ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Wed, 09 Oct 2024 11:02:46 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.2 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/ 32 32 Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/10/08/claude-haas-war-da-was-bemerkungen-zum-kafka-jahr-2024/ Tue, 08 Oct 2024 16:25:18 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3396 »Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen und es wird Teil der Ceremonie.« Franz Kafka: Tagebücher Die intellektuelle Ausbeute literarischer Jubiläen und Gedenkjahre fällt in der Regel mager aus. Viel Nippes wird zu solchen Anlässen auf den Markt geworfen. Runde Geburts- Weiterlesen

Der Beitrag Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024 erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
»Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen und es wird Teil der Ceremonie.«
Franz Kafka: Tagebücher

Die intellektuelle Ausbeute literarischer Jubiläen und Gedenkjahre fällt in der Regel mager aus. Viel Nippes wird zu solchen Anlässen auf den Markt geworfen. Runde Geburts- oder Todestage von Schriftsteller*innen zeugen so oft unfreiwillig von jenem vielfach beklagten Prestigeverlust der Literatur, gegen den ihre mediale Verwertung gerade anzurennen versucht. Große Namen sind für diese Schieflage besonders anfällig, nur selten erscheinen zu ihren Jahrestagen ambitionierte Neudeutungen ihrer Werke. Es dominiert die gediegene Traditionspflege und ein mitunter verschmitzter Respekt – der schlimmste von allen. Aus diesen Gründen haben Gedenkjahre aber stets eine seismographische Funktion, denn an ihnen lässt sich ablesen, wo ihre Jubilar*innen und deren – oder gar die – Literatur öffentlich gerade stehen. Das Kafka-Jahr 2024 macht hier keine Ausnahme.[1]

Anlässlich seines 100. Todestags am 3. Juni ist mit Kafka einem Autor wiederzubegegnen, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum Inbegriff moderner Literatur avanciert ist. Anders als etwa Thomas Mann, Robert Musil oder Marcel Proust hat Kafka unzählige Nachahmer*innen gefunden und im Gegensatz zu ihnen – im Gegensatz selbst zu Goethe – wurde Kafka kaum je ernsthaft vom Sockel gestoßen. Vermutlich wird er sogar mehr gelesen als sie alle zusammen. Außerhalb des deutschen Sprachraums ist das zweifelsohne der Fall und es dürfte nicht zuletzt an seiner guten Übersetzbarkeit liegen.[2] Ausgerechnet Kafka, eine Art ewiger Sohn, wurde zum Heiligen Vater der neueren Literaturgeschichte.[3]

Die neueste Kafka-Monographie

Das soll 2024 offenkundig auch so bleiben. In seiner kleinen Kafka-Monographie mit dem Titel Um sein Leben schreiben[4] stellt der obligate Rüdiger Safranski den doppelten Konflikt von Leben und Schreiben in den Mittepunkt seiner Ausführungen. Schreibt Kafka, fühle er sich schuldig, weil er das Leben verpasst; lebt er, fürchte er das Schreiben zu versäumen. Beides mache ihn in seinen eigenen Augen schuldig, gegenüber den Frauen, dem Vater und dem Büro oder eben gegenüber der ausbleibenden Produktion. Kafkas Texte lassen sich anhand dieser Spannung analytisch gut erden, zu gut. Denn sie dürfte in ihrer Banalität kaum dazu angetan sein, die Einzigartigkeit seines Werks zu begreifen. Safranski gelingen sensible Deutungen einiger Kafka-Texte und sein Buch bewegt sich unangestrengt auf der Höhe der Diskussion, aber es ist komplett fantasielos. Das mag daran liegen, dass er an einem zutiefst existentiellen Kafka-Bild festhält und dem literarischen Selbstverständnis seines Gegenstandes folgt. Auf diese Weise festigt sich einmal mehr die Vorstellung von einem Schriftsteller, dessen Werk sich eher einer parareligiösen Erweckung in nächtlichen Sitzungen am Schreibtisch verdankt als gezielt platzierten Stilmitteln und gewandt eingesetzten Erzählstrategien.

Der Serien-Kafka

Gewagter kommt da schon die viel gelobte sechsteilige ARD-Serie mit dem monumentalen Titel Kafka  von Daniel Kehlmann (Drehbuch) und David Schalko (Regie) daher. Als Biopic konglomeriert sie Leben und Werk. Die Serie verzichtet auf Cliffhanger und dramaturgischen Firlefanz. Sie unterstellt ihrem Protagonisten keine nennenswerte Entwicklung, ihr Zentrum bilden folgerichtig Einzelszenen und Bildsprache, und diese sind in ihren Wiederholungen und Variationen oft suggestiv. So begegnen dem Protagonisten durch all seine Lebensphasen hindurch wiederholt zwei bedrohlich-joviale Männerfiguren. Sie gemahnen an die beiden Wächter aus dem Process ebenso wie an die »Herren«, die K.s Hinrichtung durchführen, und sie fallen am Ende des Films mit den Gehilfen K.s aus dem Schloss in eins. Solche Einfälle mögen naheliegen, sie spiegeln jedoch gekonnt das ambivalente Machtverständnis Kafkas, das bis heute einen wesentlichen Teil seines Ruhms begründet. Macht wird bei Kafka nie eindimensional als Unterdrückung gefasst. Ihre Funktion verdankt sich der Bereitschaft der (vermeintlich) Ohnmächtigen, noch die korruptesten und undurchsichtigsten Institutionen zu stützen, bis in libidinöse Verwicklungen hinein. Scherge und Helfer sind bei Kafka somit in der Tat komplementäre Figuren.

Die Serie hat aber auch eklatante Schwächen. Joel Basman läuft zu großer Form auf, spielt und spricht Kafka jedoch oft ziemlich blasiert. Das hat den Vorzug der Andachtsferne, nur verkommt die Figur damit allzu oft zum schrulligen Sonderling. Kafkas Vater wirkt den ganzen Film hindurch wie eine reine Karikatur.

Heikel bleibt die angedeutete Verbindung des ›Ungeziefers‹ aus der Verwandlung mit dem Hinweis auf die spätere Ermordung von Kafkas drei Schwestern in Konzentrations- und Vernichtungslagern aus dem Off. Sicher wurden die Juden von den Nazis wie Ungeziefer vernichtet, aber Kafkas Käfer ist kein Opfer der Shoah. Die entsprechenden Kameraeinstellungen am Schluss der dritten Folge sind zwar unaufdringlich; auch wurde der sensationelle Erfolg Kafkas nach 1945 oft mit der Nähe seiner Literatur zu den Totalitarismen erklärt. Diese herkömmliche prophetische Zuschreibung an sein Schreiben wird mittlerweile jedoch zu Recht kritisch gesehen. Die maschinelle Vernichtung von Menschen hat im Werk Kafkas keinen Ort. Bei Kafka muss die Macht ihre Opfer bei der Stange halten; und sie muss es schaffen, beinahe alle zu Opfern (und zu Tätern) zu machen. Aus diesen Gründen steht auch der Folter- und Tötungsapparat aus der Strafkolonie den Gaskammern der Nazis denkbar fern.

Schwer einzuschätzen sind der Humor und die (Selbst-)Ironie, denen Drehbuch und Regie ebenso ausgiebig frönen wie der medialen und narratologischen Selbstreflexion. In einer sehr klischeehaften Szene spielt der Drehbuchautor Kehlmann Arthur Schnitzler. Schnitzler hat, selbstverständlich, just in dem Moment Besuch von einem ›süßen Mädel‹, in dem der netzwerkende Max Brod ihm eins seiner Werke überreichen will und schroff abgewiesen wird. An späterer Stelle belehrt Kafka seine Verlobte Felice Bauer ausgiebig darüber, dass er Schnitzlers Stücke und Novellen für die »widerlichste Schreiberei« hält. Der für Kafka ungewöhnliche Ausspruch ist brieflich belegt, in der Kombination mit Kehlmanns Schnitzler-Verkörperung gewinnt er in der Serie jedoch eine eigene poetologische Dimension. Augenzwinkernd (wie man so sagt) gibt Kehlmann-Schnitzler hier zu verstehen, dass sein literarisches Werk und sein Film bei Kafka wahrscheinlich auf wenig Gegenliebe stoßen würden. Da dies aber so evident wie belanglos ist, bleiben derartige Selbstbescheidungen anmaßend, auch als Witz.

Kafka in Roman und Film

Damit sind sie allerdings immer noch ansprechender als das, was Georg Maas und Judith Kaufmann unter dem Titel Die Herrlichkeit des Lebens auf die Leinwand gebracht haben. Die Vorlage bildet der gleichnamige Kafka-Roman Michael Kumpfmüllers aus dem Jahr 2011.[5] Der Roman erzählt die letzten Lebensmonate Kafkas und seine Liebesbeziehung mit Dora Diamant. Kumpfmüller vermeidet jede sprachliche Anbiederung an seinen Gegenstand und bringt abwechselnd die Innenansichten beider Protagonist*innen zur Darstellung. Zu den Höhepunkten seines Romans gehört die Imagination von Doras Kafka-Lektüren. In ihrem Bedürfnis nach hermeneutischer Orientierung steht die literarisch ahnungslose Dora der bezwingenden Objektivität von Kafkas Erratik genauso hilf- und haltlos gegenüber wie Generationen späterer Interpret*innen. Ihre allegorischen Festlegungen sind in ihrer Doppelbödigkeit mitunter von obszöner Poetizität. Während der gemeinsamen Berliner Monate von Lebensmittelknappheit, Kälte und Hyperinflation im Jahr 1923 liest sie bei Kumpfmüller Der Bau und erblickt sich selbst in dem vom Tier im warmen Bau gehorteten Fleisch: »der ganze Bau duftet nach Fleisch, und das Fleisch bin ich, wie sie erschrocken denkt, und dann kommt die Stelle, wo er es sich nimmt, und es hört sich fürchterlich an.«[6]

Von solchen Abgründen vermittelt der Film von Maas und Kaufmann noch nicht einmal mehr einen Eindruck. Das ist auf ein steriles Drehbuch, in erster Linie aber auf den Kafka Sabin Tambreas zurückzuführen, gegen den die bodenständig verträumte Dora von Henriette Confurius leider kaum etwas ausrichten kann. Tambrea blickt den ganzen Film hindurch so tiefgründig drein und schwatzt so salbungsvoll daher, dass er sich zur exakten Gegenfigur von Basmans Kafka wie von Kumpfmüllers Romanfigur niederspielt. Dabei wirkt die Ehrfurcht des Films vor dem Schriftsteller Kafka aufgesetzt. Damit nur ja nicht in Vergessenheit gerät, mit wem wir es hier zu tun haben, integrieren Maas und Kaufmann die Niederschrift von Kafkas bekanntester Erzählung Die Verwandlung aus dem Jahr 1912 in die viel spätere Filmhandlung. Solche Faktenferne ist im Medium der Fiktion völlig legitim, sie hängt aber ab von ihrer Funktion. Falsches Pathos rechtfertigt sie nicht.

