz der gemeinsamen Währung auf dem Spiel standen, kam jedoch die Metaphorik des Fallschirms vermehrt wieder ins Spiel, auch in Gestalt visueller Darstellungen. Offenbar hatte sich der metaphorische Rahmen und damit die Deutung der Situation verschoben. Der feste Boden schien plötzlich in weite Ferne gerückt – doch bewegte man sich bedrohlich schnell darauf zu. Während die Vorstellung, wie man in freiem Fall an einen Fallschirm komme, scheinbar nie ein Problem darstellte, ging es nun darum, wer sich von wem auf wessen Kosten an den Schirm hängen ließ.

Macht sich die Zweideutigkeit des »Rettungsschirms« im Deutschen vor allem in Gestalt seiner visuellen und metaphorischen Figurationen bemerkbar, fällt sie im Englischen schon auf wörtlicher Ebene auf. Denn das Englische kennt zwei unterschiedliche Worte für die benannte Sache, sodass der Schirm entweder als umbrella (»Regenschirm«) oder als parachute (»Fallschirm«) auftreten muss. So finden sich denn auch beide Varianten in der englischsprachigen Berichterstattung über die Eurokrise. Die entsprechenden Formulierungen rescue umbrella oder rescue parachute lassen sich dabei in der Regel als Übersetzungsversuche aus dem Deutschen erkennen.[2] Darüber hinaus finden sich beide Varianten häufig in englischsprachigen Einlassungen deutscher Krisenkommentatoren, die für diese Einrichtung werben oder sie kritisieren wollen.[3] Viele englischsprachige Fachpublikationen, in denen explizit von rescue umbrella/parachute die Rede ist, stammen auch aus der Feder deutscher Autorinnen und Autoren. Dieser Befund lässt die Vermutung zu, dass es sich bei dem Rettungsschirm um eine genuin deutsche Wortschöpfung handeln könnte.

Die Vermutung lässt sich durch eine Reihe sprachwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigen, die sich mit der Metaphorik der Finanzkrise beschäftigt haben.[4]

Das Gesamtbild der unterschiedlich angelegten empirischen Studien lässt recht klar erkennen, dass der Rettungsschirm eine der dominierenden Metaphern im deutschen Krisendiskurs und offenbar auch ein spezifisch deutsches Sprachgebilde ist. Als solches weist der Rettungsschirm eine Reihe von Eigentümlichkeiten auf: (a) er stellt in seiner Mehrdeutigkeit kein einheitliches Sprach-, vielmehr ein Vexierbild metaphorischer Übertragungen und Implikationen dar, (b) infolgedessen ist er nicht ohne Mehrdeutigkeitsverluste übersetzbar, und (c) die Polysemie des zum Titelwort promovierten Kompositums ermöglicht und provoziert immer wieder metaphorische Anschlussoperationen, die das Signifikat der Trope zunehmend, teils ungewollt, teils beabsichtigt, ins Absurde treiben.

Was den eigentlichen Referenten des metaphorischen Nomens betrifft, so hat sich dieser im Laufe der Finanzkrise mehrfach verändert. In seiner ersten Konjunkturphase, die dem Rettungsschirm die Achtplatzierung als »Wort des Jahres 2008« einbrachte, bezeichnet er zunächst noch eine nationalstaatliche Maßnahme zur Verhinderung des Ruins angeschlagener deutscher Finanzinstitute. Dabei verdrängt der »Rettungsschirm« die bis dahin dominante Metapher des »Rettungspakets«,[5] das der Staat wiederholt zu »schnüren« und »auf den Weg zu bringen« hatte. Nachdem sich die Banken- zu einer Staatsschulden- und Währungskrise ausgewachsen hatte, wurden europaweite Krisenschutzmaßnahmen beschlossen, die zunächst (2010) zur Einrichtung des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) sowie der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und später (2012) zur Etablierung des dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) führten.[6] Solange firmiert der »Rettungsschirm« als ein Signifikant zweiten Grades – für eine Konstruktion, deren Bezeichnung den befremdlichen Ausdruck einer »Fazilität« enthält, auf den sich ohne finanzwirtschaftliches Wissen durchaus kein Reim machen lässt. In Gestalt der eingedeutschten facility enthält die »eigentliche« Bedeutung der Metapher also ein unverständliches Fremdwort, das – zumal in Verbindung mit dem monströsen Kompositum – für persuasive Zwecke in öffentlichen Reden denkbar ungeeignet ist. Ein Schirm scheint da viel handlicher – allerdings nur im Deutschen. Im Englischen hat die Übersetzung des Rettungsschirms, aufgrund des vokabularbedingten Entscheidungszwangs wie auch der generellen Schwierigkeit wegen, dass Metaphern selten wörtlich gut übersetzbar sind, sich nicht durchsetzen und verbreiten können; stattdessen hat sich der rescue fond als übliche Bezeichnung etabliert.[7]