Kafka in Soziologie und Jurisprudenz

Der Tiefpunkt des Kafka-Jahres ist damit allerdings noch nicht erreicht. Dieser stammt aus der Feder des französischen Philosophen und Soziologen Geoffroy de Lagasnerie. Der Titel seines zum schmalen Buch aufgeblähten Essays lautet Kafka misstrauen.[7] Das weckt erst einmal Neugierde, denn Kafka-Abrechnungen sind rar. Lagasneries Thesen kommen griffig daher: Kafkas Texte würden das Rechtssystem nicht auf die Herkunft oder die gesellschaftliche Schicht inhaftierter Gruppen hin durchleuchten, sondern mittels der Mystifikation umfassender rechtlicher Willkür einem »Verlangen nach dem Gesetz« Vorschub leisten.[8] Mit Blick etwa auf die – unstrittige – rassistische Diskriminierung von Schwarzen im Rahmen der westlichen Justiz habe dies verheerende Folgen gezeitigt: »Der kulturelle Mythos des unschuldig Inhaftierten könnte einer der Gründe für das Fortbestehen des strafrechtlichen Unbewussten in unseren Gesellschaften sein.«[9] Einer »soziologische[n] Analyse der objektiven Logik von Machtsystemen«[10] stehe Kafka nicht nur fern, er mache für sie förmlich blind.

Nun konnte Kafka als Schriftsteller in der Tat keine »soziologische Analyse der objektiven Logik von Machtsystemen« liefern, denn für eine schlicht mit Eindeutigkeit verwechselte Form von Objektivität ist die moderne Literatur ihrem Wesen nach gar nicht zuständig. Aus diesem Grund bleibt Kafka an einem angeblichen »kulturellen Mythos des unschuldig Inhaftierten« denn auch gänzlich unschuldig. Die Pointe von Texten wie Das Urteil oder Der Process besteht darin, dass die Frage nach der Schuld ihrer Hauptfiguren gerade offenbleibt. Dass bei Kafka im Übrigen auch niemand »inhaftiert« wird, ist demgegenüber beinahe schon ein Detail.

Das Ärgernis von Lagasneries Essay besteht nicht in seinen einfältigen Überzeugungen, sondern im symptomatischen Zug seiner Erwartungshaltung. Das Bedürfnis nach einer gesellschaftspolitisch sauberen und geschmeidigen Literatur nimmt erwiesenermaßen zu. Es entlastet von der Lektüre und es kassiert unter anderem jede historische Besinnung. Mit gleichem Recht ließe sich Kafka mangelndes Klimabewusstsein vorwerfen.

Akribisch und unprätentiös fällt hingegen das streng rechtshistorische Büchlein des Juristen Ulrich Fischer über Kafkas letzten Willen aus.[11] Kafka hatte seinen Freund Max Brod bekanntlich in gleich zwei Schreiben damit beauftragt, den Großteil seiner Schriften – u.a. alle drei Romanfragmente – den Flammen zu überantworten.[12] Was die Missachtung von Kafkas Verfügung an Glück, aber auch an moralischer Last für Brod und für Generationen von Leser*innen bedeutet, wurde vielfach diskutiert. Fischer nüchtert den gesamten Diskurs juristisch aus. Zum einen seien Kafkas Schreiben an Brod im juristischen Sinn kein ›Testament‹, wie bis heute immer wieder irrtümlich behauptet werde, sondern ein ›Kodizill‹. Ein Testament habe Kafka gar nicht hinterlassen, so dass der rechtmäßige Erbe seiner Schriften zum anderen gar nicht Brod, sondern die eigene Familie gewesen sei. Hieraus folgt, dass Brod gar nicht das Recht gehabt hätte, auch nur ein einziges Kafka-Blatt zu verbrennen. In den Worten der Jurisprudenz:

»Max Brods ›Rettungswerk‹ war, ohne dass er es wusste, nichts anderes als die getreue Befolgung von Recht und Gesetz, aus denen sich durch Kafkas Handeln und Unterlassen zwingend ergab, dass eine Berechtigung der Vernichtung von Kafkas unveröffentlichten Werken und Schriften durch ihn nicht bestand.«[13]

Das ist gut zu wissen. Allerdings lässt Fischer keinen Zweifel daran, dass die promovierten Juristen Franz Kafka und Max Brod vom Erbrecht keinen blassen Schimmer besaßen. Und schon allein aus dem Grund wird sein – luzides und wertvolles – Buch die Debatte um die Rechtmäßigkeit von Brods Entscheidung nicht beenden können.

Der Kafka der Schriftsteller

Literarische Kafka-Imitationen sind passé. Sebastian Guggolz hat jüngst eine Anthologie mit Texten zeitgenössischer Schriftsteller*innen zu Kafka vorgelegt und Thomas Lehr einen Band mit zehn eigenen Kafka-Etüden publiziert.[14] Auch wenn in all diesen Texten kaum eine Schule oder auch nur eine dominante Strömung erkennbar wird, fällt auf, dass Kafka in ihnen eher Gegenstand als Vorbild ist. Selbst A.L. Kennedy, die sich im Großbritannien unserer Tage in einer kafkaesken Welt wähnt, probiert mit keinem Satz zu schreiben wie Kafka.[15] Von den (vielleicht etwas zu) feinsinnigen Kafka-Anverwandlungen Thomas Lehrs gilt das weniger. Sie beziehen ihren Reiz aus der Aufbereitung Kafka’scher Motive und solide gearbeiteter Erratik.

Für die Einstellung zeitgenössischer Autor*innen zu Kafka scheint ein Text Michael Kumpfmüllers repräsentativ. Er trägt den schönen Titel Hände weg von Kafka! Kumpfmüller kartographiert kitschlos die Kafka-Begeisterung der eigenen Jugend und meint, mittels seines Kafka-Romans Die Herrlichkeit des Lebens sei es ihm gelungen, sich mit Kafka wie mit der eigenen Autorschaft zu »versöhne[n]«.[16] Tatsächlich fällt die von Harold Bloom einst so genannte ›Einflussangst‹ zeitgenössischer Autor*innen Kafka gegenüber dezent aus. Das spricht weder gegen ihn noch gegen die Gegenwartsliteratur. Verschiedentlich gewinnt man den Eindruck, dass hier Denkmalpflege und Gespensteraustreibung eine seltsame Liaison eingehen. Ob sie einander grundsätzlich näherstehen, als man gemeinhin glaubt?

Kafkas Kafka

Das Ereignis des Kafka-Jahres 2024 stammt von Kafka selbst. Es ist die von Reiner Stach bei Wallstein herausgegebene und kommentierte Neuedition des Process.[17] Stachs knapp hundertseitiger Kommentar setzt ebenso Maßstäbe wie seine monumentale dreibändige Kafka-Biographie (2002-2014).[18] Der Process-Kommentar gehört in seinen editionsphilologischen, biographischen, werkhistorischen, sprach- und kulturgeschichtlichen, stilistischen, narratologischen wie interpretatorischen Ausführungen zu den fundiertesten und subtilsten Klassiker-Kommentaren überhaupt. Stach ist Diener, nicht Jünger. Er hat keinerlei Bedenken, Kafka gelegentlich auch handfeste »Versehen« nachzuweisen.[19]

Wie gern würde man solche Ausgaben von Berlin Alexanderplatz oder vom Mann ohne Eigenschaften in der Hand halten, wie gerne vom Schloss und vom Verschollenen. Tatsächlich bildet Der Process den Auftaktband einer umfassend kommentierten Werkausgabe. Profitieren werden von Stachs Edition Kafka-Einsteiger*innen ebenso wie professionelle Leser*innen. Den Höhepunkt bilden seine zum Verständnis des Romans unerlässlichen narratologischen Beobachtungen. Stach beschäftigt sich im Kommentar intensiv mit der Frage, wann und wie aus der Perspektive der Hauptfigur Josef K. und wann dagegen aus auktorialer Perspektive erzählt wird. Das ist nicht immer leicht zu entscheiden. Neben wichtigen, aber seltenen »Erzählersignalen« dominiert im Process Stach zufolge insgesamt das bereits von Friedrich Beißner so genannte »einsinnige Erzählen« aus der Perspektive der Hauptfigur.[20] Aus scheinbar läppischsten Details leitet Stach wichtige Konsequenzen ab: Die Orientierungsprobleme, vor die der Roman all seine Rezipient*innen bis heute stellt, resultieren maßgeblich aus diesem »einsinnigen Erzählen«, das letztlich subjektiv und (wie gerne leichtfertig behauptet wird) ›unzuverlässig‹ bleibt. Dies zeigen die spärlichen Brüche, die die wenigen »Erzählersignale« dem »einsinnigen Erzählen« systematisch zufügen. An sich mag dies keine spektakulär neue Erkenntnis sein. Sie bei der Lektüre mithilfe des Kommentars allerdings Satz für Satz nachvollziehen und überdenken zu können, lässt den Process im besten Sinn des Wortes als Machwerk neu auferstehen. Die Frage, warum allein Kafka wie Kafka schreiben konnte, wird sich verbindlich nie beantworten lassen. Stellen muss man sie trotzdem. Stachs Kommentar bildet hierfür eine fabelhafte Grundlage.

Dabei muss man ihm keineswegs immer vorbehaltlos folgen. Denn die Konfrontation der beiden Erzählweisen dient ihm kurioserweise auch dazu, Josef K. als eine der unsympathischsten Figuren der Weltliteratur präsentieren zu können. Seine Einschätzung des Protagonisten scheint nachgerade von persönlicher Animosität geprägt. Das gereicht seinem Kommentar nicht zum Nachteil. Auch Editionen sind nicht in Stein gemeißelt. Gleichwohl wird Stachs Process noch Leser*innen finden, wenn das Gros der diesjährigen Kafka-Zubereitungen längst vergessen ist. Und wenn es des Überflusses eines Gedenkjahres bedarf, damit ein derartiges Projekt auf den Weg kommt, ist das weit mehr, als man bei der Gelegenheit erwarten durfte.

Der Literaturwissenschaftler Claude Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur. Auf dem ZfL BLOG erschien von ihm zuletzt »Viel Lärm um alles. Über das Romanfragment ›Guerre‹ aus dem Nachlass Louis-Ferdinand Célines«.

[1] Das schließt fundierte Überblicke natürlich nicht aus. Vgl. vor allem die sehr gelungene Kafka-Sonderausgabe des Philosophie Magazins (Frühling 2024) mit dem Titel Der unendliche Kafka. Eine informative Zusammenstellung von Kafka-Spektakeln liefert die Kafka gewidmete aspekte-Folge vom 26.4.2024. Der vorliegende Text erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist das Ergebnis einer (mehr oder weniger) subjektiven Auslese.

[2] Die neueste Bestandsaufnahme von Kafkas internationaler Verbreitung stammt von Xaver von Cranach: »Der Kafka-Kult«, in: Der Spiegel 23 (2024).

[3] Vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn, München: C.H. Beck 2018.

[4] Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben, München: Hanser 42024.

[5] Michael Kumpfmüller: Die Herrlichkeit des Lebens, Frankfurt a.M.: Fischer 112024.

[6] Ebd., S. 124.

[7] Geoffroy de Lagasnerie: Kafka misstrauen. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Frankfurt a.M.: Fischer 2024.

[8] Ebd., S. 35.

[9] Ebd., S. 63.

[10] Ebd., S. 50.

[11] Ulrich Fischer: »alles … restlos und ungelesen verbrennen«. Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse, Göttingen: Wallstein 2024.

[12] Vgl. zum Datierungsproblem der beiden Texte Detlev Schöttker/Katja Schicht: »Zwei letzte Willen«, in: FAZ 125 (1.6.2024), S. 14; dazu wiederum die Kritik von Fischer: »alles … restlos und ungelesen verbrennen« (Anm. 11), S. 30.

[13] Fischer: »alles … restlos und ungelesen verbrennen« (Anm. 11), S. 92.

[14] Sebastian Guggolz (Hg.): Kafka gelesen. Eine Anthologie, Frankfurt a.M.: Fischer 2024; Thomas Lehr: Kafkas Schere. Zehn Etüden, Göttingen: Wallstein 2024.

[15] Vgl. A.L. Kennedy: »Metamorphosen«, in: Guggolz (Hg.): Kafka gelesen (Anm. 14), S. 196–206.

[16] Michael Kumpfmüller: »Hände weg von Kafka!«, in: Guggolz (Hg.): Kafka gelesen (Anm. 14), S. 70–77, hier S. 77.

[17] Franz Kafka: Der Process. Roman, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Reiner Stach, Göttingen: Wallstein 2024.

[18] Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M.: Fischer 2002; ders.: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Fischer 2008; ders.: Kafka. Die frühen Jahre, Frankfurt a.M.: Fischer 2014.

[19] Vgl. etwa Kafka: Der Process (Anm. 17), S. 338.

[20] Stach erläutert die Begriffe neben anderen zentralen Erzählstrategien wie der »Spiegelfunktion des Gerichts« oder dem »Traummotiv« in einem Glossar (vgl. ebd., S. 360–366).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Claude Haas: War da was? Bemerkungen zum Kafka-Jahr 2024, in: ZfL Blog, 8.10.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/10/08/claude-haas-war-da-was-bemerkungen-zum-kafka-jahr-2024/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20241008-01

Der Beitrag Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024 erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Olga Romanova: WATCHING SOVIET CINEMA TODAY: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/08/26/olga-ramanava-watching-soviet-cinema-today-the-woman-1932-by-yefim-dzigan-and-boris-shreyber/ Mon, 26 Aug 2024 09:32:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3345 For many years, I taught courses on Soviet culture and cinema to Belarusian students at the European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) in Minsk. Unfortunately, due to political repressions, the college had to close down in 2020. Throughout the years of Belarusian independence, remnants from the Soviet Union have permeated the everyday lives Weiterlesen

Der Beitrag Olga Romanova: WATCHING SOVIET CINEMA TODAY: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
For many years, I taught courses on Soviet culture and cinema to Belarusian students at the European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) in Minsk. Unfortunately, due to political repressions, the college had to close down in 2020. Throughout the years of Belarusian independence, remnants from the Soviet Union have permeated the everyday lives of its citizens as well as the country’s colloquial and political rhetoric, often thoroughly detached from their original cultural contexts, discourses, and imaginaries. But what can we learn from watching Soviet movies today?

The movies in question bear complex meaning pertaining to different Soviet eras and transition periods. Through an informed viewing, we not only perceive the official agenda—be it political, ideological, or cultural—but also traces of social and political tensions, metaphors, and “clues” on historical reality. Historicizing these movies and understanding their initial cultural and social context as part of a sociocultural analysis of film allows to uncover implicit, often unintentional meanings inherent to this cinematic heritage.

I.

My analysis here will focus on the social drama The Woman (Женщина), a late masterpiece of Soviet avant-garde cinema directed by Yefim Dzigan and Boris Shreyber. Artistically and stylistically, this widely forgotten silent movie provides one of the most vivid and interesting pre-War filmic representations of collectivization and village life on Belarusian territory. Produced by Belgoskino, the first Belarusian state-run film studio, and released throughout the Soviet Union in the summer of 1932 through an all-Union distribution, The Woman portrays the difficulties of establishing life on a collective farm.

The film’s narrative is told through the prism of women’s experiences. Its main protagonist Mashka dreams of becoming a tractor driver. All the female characters habitually suffer and submit to masculine oppression, humiliation, or jovial condescension. The master of the Machine and Tractor Station (MTS) refuses to train Mashka because he believes that a baba (pejorative for “country woman, broad”) is unable to comprehend the necessary technical and mechanical knowledge. Likewise, Mashka’s husband throws her mechanic’s handbook into the furnace, shouting at her: “A woman’s business is farming and childbirth!” With respect to the conflict between patriarchal attitudes and feminist ideas, the movie seems relevant even in the context of contemporary discourses. At the same time, however, it refers to ideas of early Soviet feminism—a feminism that was to come to an end four years later with the onset of the era of Stalinist traditionalism and the subsequent establishment of a specific form of Soviet patriarchy, resulting in both mandatory participation of women in “socialist building” and reproductive labor (for example, through the ban on abortion in 1936). While Mashka is expected to fulfil a secondary role due to her gender, male tractor drivers and mechanics defend their exclusive right to a privileged status that yields higher incomes than work on collective farms, greater mobility, and the possibility of actively partaking in building up communism. From a feminist perspective, this discriminatory attitude can be seen as a topical metaphor for the phenomenon of the invisible “glass ceiling” that women are still continuously up against.

Stylistically, The Woman references two famous montage films on the collectivization of the countryside in the late 1920s: Sergei Eisenstein’s Old and New / General Line (Старое и новое / Генеральная линия, 1929, Sovkino) and Alexander Dovzhenko’s The Earth (Земля, 1930, Kiev Film Factory VUFKU). Dovzhenko’s film was heavily attacked in the wake of the First Five-Year Plan 1928–1932, as avant-garde aesthetics came under growing pressure as part of an increasingly unified public cultural discourse. Central Moscow newspapers accused Dovzhenko of “myth-making,” “kulak philosophy,” and denounced the “biologism” (meaning the naturalism) present in certain scenes. The Woman was criticized for similar “ideological errors,” its excessive “naturalism,” and its promotion of a “cult of femininity and fertility.” However, since aesthetic norms and the cultural policy in this period were still relatively inconsistent, and due to the international reputation of Soviet avant-garde film, both movies were licensed to be distributed internationally. Back in 1930, The Earth had been a success with European moviegoers. The Woman was broadly distributed throughout the West. In the US, however, the Hays Code only allowed for a censored version to be shown that omitted all so-called “naturalistic shots.”

II.

Of course, a silent black and white movie made over 90 years ago challenges today’s viewers and their viewing habits. And yet, it is a worthwhile experience. Firstly, as a film that engages with everyday life, The Woman vividly depicts attitudes and peasant survival strategies during the early years of Stalin’s collectivization and the modernization of the village. Secondly, it demonstrates the strategies of ideology, the methods by which it reconstructs reality, and how, to a certain degree, these may be considered as universal. And, thirdly, the film can also be seen as a topical parable for female emancipation, revealing how patriarchal attitudes dominate everyday life on all levels and generally determine men’s behavior towards women, regardless of ideology or political rhetoric.

The strongly emotional scenes, in particular, still captivate today’s viewers through their representation of women’s pain, despair, and silent screams. A sequence depicting a “double ordeal” powerfully combines two events by editing them in a rhythmic parallel montage. One scene shows the chairwoman of the collective farm suffering from the demanding physical labor while the parallel scene shows Mashka undergoing a test at the MTS during which the male workers decide to play a joke on her by making her carry a red-hot bolt in her hand.

By intercutting a long shot of Mashka’s tense arm with shots of the hard-working woman (an example of Soviet montage technique), the directors convey a state of extreme pain. It is interesting to note how today’s young people perceive such a sequence. Among my students, two reactions dominated. Some of them associated the images shown with their personal movie experiences. For example, one of the students said the sequence reminded her of Stanley Kubrick’s A Clockwork Orange, specifically the scene when Alex, in a close-up, is forced to watch acts of violence while his eyes are forcibly pried open. Others reacted more emotionally, often ignoring all the ideological messaging. The receptive gap between perceptions of the audience of the early 1930s to whom the message is addressed and the young viewers of today is the starting point for my research questions and film analysis. First, we need to reconstruct the political, ideological, and social contexts and understand the film’s meanings and emotional messages. Regarding the “double ordeal” sequence described above, we need to ask: Why does Mashka endure the pain, and why is it presented as just as inevitable as childbirth? What is the ideological message that the directors attempt to convey here?

In the early 1930s, when the Soviet state commissioned a studio and selected a director to make a film about collective farm life, it had to offer solutions to certain ideological challenges. For instance, such a film had to legitimize the ideology and methods of collectivization while also providing an ideological response to the waves of peasant protests against forced collectivization sweeping the USSR in 1929/30. By the time The Woman was released, these protests were still ongoing in the Belarusian Soviet Socialist Republic. Furthermore, films had to support new campaigns of mechanization and women’s emancipation that was propagated under the slogan “Woman to the tractor!”

Not only does a sociocultural analysis reconstruct the cultural-political contexts of these filmic resolutions of real-life contradictions, but it also allows to uncover deeper layers of meaning. Even though The Woman is a silent movie, there is a lot of crying and screaming. The most furious, masterfully shot and edited altercation takes place at a well. At the well, peasant women habitually gather to collect water and share news. It is here that the wife of a kulak provokes a scandal. Instructed by her husband, she pits the peasant Ulyana, a poverty-stricken mother of many children, against Mashka. The women fight and yell, hysteria spreads among the other women who pour buckets of water over each other as they scream: “Beat her! She’s destroying women’s life!”

Fig. 14: Frames from “The Woman” (23.20–25.57, the scene at the well)

This outrage must be interpreted more broadly as a reflection of the conflict’s intensity in the villages which peaked at the beginning of Stalin’s collectivization. With the abolition of tsarist serfdom in the Russian Empire in 1861 in mind, many peasants saw collective farms as a second serfdom. They had to give their land back to the state and were generally suspicious of any modernization. However, the film attempts to conceal this reality that secret service workers of the OGPU (All-Union State Political Administration) spelled out in secret reports on the mood of the peasants. Furthermore, the scene had to channel hostility towards the ideologically correct object—the kulaks. This becomes obvious in the agitating, propagandistic finale of the movie in which an embittered kulak tries to annihilate the collective farm’s plentiful harvest.

The Woman not only manages to convey this official political message, it also inadvertently captures the tense atmosphere in an early 1930s Soviet village. Its visual language unwittingly translates gender and social conflicts that escalated following Stalin’s attempt to uncompromisingly reorganize traditional peasant life. The directors conceived the “double ordeal” sequence as a metaphor for the suffering and hardship that Soviet peasant women had to endure for the sake of the good new life on the collective farm. However, the associative montage generates additional meanings that the directors most likely did not intend to convey. The pain associated with breaking the traditional pattern is juxtaposed with the pain of childbirth and captured in images of trial and humiliation. Shots of the rich harvest and the satisfaction of the MTS director with the accomplished work reflect the position of the state. It is not the peasants, but the state that controls and enjoys the results of modernized peasant labor. It is therefore symptomatic that the result of the work is “accepted” by the MTS director which endows the film’s climax with patriarchal connotations on women’s emancipation. In addition to this poignant depiction and criticism of patriarchal society, which remains relevant to this day, the visual poetics of the film help uncover an aspect that is mostly silenced or even completely omitted in the contemporary appropriation and recoding of the Soviet past, including the mass violence during the forced collectivization: the trauma of collectivization.