Im Deutschen führte die Metapher indessen unter den neuen Bedingungen zu immer fantastischeren Sprachgebilden. Die sicherlich kurioseste unter ihnen kam auf, als durch eine Maßnahme, die in der finanzwirtschaftlichen Sprache leverage genannt und im Deutschen entsprechend als »Hebel« übersetzt wird, die »Schlagkraft« des Rettungsschirms (2010) erhöht werden sollte. Als »Hebel« wird eine Investitionsform bezeichnet, bei der die Eigenkapitalrendite durch Einsatz von Fremdkapital gesteigert werden kann.[8] Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität derart aufzurüsten hieß dann also, »den Rettungsschirm zu hebeln«, um ihn »schlagkräftiger« zu machen. Spätestens hier lässt sich selbst auf Ebene der Metaphorik kein Reim mehr darauf machen, was für eine Art von Vorgang dabei ins Bild gesetzt werden sollte. Vermutlich kam es darauf schon gar nicht mehr an. Die zu Titelworten geronnenen, aber eben noch nicht ganz erstarrten Metaphern begegneten sich auf eine unvorhergesehene Weise, die sich als eine semantische Kollision zweiten Grades verstehen lässt.[9] Die Kollision ist zum Anlass verschiedener satirischer Kommentare und kritischer Polemiken geworden; so auch der folgende Radiobeitrag:

»Etymologisch hat der Hebel mit Heben zu tun, deutet also eine Aufwärtsbewegung an. […]. Deswegen setzen die EU-Regierungen jetzt alle Hebel in Bewegung. Am Wochenende wollen sie unvorstellbare Geldmengen aus unseren maroden Volkswirtschaften hebeln […]. Noch ist offen, wer am längeren Hebel sitzt, Merkel oder Sarkozy, Bank oder Not, Geld oder Schein, aber weh und leid wird es noch vielen tun, denn wo gehebelt wird, da fallen Späne.«

Was damit kalauernd ad absurdum geführt werden soll, nämlich die Vorstellung eines volkswirtschaftlichen Geldhebels, steht nun selbst noch einmal in einer grotesken Beziehung zur Vorstellung des Rettungsschirms. Wo genau soll da ein Hebel angebracht werden, um damit seine »Schlagkraft« zu steigern? Man kann vermuten, dass sich hier neben Regen- und Fallschirmen noch ein Schirmtyp anderer Art mit ins Feld der metaphorischen Implikationen gemischt hat: der Raketenschutzschirm. Ein Interkontinentalraketen-Abwehrsystem, etwa nach Vorbild von Reagans Strategic Defense Initiative (SDI) bzw. »Star Wars«-Projekt kann und soll durchaus als »schlagkräftig« vorgestellt werden. Den Rettungsschirm aber als Raketenschutzschirm zu verstehen verlangt, das Szenario eines Atomkriegs auf die Krisensituation zu projizieren. Dann hätte man wirtschaftlich ruinierte Staaten allerdings nicht mehr als selbstverschuldete Pleitiers, sondern als Opfer eines – um im Bild zu bleiben – feindlichen Nuklearschlags behandeln müssen. Eine solche Behandlung hätte jedoch mit der Zumutung nicht in Einklang gestanden, dass die »Rettung« qua Schirm den »Geretteten« eine Einwilligung in den umfassenden Abbau sozialstaatlicher Leistungen und die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen abverlangte, um deren Wirtschaft wieder »wettbewerbsfähig« zu machen.

Diese Diskrepanz in den Implikationen eines »Schutzschirms« brachte schließlich auch Bewegung in die Regenschirmmetaphorik. So erklärte etwa Jürgen Trittin auf einer Sitzung des Bundestags im März 2012: »Ja, es ist bitter, dass wir einen Rettungsschirm aufspannen müssen; aber es ist richtig. Wenn die Hose nicht nass werden soll, dann muss der Schirm auch groß genug sein.«[10] Worauf Guido Westerwelle entgegnete: »Herr Trittin, wenn die Hose von innen nass wird, dann kann der Schirm so groß sein, wie er will.«[11] Statt apokalyptischer Interkontinentalraketen insinuierte der Außenminister also eine monströse Inkontinenz, um darauf zu insistieren, dass es sich bei der Eurokrise um eine endogene Misere handele.