III.

Furthermore, since this film engages with the first wave of Soviet feminism, it can also be seen as a parable on the nature of overt and covert resistance to women’s emancipation—a parable that, unfortunately, has not lost any of its relevance. This is especially true for contemporary authoritarian regimes that grew out of the former Soviet empire, where the elites increasingly implement patriarchal rhetoric to defend the interests of the “traditional family.” In 2020, for instance, the Belarusian president Lukashenko claimed that a woman cannot be president, because it is an impossible job for her. These regimes follow the model of Stalinist traditionalism which relied on paternalistic patterns while seeing people as a mere means for mobilization and as a reproductive resource.

The montage techniques that Dzigan and Shreyber used in The Woman reveal traces of a traumatic reality as well as the ideological construction behind the making of the film. The Woman can therefore be read as a testament to the trauma of collectivization, and the layers of restored meanings speak to the complexity of the cultural fabric that Soviet cinema both displayed and constructed—and that we now approach as a form of cultural heritage. It is of utmost importance to engage with such works both in research and in education, especially since the Soviet past is actively mythologized in official mass media, increasingly becoming a means of political manipulation—up to the rehabilitation of Stalin and “Stalin’s merits” in contemporary Russian and Belarusian propaganda.

This essay was written in the context of a fellowship from the Leibniz Research Alliance program “The Value of the Past.” Olga Romanava joined this program as a guest researcher at the Leibniz Centre for Literary and Cultural Research (ZfL) in Berlin in the fall of 2023. This essay is part of her research project “The Hidden Heritage of Soviet Belarusian Films of the 1920s–1980s. Rediscovering and Recontextualizing the Past through Film Material.”

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Olga Romanova: Watching Soviet Cinema Today: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber, in: ZfL Blog, 26.8.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/08/26/olga-ramanava-watching-soviet-cinema-today-the-woman-1932-by-yefim-dzigan-and-boris-shreyber/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240826-01

 

Der Beitrag Olga Romanova: WATCHING SOVIET CINEMA TODAY: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. DIE BERLINER BUCHHÄNDLERIN UND FEMME DE LETTRES FRANÇOISE FRENKEL https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/08/19/dirk-naguschewski-das-leben-erinnern-die-berliner-buchhaendlerin-und-femme-de-lettres-francoise-frenkel/ Mon, 19 Aug 2024 09:26:30 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3370 Im September 1945 erschien im Züricher Verlag J. H. Jeheber die auf Französisch verfasste Autobiographie von Françoise Frenkel (1889–1975), einer polnischen Jüdin, der es gelungen war, dem Nazi-Terror zu entkommen: Rien où poser sa tête (auf Deutsch: Nichts, um sein Haupt zu betten). Bis 1937 hatte Frenkel die einzige französische Buchhandlung in Berlin geführt. 1943 Weiterlesen

Der Beitrag Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. DIE BERLINER BUCHHÄNDLERIN UND FEMME DE LETTRES FRANÇOISE FRENKEL erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Im September 1945 erschien im Züricher Verlag J. H. Jeheber die auf Französisch verfasste Autobiographie von Françoise Frenkel (1889–1975), einer polnischen Jüdin, der es gelungen war, dem Nazi-Terror zu entkommen: Rien où poser sa tête (auf Deutsch: Nichts, um sein Haupt zu betten). Bis 1937 hatte Frenkel die einzige französische Buchhandlung in Berlin geführt. 1943 war sie mit etwas Glück illegal von Frankreich aus in die Schweiz gelangt, wo ein Neffe für ihren Unterhalt sorgte. All das lässt sich in ihrer schnörkellosen Lebensgeschichte nachlesen. Doch die Nachkriegsjahre waren nicht die Zeit, in der die Erinnerungen einer Überlebenden, in denen es nicht nur um Flucht und Vertreibung, sondern auch um die französische Kollaboration geht, große Resonanz erwarten durften. Scham und Schrecken wurden verdrängt und Rien où poser sa tête geriet schnell in Vergessenheit. In deutschen Bibliotheken findet sich heute nicht ein einziges Exemplar der Erstausgabe. Doch das Buch und seine Autorin wurden in den letzten Jahren wiederentdeckt und der jüngste Beleg dafür ist eine in Frankreich erschienene Biographie jener eigenwilligen Frau, die mit vollem Namen Frymeta Françoise Rolande Idesa Raichinstein-Frenkel hieß (Corine Defrance: Françoise Frenkel, portrait d’une inconnue, Paris: L’arbalète/Gallimard 2022).

***

Frenkels Wiederentdeckung begann 2015, als Gallimard, einer der großen französischen Publikumsverlage, eine Neuausgabe von Rien où poser sa tête mit einem Vorwort des damals frisch gekürten Nobelpreisträgers Patrick Modiano veröffentlichte. In kurzer Zeit erschienen daraufhin Übersetzungen in mehr als 15 Sprachen. Der Hanser Verlag veröffentlichte 2016 eine deutsche Fassung der renommierten Übersetzerin Elisabeth Edl.[1] Dass das Buch 60 Jahre nach seinem ersten Erscheinen diesseits und jenseits des Rheins ein solcher Erfolg wurde, dürfte sich vor allem einem grundlegend gewandelten Zeitgeist verdanken. Für Erzählungen von Überlebenden – seien sie fiktional oder autobiographisch geprägt – scheint es mit wachsendem Abstand zum Holocaust eine wachsende Leserschaft zu geben. Das Erinnern wird nicht mehr als lästige Zumutung wahrgenommen, sondern gehört zu den Selbstverpflichtungen aufgeklärter Gesellschaften, die davon überzeugt sind, dass die Erinnerung auch an die dunklen Seiten ihrer Geschichte für ihr Selbstbild unabdingbar ist.

Dass es sich bei Françoise Frenkel um eine außergewöhnliche Frau handelt, steht außer Frage. Geboren in dem kleinen Ort Piotrków, der damals zum Russischen Kaiserreich gehörte, entfloh sie dem Ostjudentum, mit dessen Rückständigkeit sie sich nicht identifizieren mochte, und ging 1908 erst nach Berlin, von dort nach Leipzig, wo sie die Hochschule für Frauen besuchte, schrieb sich dann in Paris an der Sorbonne ein und reichte dort 1921 eine Abschlussarbeit ein, Le Juif dans la société polonaise vu à travers les annales historiques polonaises (Das Judentum in der polnischen Gesellschaft im Spiegel historischer polnischer Annalen). Währenddessen veröffentlichte sie erste Erzählungen, die ebenfalls das Verhältnis von jüdischer und polnischer Identität beleuchteten. Danach zog es sie wieder nach Berlin, wo sie schließlich in der Passauer Straße, direkt neben dem KaDeWe, ihre Buchhandlung La Maison du Livre eröffnete, um in der deutschen Hauptstadt französische Bücher zu verkaufen. Ihre Klientel bestand überwiegend aus osteuropäischen Emigranten; im damals auch Charlottengrad genannten Charlottenburg lebten vorübergehend allein hunderttausende Russen und Russinnen. Für viele von ihnen besaß das Französische als Bildungssprache einen hohen Wert. Und sie konnten in Frenkels Buchhandlung teils hochdekorierte französische Autoren wie Colette, André Gide oder Roger Martin du Gard treffen, die die Stadt besuchten und für eine Lesung oder ein Publikumsgespräch bei ihr auftraten. Mehr und mehr strahlte das Geschäft auch auf das frankophone Bürgertum der Hauptstadt aus.[2]

Frenkel erzählt all dies in Rien où poser sa tête in chronologischer Ordnung, zumeist kurzen Absätzen und ohne große Ausschmückungen. Es dominiert ein Sinn für das Wesentliche. Nur hin und wieder streut sie launige Anekdoten ein, um die schwere Kost ein wenig leichter genießbar zu machen, etwa, wenn es um ihre spätere Flucht aus Frankreich in die Schweiz geht. Zwar wird das Buch gemeinhin als Autobiographie gehandelt, doch Frenkel schildert die Geschichte ihres Lebens nicht ohne Entstellungen. Die Namen von Weggefährten – wenn es sich nicht gerade um die illustren Gäste ihrer Buchhandlung handelt – werden zumeist durch Initialen abgekürzt. Von ihrem Ehemann Simon Raichinstein ist gar überhaupt nicht die Rede. Dergleichen Leerstellen in Frenkels einzigem zu Lebzeiten veröffentlichten Buch und die Jahre bis zu ihrem Tod hat die Historikerin Corine Defrance in Archiven in Frankreich, Deutschland, Polen und der Schweiz und mit Unterstützung noch lebender Nachfahren gründlich erforscht und dabei manche von Frenkels Eigenaussagen korrigieren können. Die daraus entstandene Biographie erlaubt ein umfassenderes Verständnis dieser historischen Person, die zwar ihre verschiedenen Identitäten bei Bedarf strategisch einzusetzen wusste, aber als Frau, Jüdin und Ausländerin ihr Leben lang mit Ausgrenzungserfahrungen zu kämpfen hatte.

***

Patrick Modiano, versiert in der literarischen Formgebung von Geschichte, waren die Eckdaten von Frenkels Leben beim Verfassen seines Vorwortes zur Neuausgabe von Rien où poser sa tête aus der bis dahin vorliegenden Forschung bekannt; sie werden von ihm auch wiedergegeben. Doch erklärt er in seinem Vorwort überraschenderweise die weitgehende Unbekanntheit Frenkels zu einer positiven Auszeichnung:

»Muss man wirklich mehr wissen? Ich glaube nicht. Was die Besonderheit von Nichts, um sein Haupt zu betten ausmacht, ist, dass man die Autorin nicht genau identifizieren kann.«[3]

Diese Strategie erlaubt es ihm, das Buch in die Nähe eines anderen Bestsellers zu rücken, und zwar Eine Frau in Berlin. In diesem erstmals 1954 anonym auf Englisch veröffentlichten Bericht thematisiert eine namenlos bleibende Frau ihre Vergewaltigung durch Rotarmisten in den letzten Tagen des Krieges. Doch weder die Erstausgabe noch die fünf Jahre später auf Deutsch erschienene Übersetzung waren auf nennenswerte Resonanz gestoßen. In Frankreich erschien der Titel erstmals 2006 in der Reihe Témoins (Zeugen) bei Gallimard – dem Verlag, bei dem später auch Frenkels Buch erscheinen sollte – und wurde dadurch zu einem kommerziellen Erfolg. Den mittlerweile bekannten Namen der Autorin, Marta Hillers, unterschlägt Modiano und bezeichnet das Buch weiterhin als »Zeugnis einer Anonyma«,[4] als würde die Namenlosigkeit den Wert des Zeugnisses stärken. Diesen Umgang überträgt er auf Frenkel: »Ich möchte das Gesicht von Françoise Frenkel lieber nicht kennen, noch die Wechselfälle ihres Lebens nach dem Krieg oder ihr Sterbedatum.«[5]

Dieses dann doch leicht herablassend wirkende Nichtwissenwollen wird von Defrance erfolgreich gekontert: Ihr »portrait d’une inconnue« (Porträt einer Unbekannten) gibt Frenkel ein Gesicht und ihre Geschichte zurück. Das Cover der Biographie zeigt die eindrucksvolle Porträtaufnahme einer älteren Frau, deren halblanges Haar von einer Spange zurückgehalten wird und deren enganliegenden Kragen eine Agraffe ziert. Sie wirkt dadurch etwas zugeknöpft, ihr Blick unnahbar, dabei aber keineswegs abweisend. Es ist nahezu unmöglich zu entscheiden, ob sie milde lächelt oder doch eher skeptisch dreinblickt. Doch jenseits dieses Interpretationsspielraums ist dies das Bild einer Frau, die gelebt hat und sich selbst als Subjekt ihrer Geschichte verstand, deren einmalige Existenz auch ikonographisch zu belegen ist – und damit das Gegenteil von dem zu sehen gibt, was Modiano so an der Autorin hervorhebt.