So bekundet sich in der vexierenden Metaphorik des Rettungsschirms ein doppeltes Übersetzungsproblem: zum einen der schillernden Trope von einer Sprache in eine andere und zum anderen zwischen den verschiedenen Schichten der polysemischen Textur des Wortes, die seine Semantik nicht nur verändert, sondern eigentlich erst hervorbringt. 2009 taucht der »Rettungsschirm« erstmals im Duden auf; seither wird auch der »Euro-Rettungsschirm« als die »Gesamtheit der Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stabilisierung einzelner Länder der Eurozone« dort eigens verzeichnet. Zu dieser »Gesamtheit« sind offenbar auch metaphorische und rhetorische Denkwürdigkeiten zu zählen, die latente oder manifeste Übersetzungsprobleme nicht nur zur Folge, sondern schon zur Voraussetzung haben.

 

[1] [O. A.]: »In den Abgrund«, in: Spiegel, 2 (1988), S. 112. Dies ist zugleich der älteste mir bekannte Stellenbeleg, dessen Originalwortlaut sich allerdings nicht rekonstruieren ließ. Denkbar wäre das in der Finanzkrise auch relativ häufig auftretende filet de sécurité; vgl. Julia Fuchs: »Rettungsschirm, Rettungstopf, Rettungspaket. Kontrastive Untersuchungen zur Metaphorik der Eurokrise in der deutschen, französischen und spanischen Presseberichterstattung«, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, 64 (2016), S. 122.

[2] So gab die New York Times unter Berufung auf einen Bericht aus der Süddeutschen Zeitung das Wort mit rescue umbrella wieder, vgl. Nikolas Kulish: »Financial crisis tests Germany’s ability to lead«, in: New York Times, 10. Mai 2017; während die Daily Mail die Wortwahl des damaligen Ministers Brüderle mit rescue parachute übersetzt, vgl. Glen Owen: »Hague sparks diplomatic row as he is asked if euro will survive Irish debt crisis ‑ and simply answers …Who knows?«, in: MailOnline, 21. Nov. 2010.

[3] Vgl. etwa Hans Magnus Enzensberger: »The disenfranchisement of Europe«, übers. von Anton Baer, in: Pro Europa, 12. Okt. 2012; oder Hans-Werner Sinn: »The ECB’s secret bailout strategy«, in: Project Syndicate, 29. April 2011.

[4] Vgl. Christina Schäffner: »Finding space under the umbrella: the Euro crisis, metaphors, and translation«, in: The Journal of Specialised Translation, 17 (2012), S. 250−270. Julia Fuchs: »Rettungsschirm, Rettungstopf, Rettungspaket. Kontrastive Untersuchungen zur Metaphorik der Eurokrise in der deutschen, französischen und spanischen Presseberichterstattung«, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, 64 (2016), S. 101−125. Ángel Arrese/Alfonso Vara‑Miguel: »A comparative study of metaphors in press reporting of the Euro crisis«, in: Discourse & Society, 27.2 (2016), S. 133−155.

[5] Vgl. Fuchs: »Rettungsschirm, Rettungstopf, Rettungspaket«.

[6] Eine informative Übersicht zu Einzelheiten und Verlauf der Eurokrise bietet z. B. die Landeszentrale für politische Bildung.

[7] Vgl. Schäffner: »Euro crisis, metaphors, and translation«.

[8] Vgl. »Hebeleffekt«, in: FAZ.NET-Börsenlexikon. Das »hebeln« brachte es 2011 zum zweitplatzierten Wort des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache. Die GfdS würdigt in der Begründung ihrer Entscheidung zwar die semantische Erweiterung des deutschen Wortes, verliert dabei aber keins über die Inkohärenz der metaphorischen Konstruktion: »In der derzeitigen europäischen Schuldenkrise erweiterte dieser Fachbegriff aus der Finanzbranche die Bedeutung des in der Allgemeinsprache bereits bekannten Worts […]: Durch Erweiterung des Rettungsschirms um externes Kapital soll die Summe zur Rettung eines Landes vervielfältigt werden. Tatsächlich wird durch das Hebeln weniger Kraft, sprich Kapital, benötigt als beim Akt des Stemmens.«

[9] Vgl. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher, München 2004, S. 163, wo das Metaphorische als eine »semantische Kollision« zwischen dem üblichen Wortsinn und dem Kontext seiner übertragenen Bedeutung bezeichnet wird.

[10] Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 17/172, stenografischer Bericht, Berlin, 29. März 2012, S. 20222.

[11] Ebd., S. 20227.

Alexander Friedrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Sein Text ist dem von Falko Schmieder und Georg Toepfer herausgegebenen Band »Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte« entnommen, der im November 2017 im Kulturverlag Kadmos erschienen ist.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Alexander Friedrich: Unterm Rettungsschirm, in: ZfL BLOG, 4.1.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/01/04/alexander-friedrich-unterm-rettungsschirm/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180104-01

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