***

Defrance zufolge war es Frenkels Ziel, als femme de lettres zu reüssieren, die Buchhandlung war dabei eher Mittel zum Zweck. Nachdem die Geschäfte schon seit Beginn der 1930er Jahre in dem sich verändernden gesellschaftlichen Klima immer schlechter liefen, musste sie La Maison du Livre 1937 endgültig aufgeben. Im letzten Moment gelang ihr 1939 die Ausreise nach Paris. Nachdem sie als ausländische Jüdin auch in Frankreich nicht mehr sicher war, gelang ihr schließlich die Flucht in die sichere Schweiz. Dort schrieb sie Rien où poser sa tête; als Autorinnennamen wählte sie das französisch klingende »Françoise Frenkel« (ihre Erzählungen waren zuvor unter dem Namen »Fanny Frenkel« erschienen). Nach dem Krieg ließ sie sich in Nizza nieder, wo sie nach einigen vergeblichen Versuchen 1950 endlich die französische Staatsbürgerschaft erhielt. Ihre Karriere als Schriftstellerin nahm indessen keinen glücklichen Verlauf. Ihr Autobiographie fand kaum mehr neue Leser oder Leserinnen, das Nachfolgeprojekt Pour avoir survécu (Dafür, überlebt zu haben) gleich gar keinen Verleger. Weitere Projekte blieben unvollendet.

En passant rekonstruiert Defrance das schriftstellerische Œuvre Frenkels, ihr ist es sogar gelungen, einige der verschollen geglaubten Schriften wie die Pariser Abschlussarbeit und eine bis dato unbekannte deutsche Fassung von Rien où poser sa tête wiederzufinden. Das einzige Versäumnis dieser ansonsten überzeugenden Biographie mag darin bestehen, keine Bibliographie von Frenkels Schriften zu enthalten. Eine solche hätte dem Porträt der femme de lettres noch mehr Kontur verliehen.

***

Einige zuvor unveröffentlichte und wiedergefundene Texte Frenkels sind parallel zur Biographie ebenfalls bei Gallimard erschienen, in einer allerdings etwas unentschlossen wirkenden Sammlung (Françoise Frenkel: Zone de la douleur. Inédits et textes retrouvés, Paris: L’arbalète/Gallimard 2022). Das beginnt damit, dass die Herausgeberschaft nicht namentlich ausgewiesen wird. Dass auf eine chronologische Anordnung verzichtet und nach Textgenre sortiert wurde, mag angesichts der Tatsache, dass die nachgelassenen Texte offenbar nicht datiert sind, verständlich sein. Gleichwohl wären präzisere bibliographische Angaben möglich gewesen. Einen Teil der hier versammelten Texte hat Frenkel übrigens auf Deutsch verfasst (in ihren Berliner Jahren, wird man vermuten dürfen). Aber dass wir es mit einer Autorin zu tun haben, die in gleich zwei Sprachen schrieb, die nicht ihre Muttersprachen waren, wird unverständlicherweise nicht weiter kommentiert.

Von besonderem Interesse dürften neben Frenkels Beobachtungen zum traditionellen Ostjudentum jene Texte sein (manche kaum mehr als kurze Skizzen), die sich autobiographisch lesen lassen. Defrance hat dies im Kontext ihrer Biographie mit aller gebotenen Vorsicht und deshalb mit Gewinn getan. Doch einige der stärker literarischen Texte belegen auch Frenkels schriftstellerische Qualitäten. Le livre de Dostoïevski, der längste des Bandes, erzählt im Stil einer Mérimée’schen Novelle die platonische Liebe einer älteren Französin zu einem jungen Russen, dessen Spur sich im Ersten Weltkrieg verliert.

Es ist zu hoffen, dass eines Tages eine Gesamtausgabe erscheinen wird, die alle Schriften Françoise Frenkels – editionsphilologisch sauber aufbereitet – enthält. Eine ›große‹ Autorin wird dort nicht zu entdecken sein. Doch sie könnte die von Defrance nachgezeichnete transnationale Geschichte einer jüdischen Frau, die im Osten Polens geboren wurde, ihre intellektuelle Sozialisation durch die französische Kultur und Literatur erfahren und die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts überlebt hat, um eine entscheidende Dimension ergänzen. Auch dürfte es interessant sein zu sehen, wie sich die Selbstübersetzung von Rien où poser sa tête darstellt.

Frenkels Lebensgeschichte mag nur eine von vielen sein, aber der biographische Zugriff auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts vermag es nicht nur, Geschichte anschaulich zu machen, sondern speziell die weibliche Perspektive einzuholen, die in der historischen Darstellung nach wie vor häufig zu kurz kommt. Es ist ein Glücksfall, dass Corine Defrance sich Modianos Einschätzungen nicht zu eigen gemacht hat.

Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Dirk Naguschewski ist am ZfL zuständig für Wissenstransfer und Kommunikation und der Redaktionsleiter des ZfL Blog.

[1] Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten, mit einem Vorwort von Patrick Modiano. Dossier von Frédéric Maria, übers. von Elisabeth Edl, München 2016.

[2] Das Buch enthält eine sehenswerte Aufnahme der Buchhandlung, die Defrance in der Entschädigungsakte im Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten gefunden hat und auf der sogar einzelne zum Verkauf angebotene Titel zu erkennen sind. 1953 beginnt Frenkel, Anträge auf Entschädigung bei den deutschen Behörden einzureichen. Bis 1967 erhält sie Reparationszahlungen in Höhe von insgesamt 15.386 DM.

[3] Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten (Anm. 1), S. 7.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 8.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. Die Berliner Buchhändlerin und femme de lettres Françoise Frenkel, in: ZfL Blog, 19.8.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/08/19/dirk-naguschewski-das-leben-erinnern-die-berliner-buchhaendlerin-und-femme-de-lettres-francoise-frenkel/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240819-01

 

Der Beitrag Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. DIE BERLINER BUCHHÄNDLERIN UND FEMME DE LETTRES FRANÇOISE FRENKEL erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/08/13/katja-schicht-alexander-von-humboldt-ein-pionier-der-klimaforschung/ Tue, 13 Aug 2024 12:38:01 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3356 Alexander von Humboldt war der Erste, der jahrelang systematisch Messwerte aus verschiedenen Regionen der Erde sammelte, bearbeitete, miteinander verglich und auswertete. Er konnte dadurch das Klima statistisch bestimmen und in seinem Lebenswerk Kosmos, dessen fünf Bände ab 1845 erschienen, eine umfassende Klimadefinition vorstellen. Bereits 1844 hatte er in seiner Abhandlung zu den Gebirgsketten in Zentralasien Weiterlesen

Der Beitrag Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Alexander von Humboldt war der Erste, der jahrelang systematisch Messwerte aus verschiedenen Regionen der Erde sammelte, bearbeitete, miteinander verglich und auswertete. Er konnte dadurch das Klima statistisch bestimmen und in seinem Lebenswerk Kosmos, dessen fünf Bände ab 1845 erschienen, eine umfassende Klimadefinition vorstellen. Bereits 1844 hatte er in seiner Abhandlung zu den Gebirgsketten in Zentralasien festgestellt, dass der Mensch das Klima »durch das Fällen der Wälder, durch die Veränderung der Vertheilung der Gewässer und durch die Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der Industrie«[1] beeinflusse. Ein Jahr später wies er im ersten Band des Kosmos erneut auf die »Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen«[2] hin. Mit seinen Beschreibungen des Klimas in den von ihm bereisten Regionen, seiner bereits 1817 erschienenen Abhandlung über die Isothermen und der von ihm konstruierten Jahresisothermenkarte gilt er als Begründer der modernen vergleichenden Klimatologie.[3] Dabei hat Humboldt nie eine meteorologische oder klimatologische Ausbildung genossen, sondern war auf dem Gebiet ein Autodidakt. So gibt es auch keine monografische Gesamtdarstellung zum Klima von ihm;[4] statt dessen publizierte er seine Erkenntnisse in Zeitschriften und Zeitungen oder einzelnen Buchkapiteln.

Thomas Nehrlich und Michael Strobl haben nun erstmals zwanzig für die Wirkungsgeschichte Humboldts relevante Fassungen seiner zahlreichen klimatologischen und meteorologischen Publikationen aus den Jahren 1795 bis 1847 in deutscher Sprache[5] in einem Band zusammengestellt (Thomas Nehrlich/Michael Strobl (Hg.): Alexander von Humboldt: Ueber die Hauptursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper. Schriften zum Klima, mit einem Geleitwort von Stefan Brönnimann und Martin Claussen, Hannover: Wehrhahn 2023). Mit ihrer Edition wollen die Herausgeber u.a. klären, was »Humboldt bereits über die Physik und Chemie der Atmosphäre und das Klima« wusste und »wie aktuell […] Humboldts Gedanken und Forschungsansatz heute« (9f.) sind. Der Band solle jedoch »keine umfassende wissenschaftshistorische Würdigung« sein, wie es im Geleitwort heißt, sondern »lediglich auf Humboldts zahlreiche, auch für die moderne Klimawissenschaft nach wie vor erkenntnisreiche Abhandlungen aufmerksam machen« (26). Alle klimatologischen und meteorologischen Forschungsleistungen und Erkenntnisse von Humboldt in einem Band zusammenzutragen, ist denn auch das primäre Verdienst dieser Ausgabe.

***

Die bisherigen Überblicksdarstellungen der Humboldt-Forschung beschränkten sich vor allem auf Humboldts isotherme Linien und seine Jahresisothermenkarte, seinen Beitrag zur Errichtung des Preußischen Meteorologischen Instituts in Berlin im Jahr 1847 (die erste eigenständig arbeitende meteorologische Einrichtung in Deutschland) oder den Vergleich seines Klimabegriffs mit zeitgenössischen Darstellungen.[6] Demgegenüber dokumentiert diese Ausgabe erstmals die Anfänge der modernen Klimatologie in einem wissenschaftshistorisch verlässlichen Verzeichnis.

Entlang der ausgewählten Texte werden im Geleitwort Humboldts Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Klimatologie und Meteorologie gewürdigt: Das betrifft die »Beschaffenheit des Luftkreises« (10–11), »Vertikale Veränderungen der Atmosphäre« (13–14), »Pflanzengeographie« (14–15), »Physik der Erde« (16–17), »All- und tiefbewegte Strömungen« (17–20), »Verschiedenheit der Klimate« (20–21) und »Atmosphärische Erscheinungen« (23–25). Dass es in der Humboldt-Forschung der letzten Jahre bedauerlicherweise nur wenige neuere Untersuchungen zu seinen Klimastudien gibt, verdeutlicht eine kurze Übersicht mit Quellen zur »Aktualität von Humboldts Klimaforschung« (27–28).

Den Hauptteil des Bandes bildet die Edition von Humboldts klimatologischen und meteorologischen Schriften. Basierend auf den Sämtlichen Schriften der Berner Ausgabe, die den Anspruch erhebt, das gesamte publizistische Werk veröffentlicht zu haben,[7] wurden die zwanzig von den Herausgebern ausgewählten Texte »erneut textkritisch durchgesehen« (446) und originalgetreu ediert. Orthografie und Interpunktion entsprechen dabei den historischen Originalbeiträgen, ein Emendationsverzeichnis ergänzt die Auswahl. Im Quellenverzeichnis wird zur Konkordanz mit der Berner Ausgabe die entsprechende Nummer des Textes aufgeführt, unter der Humboldts Beiträge dort zu finden sind. Darüber hinaus führt es zeitgenössische Separatdrucke und postume Veröffentlichungen an, soweit sie den Herausgebern bekannt sind, und demonstriert dadurch auf beeindruckende Weise die »komplexen Abhängigkeitsverhältnisse von Erstdruck, Nachdrucken, Übersetzungen und Humboldts Buchwerken« (448). Nicht zuletzt belegt es die hohe internationale Verbreitung einiger klimatologischer Schriften Humboldts.

***

Der Band endet mit einem Nachwort von Michael Strobl über Humboldts Klimaforschung (391–433).[8] Ein weiteres Mal stellt er anhand der ausgewählten Texte Humboldts Forschungsschwerpunkte ausführlich dar und analysiert ergänzend dazu Humboldts bedeutende »Buchwerke«, in denen dessen »innovative Beiträge zur Klima-Forschung« zu finden sind (415). Strobl betont, dass Humboldt zwar einer der Ersten gewesen sei, der »menschliche Eingriffe in Ökosysteme, insbesondere Entwaldungen, grundsätzlich als kritisch und gefährlich einstuft«, er habe aber keinen globalen anthropogenen Klimawandel vorausgesehen (422).

Ob Humboldt der erste Forscher war, der den Einfluss des Menschen bzw. menschlichen Handelns auf das Klima erkannt habe, ist bis heute umstritten. Sicher ist, dass er mit seinen statistischen klimatologischen Bestimmungen als Vordenker unseres heutigen Klimaverständnisses zu betrachten ist. Im Zentrum seines Denkens stand die Wechselwirkung zwischen Klima, Mensch und Umwelt. Demgegenüber sei die heutige Klimadefinition, so Strobl, »geophysikalisch deutlich enger gefasst« (423). Entgegen der bisherigen Annahme, dass Humboldt seinen Klimabegriff erstmalig 1831 in seinen Fragmens de géologie et de climatologie asiatiques[9] formulierte, diesen dann 1843 in unverändertem Wortlaut in Asie centrale[10] und nur leicht verändert 1845 im ersten Band des Kosmos publizierte, argumentiert Strobl weiter, dass Humboldts Klimadefinition »eine längere Entwicklungsgeschichte durchlaufen [habe] als gemeinhin in der Forschung bekannt (oder nachgewiesen)« (425). Die im Band edierten klimatologischen und meteorologischen Texte zeigen demnach erstmals auf, dass Humboldts Definition »nicht der singuläre Wurf des späten Kosmos ist, sondern über einen langen Zeitraum in steter Beschäftigung mit vielen Einzelfragen entstanden ist« (425). Die vorgelegte textkritische Edition könnte also der Diskussion um Humboldts Stellung als Vordenker eines globalen, vom Menschen verursachten Klimawandels durchaus neue Impulse geben.

Als letztes bedeutendes »Buchwerk« führt Strobl Humboldts Kleinere Schriften (1853) an, in die dieser drei klimatologische Schriften aufnahm, »von denen [er] glaube [sich] schmeicheln zu dürfen, daß sie von ›Fachgelehrten‹ noch jetzt einiger Aufmerksamkeit gewürdigt werden, indem sie, von Anderen erweitert durch eine glücklichere Entwickelung der Ideen an Fruchtbarkeit gewonnen haben«.[11] Zu diesen Texten gehören u.a. die Abhandlung über die Zusammensetzung der Atmosphäre und seine frühe Isothermenabhandlung.[12] Ein zweiter Band der Kleineren Schriften konnte von Humboldt nicht mehr fertiggestellt werden. Strobl weist aber darauf hin, dass sich im Briefwechsel mit seinem Verleger Johann Friedrich Cotta entsprechende Editionspläne finden. Diese werden heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt (427). In der Biblioteka Jagiellońska in Kraków, wohin Bestände der Staatsbibliothek während des Zweiten Weltkriegs ausgelagert worden waren, liegen Druckfahnen der Aufsätze »Ueber die Haupt-Ursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper« (1827) und »Ueber die Meeresströmungen im allgemeinen« (1837), die für diesen zweiten Band vorgesehen waren. Zusammen mit dem Artikel »Von der in verschiedenen Theilen der heißen Zone am Spiegel des Meeres Statt findenden Temperatur« wurden sie nun in dem vorliegenden Band aufgenommen.[13]

Strobl gibt im Nachwort auch einen kurzen Überblick über die wissenschaftliche Beschäftigung mit Humboldts Klima-Schriften. Er schlägt dafür den Bogen von der Forschung der Akademie der Wissenschaften der DDR, in der Humboldts naturwissenschaftliche Beiträge ausführlich beleuchtet wurden, über die Naturschutzbewegung der 1990er Jahre, die Humboldt als ökologischen Denker avant la lettre sah, bis hin zu gegenwärtigen Forschungsprojekten wie denen von Philipp Lehmann am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und von Birgit Schneider an der Universität Potsdam. Auch die Kunst des späten 18. und 19. Jahrhunderts habe auf »klimatologische zeitgenössische Forschung oder Phänomene« reagiert (431).

Mit dem Hinweis auf Humboldts Einführung der »Klimadatenvisualisierung mittels isothermer Linien« – heute noch eine gängige Methode in der Klimageografie – und der bis heute gültigen Klimadefinition, die alles Leben und alle Ökosysteme einbezieht und darauf hinweist, dass der »Mensch Teil des Systems und Teil der Prozesse ist« (433), schließt Strobl sein Nachwort und stellt am Ende zu Recht fest, dass »Humboldts Klimatologie als umfassende ökologische Wissenschaft heute wieder aus vielen Perspektiven und für viele Disziplinen anschlussfähig ist« (433).

***

Die Gestaltung des Bandes von Nehrlich und Strobl ist zweifelsohne ansprechend: Das Buchcover ziert ein französisches Marmorpapier in hellblau und hellgrün, der vordere und hintere Vorsatz zeigt jeweils eine bedeutende klimatologische Grafik Humboldts, ein rotes Lesebändchen unterstreicht die Gediegenheit. Nicht nur die Humboldt-Forschung, auch Klimaforscher*innen oder Klima-Interessierte werden den Band gern in die Hand nehmen, auch wenn keine neueren Forschungsergebnisse präsentiert werden. Formal aber schwächelt er mitunter. So finden sich im Geleit- und Nachwort einige vermeidbare Rechtschreibfehler, die Überschriften der Texte im Emendationsverzeichnis wurden zudem fehlerhaft formatiert. Eine Überprüfung der Seitenangaben im Quellenverzeichnis hat ergeben, dass die Angaben im Text 19 und 20 nicht mit ihrer jeweiligen Entsprechung im ersten Band des Kosmos (1845) übereinstimmen. Es ist nicht erkennbar, welche Ausgabe für den Nachweis genutzt wurde.

Dennoch ist der Band eine lesenswerte Auskoppelung von Humboldts Sämtlichen Schriften der Berner Ausgabe. Deutlich kann damit gezeigt werden, wie sich Humboldts klimatologische und meteorologische Schriften über ein halbes Jahrhundert erstrecken und zur Formulierung seines Klimabegriffs beigetragen haben.

Die Editionswissenschaftlerin Katja Schicht arbeitet im ZfL-Projekt »Kommentierte Edition des Briefwechsels zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger (1908–1977)«. Ihre Dissertation »Alexander von Humboldts Klimatologie in der Zirkulation von Wissen. Historisch-kritische Edition der Berliner Briefe (1830–1859) und ihre Kontexte« erschien 2023.

[1] Alexander von Humboldt: Central-Asien. Untersuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie, aus dem Französischen übersetzt und durch Zusätze vermehrt, hg. von Wilhelm Mahlmann, Bd. 2, T. 3, Berlin: Klemann 1844, S. 214.

[2] Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 1., Stuttgart/Tübingen: Cotta 1845, S. 340.

[3] Vgl. Karl-Heinz Bernhardt: »Alexander von Humboldts Beitrag zur Entwicklung und Institutionalisierung von Meteorologie und Klimatologie im 19. Jahrhundert«, in: Alexander von Humboldt in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaften. Beiträge zu einem Symposium, hg. von Jürgen Hamel, Eberhard Knobloch und Herbert Pieper, Augsburg: Rauner 2002, S. 204.

[4] Nach Heinrich Wilhelm Dove war die meteorologische Gesamtdarstellung für den fünften Band des Kosmos vorgesehen. Humboldt verstarb aber vor der Veröffentlichung des Bandes, sein Sekretär Karl Eduard Buschmann vollendete den Band durch Hinzufügen eines Nachwortes und eines umfangreichen Registers.

[5] Humboldts Schriften zum Klima sind auf Deutsch oder auf Französisch erschienen. Die Texte 18, The Temperature of Rain-Drops, und 19, On Climates Suitable for the Production of Wine, wurden in unselbstständiger Form nur auf Englisch publiziert. Die beiden deutschen Fassungen wurden dem Kosmos entnommen.

[6] Vgl. u.a. Karl-Heinz Bernhardt: »Alexander von Humboldts Auffassung vom Klima und seine Rolle bei der Gründung des Preußischen Meteorologischen Institutes«, in: Alexander-von-Humboldt-Ehrung in der DDR. Festakt und Wissenschaftliche Konferenz aus Anlaß des 125. Todestages Alexander von Humboldts. 3. und 4. Mai 1984 in Berlin, bearbeitet von Dr. Heinz Heikenroth und Dr. Inga Deters, Berlin: Akademie-Verlag 1986, S. 83–91; Karl Schneider-Carius: »Alexander von Humboldt in seinen Beziehungen zur Meteorologie und Klimatologie«, in: Johannes F. Gellert (Hg.): Alexander von Humboldt. Vorträge und Aufsätze anlässlich der 100. Wiederkehr seines Todestages am 6. Mai 1859, Berlin 1960, S. 17–24; Josef Staszewski: »Alexander von Humboldts Gedanke der isothermen Linien. Beitrag zum Alexander-von-Humboldt-Jahr 1959«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe VIII.4/5 (1958/1959), S. 509–517; Hans-Günther Körber: »Bemerkungen über die Erstveröffentlichung der schematischen Jahresisothermenkarte Alexander von Humboldts«, in: Forschungen und Fortschritte 33.12 (1959), S. 355–358.

[7] Alexander von Humboldt: Sämtliche Schriften. Berner Ausgabe, hg. von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, 10 Bde., München: dtv 2019, und www.humboldt.unibe.ch/text.

[8] Das Nachwort ist zuerst als »Transversalkommentar ›Umwelt und Klima‹« im Band X der Berner Ausgabe erschienen und wurde für den vorliegenden Band überarbeitet und aktualisiert, wie die erste Fußnote im Nachwort informiert.

[9] Alexander von Humboldt: Fragmens de géologie et de climatologie asiatiques, T. 2, Paris: Gide 1831, S. 404.

[10] Alexander von Humboldt: Asie centrale: Recherches sur les chaines de montagnes et la climatologie, T. 3, Paris: Gide 1843, S. 107–108. Im Jahr 1844 übersetzte der Meteorologe Wilhelm Mahlmann den Titel Asie centrale ins Deutsche, vgl. Humboldt: Central-Asien (Anm. 1), S. 76.

[11] Alexander von Humboldt: Kleinere Schriften. Geognostische und physikalische Erinnerungen. Mit einem Atlas, enthaltend Umrisse von Vulkanen aus den Cordilleren von Quito und Mexico, Bd. 1, Stuttgart/Tübingen: Cotta 1853, S. 1.

[12] Alexander von Humboldt: »Untersuchungen über die eudiometrischen Mittel über das Verhältniß der wesentlichen Bestandtheile der Atmosphäre von A. v. Humboldt und J. L. Gay-Lussac«, in: ders.: Kleinere Schriften (Anm. 11), S. 315–370; ders.: »Ueber die isothermen Linien«, in: ebd., S. 206–314.

[13] In der Berner Ausgabe finden sich die Aufsätze verstreut in Band IV und V.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Katja Schicht: Alexander von Humboldt, ein Pionier der Klimaforschung, in: ZfL Blog, 13.8.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/08/13/katja-schicht-alexander-von-humboldt-ein-pionier-der-klimaforschung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/202400813-01

 

Der Beitrag Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/ Fri, 12 Jul 2024 08:03:38 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3328 Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. ›Glas‹) Weiterlesen

Der Beitrag Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3]

Bevor die letzten Folgen überhaupt ausgestrahlt worden waren, gab es auf Ehrenwort eines Kerls bereits in beiden Ländern ein breites Medienecho,[4] wobei die Kritiken kontrovers ausfielen und von enthusiastischer Begeisterung bis zu hellem Entsetzen und kategorischer Ablehnung reichten. In der Ukraine kreiste die Diskussion vor allem um die Frage, ob die Fernsehserie allein schon deshalb gefährliche Kriegspropaganda sei, weil sie aus dem Feindesland kommt. In Russland erregte die vermeintliche Romantisierung der Verbrecherwelt Anstoß. Manche Kritiker deuteten die Serie aber auch als subversiven Zerrspiegel der militärischen Aggression. Was war das aber für ein populärkulturelles Werk, das für so viel Aufmerksamkeit und Aufregung sorgte?

1.

Ehrenwort eines Kerls spielt im Jahr 1989 in Kasan, der Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepublik Tatarstan, fast 800 Kilometer östlich von Moskau. Der erste sozialistische Staat der Welt befindet sich im Zusammenbruch, und während die staatlichen Behörden zunehmend an Autorität und Macht verlieren, übernehmen Jugendgangs die Herrschaft über die Straße. Die tatarische Hauptstadt gelangte damals unionsweit zu Berühmtheit als einer der gefährlichsten Orte des Landes, wo kriminelle Gruppierungen mit großer Brutalität Schutzgeld erpressten und ihre Einflusssphären verteidigten, was immer wieder zu Todesfällen führte. In dieser Umgebung zeichnet die Serie das tragische Schicksal zweier ca. 14-jähriger Jungen nach, die sich in der Zeit von Glasnost und Perestroika einer dieser Gruppen anschließen. Marat und Andrej unterwerfen sich rigiden Ehrencodes, geraten immer tiefer in den Strudel der Gewalt und landen am Ende in einem Gefängnis für Jugendliche.

Einhellig lobte die Kritik den Realismus der Darstellung des damals so genannten »Kasaner Phänomens« und sah darin einen wesentlichen Schlüssel zum Erfolg der Produktion.[5] Die »dramatische Serie« sei ausgezeichnet gemacht, versuche die wahre Natur der Jugendbanden zu verstehen[6] und biete eine »glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche«.[7] Dieser »Schwanengesang auf den sowjetischen Kollektivismus«,[8] der an Martin Scorseses Gangs of New York (2002) erinnere,[9] sei zugleich »die (freudige und verhängnisvolle) Anerkennung der Macht und Autorität« des Stärkeren über die Schwächeren, weswegen die Serie »von Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Ansichten« gemocht werde.[10] Doch gerade die offen dargestellte Gewalttätigkeit der Jungen gab auch Anlass für Bedenken: die Jüngeren seien fasziniert von der »Exotik«, während Ältere »Nostalgie« überkomme, was vor allem durch die »Romantisierung des Banditentums« hervorgerufen werde.[11]

In Russland stieß die Serie deswegen anfangs gerade von politischer Seite auf teils scharfe Ablehnung.[12] Die Ombudsperson für Kinder in Tatarstan forderte ein vollständiges Verbot, da hier eine »falsche Vorstellung der kriminellen Welt« vermittelt und die »psychische und sittliche Gesundheit der Jugend« gefährdet werde.[13] Auch Duma-Abgeordnete warnten und riefen zur Zensur auf.[14] Aber nachdem Prominente wie der Kinoregisseur Nikita Michalkow und sogar Priester sich positiv über Ehrenwort eines Kerls geäußert hatten,[15] erhielt das Werk in Russland inzwischen eine Vielzahl an Auszeichnungen, darunter einige der renommiertesten Preise für Fernsehserien.[16]

Auf ukrainischer Seite dagegen wurde die Verbotsforderung vor allem mit der Herkunft der Serie begründet und ein angeblicher fundamentaler zivilisatorischer Unterschied zwischen beiden Ländern hervorgehoben. So argumentierte das Ministerium für Kultur und Informationspolitik, die Serie propagiere »Gewalt, Verbrechen und die Ästhetik des Aggressorlandes sowie feindselige Propaganda, was in der Ukraine während des Krieges inakzeptabel ist«.[17] Manche fanden die Serie gar gefährlicher als den russischen Angriffskrieg selbst, wecke sie doch unter den Teenagern Sympathien für ein Land, das »uns alle umbringt«.[18] Der ukrainische Schriftsteller und Drehbuchautor Andrij Kokotjucha kritisierte, dass darin der Ukraine unliebsame Werte vermittelt würden:

»Russische Vorstellungen unterscheiden sich von denen der zivilisierten Welt dadurch, dass sie Gewalt akzeptieren und sie direkt oder indirekt kultivieren […]: Nicht die Diebe sind schlecht, sondern das Leben, das ihnen keine Wahl ließ. Deshalb sollten wir die Verbrecher bemitleiden. Westliche Krimis, vor allem für ein junges Publikum, warnen indes immer wieder davor, dass der Weg des Verbrechens ein Weg ins Nichts ist. Mitglieder von Jugendbanden enden böse und verlieren alles. […] Die westliche Kultur bietet einen ganz anderen Ehrenkodex als die russische Kultur.«[19]

Diese dem ›zivilisierten‹ Westen entgegengestellte, angeblich spezifisch russische Gewaltkultur hebt auch die in New York lehrende Politikwissenschaftlerin Nina Khrushcheva, Urenkelin des sowjetischen Parteisekretärs Nikita Chruschtschow, hervor. Sie sah in der Serie gar eine Vorbereitung zu einem »permanenten Krieg«:

»In dem russischen Kriminaldrama [führt] eine aggressive und chaotische Politik zu Aggression und Chaos auf den Straßen. Wenn die Führung erklärt, dass sich überall Feinde verstecken, oder dass die beste Verteidigung darin besteht, zuerst zuzuschlagen, dann nehmen Paranoia, Intoleranz und Aggression zu. Und so ist es nicht verwunderlich, dass vor dem Hintergrund des von Putin angezettelten Krieges gegen die Ukraine russische Kinder ihre Klassenkameraden schikanieren, Jugendliche Passanten angreifen und dies auf Video festhalten und Erwachsene auf öffentlichen Plätzen Massenschlägereien anzetteln.«[20]

Aber haben diejenigen, die so nachdrücklich die Schädlichkeit der Serie hervorhoben und teils vehement ihr Verbot forderten, die Serie wirklich gesehen?[21] Müsste man ihnen nicht vielmehr entgegnen, dass alles, was sie als gefährliche Folge der Popularität der Serie beschwören, in dieser bereits Gegenstand der Kritik und Reflexion ist?

2.

Die Serie ist ein Werk des Regisseurs Shora Kryshownikow, der zusammen mit Andrej Solotarjow auch das Drehbuch geschrieben hat. Kryshownikow hat als Theaterregisseur und Kurzfilmer begonnen, ehe er im letzten Jahrzehnt vor allem mit Komödien teils äußerst erfolgreich war, die weder Kitsch noch Exzentrik scheuen und meist unverhohlen die neue russische Mittelklasse und das Showbusiness ins Visier nehmen. Dabei steckt hinter dem satirisch-ironischen Zugriff oft ein ernstes sozialpolitisches Anliegen. Die mehrfach preisgekrönte Fernsehserie Rufen Sie DiCaprio an! (Zwonite DiKaprio!, 2018) beispielsweise stellt die ansonsten im Staatsfernsehen kaum thematisierte Verbreitung von HIV-Infektionen unter gut situierten heterosexuellen Erwachsenen ins Zentrum und nimmt zugleich die allgemeine Homophobie und das verlogene patriotische Pathos der russischen Medienbranche aufs Korn.

Satirische Elemente sind in der neuen Serie kaum vorhanden, stattdessen dominiert die von der Kritik so sehr gefeierte realistische Darstellung. Grundlage ist das Sachbuch Ehrenwort eines Kerls. Das kriminelle Tatarstan der 1970er bis 2000er Jahre (2021) des Journalisten Robert Garaev, der 1989 als 14-Jähriger selbst Mitglied einer Straßengang in Kasan wurde und an der Serienproduktion als Berater beteiligt war. Sein Buch basiert auf umfangreichen Interviews mit ehemaligen Mitgliedern und Beteiligten und gliedert die gesammelten Aussagen systematisch nach Themenbereichen, denen kurze Einführungen vorangestellt sind. Das Buch habe, schreibt Garaev im Epilog, ein »psychotherapeutisches« Ziel, es solle die unzähligen traumatisierten »Kerle und ihre Opfer« zum Sprechen bringen und so zum Verständnis des »Kasaner Phänomens« beitragen. Denn nur durch eine »Desakralisierung« des Banditentums ließe sich verhindern, dass dessen falsche Ehrvorstellungen und der damalige »Verfall der moralischen Norm« noch in den heutigen Alltag eindringen.[22]

Auch die gleichnamige Serie von Kryshownikow versteht sich als ein »Sozial- und Bildungsprojekt, das Jugendlichen und ihren Eltern in akuten Situationen helfen soll«, wie es im Abspann jeder Folge heißt. Im Netz und in den sozialen Medien wird dazu begleitend ein umfangreiches Hilfs- und Beratungsangebot angeboten.[23] Entsprechend beginnt die Serie mit der Verführungskraft und Faszination, die die Stadtteilgangs damals auf Teenies ausgeübt haben. Erst wenn man Mitglied einer solchen Gruppierung wurde und ihren Regeln und Ritualen folgte, galt man als richtiger ›Kerl‹ (russ. pazan) und konnte sich so aus den Zwängen familiärer Enge, schulischer Disziplin und staatlicher Obrigkeit befreien. Die Mitgliedschaft versprach ein selbstbestimmtes Leben ohne Rücksicht auf Gesetze und Konventionen. Dem sowjetischen Muff aus autoritärer Erziehung und kommunistischen Phrasen, in dem jegliches abweichendes Verhalten als anstößig gilt, wird in der Serie die schöne neue Welt amerikanischer Baseballcaps, Kung-Fu-Filme, Pornovideos und Popmusik gegenüberstellt. Hierbei sind es vor allem die eingängigen Disco-Hits jener Jahre, die den pubertierenden Jungs aus der Seele sprechen, wie der Song Musyka nas swjasala (1989, Die Musik hat uns verbunden) der russischen Popband Mirage:

»Wieder fliehe ich zu meinen Freunden.
Was mich hierher zieht, weiß ich nicht
Ohne Musik kann ich nicht lange sein.

(Refrain:) Die Musik hat uns verbunden
Dies ist unser Geheimnis.
Auf alles Zureden gebe ich die Antwort:
›Uns trennt man nicht, nein!‹«

Von Anfang an macht die Serie deutlich, dass diese neue Welt ungemein brutal ist. Bereits in der ersten Szene versetzt der halbstarke »Kerl« Marat in der Straßenbahn dem »Loser« Andrej für eine Nichtigkeit einen Faustschlag. Andrej, ein junger Klavierspieler und begabter Schüler, der mit seiner alleinerziehenden Mutter und einer jüngeren Schwester in eher ärmlichen Verhältnissen aufwächst, versteht schnell, dass er sich gegen solche Schikanen alleine nicht behaupten kann. Als er ausgerechnet Marat, dessen Vater Vorsitzender eines großen Rüstungskonzerns ist, Nachhilfe in Englisch geben soll, freunden die beiden sich an und Andrej beschließt, ebenfalls Bandenmitglied zu werden. Damit gerät er in eine raue Jungswelt, in der bedingungslose Unterordnung und gegenseitige Demütigungen, Pöbeln und Prügeleien mit anderen Stadtteilgangs zum Alltag gehören. Bei einem Ausflug nach Moskau, bei dem Andrej einem von Marat fast totgetretenen Punk helfen will, gerät er das erste Mal in Polizeigewahrsam.

Die Sehnsucht, ein cooler Kerl zu sein, wird ständig durch die Konsequenzen des eigenen Handelns konterkariert. Versuchen die Freunde, etwas wiedergutzumachen, wird es nur noch schlimmer. So als Andrejs Mutter in ihrer Naivität beim Hütchenspiel mit Mitgliedern der Gang alles Geld und ihre Pelzmütze verwettet und Marat erst im letzten Moment durch einen falschen Polizeialarm verhindern kann, dass sie auch noch ihren Mantel aufs Spiel setzt. Zwar bekommt er zunächst Ärger von den eigenen Bandenmitgliedern. Doch da der Ehrencode es verbietet, den Familien der »Kerle« zu schaden, stiehlt Marat anschließend die Pelzmütze der Englischlehrerin, um sie im Beisein der ganzen Bande schließlich Andrejs Mutter als Entschädigung zu überreichen. Als die Mutter jedoch später stolz mit der neuen Pelzmütze wegen Andrejs Fehlverhalten bei der Englischlehrerin in der Schule vorsprechen muss, erkennt diese ihr Eigentum, und jene steht als gemeine Diebin dar, worüber sie den Verstand verliert.

Die entscheidende Eskalation setzt ein, als Marats älterer Bruder, ein ehemaliger Boxchampion mit Spitznamen Adidas, aus dem Afghanistankrieg zurückkehrt. Er stürzt die korrupten und in Drogenhandel involvierten Bandenbosse, möchte wieder Disziplin einführen, versucht ein Alkohol- und Rauchverbot durchzusetzen, und statt undurchsichtiger Deals mit anderen Stadtteilgruppierungen will er wieder klare Machtverhältnisse etablieren. Das misslingt gründlich: Schutzgelderpressung und ein Videosalon sind nur begrenzt erfolgreich, die Schlägereien werden immer blutiger. Als schließlich eine andere Gang Marats Freundin entführt und vergewaltigt, Adidas furchtbar gedemütigt wird und letztlich die Peiniger eiskalt erschießt, bricht nicht nur die Welt der starken Kerle zusammen, sondern Andrej und Marat ziehen auch ihre eigenen Familien und Freundinnen mit sich in den Abgrund. Das verführerische Bandenleben erweist sich als Alptraum, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen zerstört und sie selbst schwer schädigt.

So geraten die Freunde wiederholt mit dem strengen Ehrenkodex der Kerle in Konflikt: Diese verlangen nämlich nicht nur absolute Loyalität gegenüber der Gruppe und verbieten Entschuldigungen gegenüber allen anderen, sondern folgen auch patriarchalen Rollenbildern, wonach nur ein unschuldiges Mädchen ›rein‹ ist und Umgang verdient, während alle anderen als ›Schlampen‹ und ›Huren‹ ohne Ehre gelten. Gibt man sich dennoch mit ihnen ab, ist man selber ›befleckt‹ und wird als ›Dreckskerl‹ aus der Gang ausgeschlossen. Andrej und Marat versuchen anfangs noch mit teils äußerster Rücksichtslosigkeit ihre erwählten Frauen ›rein‹ zu halten, doch das misslingt. Denn Andrejs geliebte Irina arbeitet bei der Miliz, ist im kommunistischen Jugendverband Komsomol und amüsiert sich mit der subkulturellen Boheme, die dem ›Hooligan‹ Andrej nur Verachtung entgegenbringt. Nicht Andrej schützt Irina, sondern umgekehrt muss die bereits volljährige Irina wiederholt die Folgen seiner Straftaten und Grenzüberschreitungen ausbügeln. Marat wiederum hält seiner Freundin Aigul zwar nach deren Vergewaltigung verzweifelt die Treue. Trotzdem wird sie von der Gang und deren Mädchen als Hure geächtet. Selbst ihre Eltern können die Schande nicht ertragen, bis sie keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. In ihrer besinnungslosen Wut über die eigene Hilflosigkeit werden Andrej und Marat beinahe selbst zu Mördern der vermeintlich schuldigen rivalisierenden Bandenmitglieder.

Das Einzige, was als Trost am Ende bleibt, ist die die Kerle in allen Lebenslagen begleitende Popmusik, und hier insbesondere die Hits der Boygroup Laskowy Mai (Zärtlicher Mai‹). Deren Sänger Juri Schatunow – selber ein Waisenjunge aus einem Jugendheim, der bei der Bandgründung 1986 gerade einmal 13 Jahre alt war – wurde mit seinem androgynen Auftreten zum ersten Teeniestar der Sowjetunion. Seine Songtexte bringen auf den Punkt, was die wilden Kerle nicht in eigene Worte fassen können, wenn sie in der Schlussszene der Serie im Kulturklub des Gefängnisses unter dem roten Banner »Wir preisen die Arbeit, unser Land und die Zeit« mit kahlgeschorenen Köpfen gemeinsam den Refrain von Sedaja notsch (1987, Graue Nacht) grölen:

»Und wieder die graue Nacht, und nur ihr vertraue ich.
Du kennst, graue Nacht, all meine Geheimnisse.
Aber auch du kannst mir nicht helfen, und deine Dunkelheit
Nützt mir rein gar, rein gar nichts.«[24]

Das unheimlich-vertraute Geheimnis der ergrauten Nacht aber, das weiß man am Ende der Serie, sind die traumatischen Gewalterfahrungen, über die gemeinhin auch im Fernsehen nicht öffentlich gesprochen wird.

3.

Die enthusiastischen Filmkritiken hoben vor allem die detailgetreue Darstellung der Bandenkriminalität Ende der 1980er Jahre hervor, deren mediale Aufbereitung eine therapeutische Wirkung entfalten könne und die manche auch als ein spektakuläres Menetekel für die Gegenwart im Angesicht des Krieges deuteten. Doch die Serie ist mehr als das. Denn sie unternimmt zugleich eine Revision gängiger Bilder der Perestroika-Periode und folgt dabei dem aktuellen Zeitgeist innerhalb der Russischen Föderation. Am deutlichsten wird das bei Andrejs Onkel Ildar, der ein leitender Ermittler bei der Kriminalpolizei ist. Unter Einsatz von Bestechung, Gewalt und Erpressung versucht er, seinen Neffen zu Aussagen über die Mitglieder seiner Bande zu bringen. Außerdem beginnt er eine Affäre mit Andrejs Mutter. Doch als er eines Abends Andrejs Freund Marat aus ihrer Wohnung rausschmeißen möchte, hält die Mutter zu ihrem Sohn und weist stattdessen Ildar die Tür. Erst als die an ihrem kriminellen Sohn zerbrechende Mutter psychisch erkrankt, wendet sich Andrej in seiner Verzweiflung erneut an seinen Onkel, um sie vorübergehend aus der gefürchteten Psychiatrie zu holen, wo sie aber letztlich doch besser aufgehoben ist als zu Hause.

Ildar zeigt sich im Laufe der Ermittlungen gegen die Jugendbande immer mehr als ein einfühlsamer und rechtschaffener Mensch, der mit aller Gewalt, aber im Namen der Menschlichkeit den Rechtsstaat und das Gesetz gegen die ausufernde Straßenkriminalität durchsetzen möchte. Hier bekommt die Serie deutlich kontrafaktische Züge – waren in der späten Sowjetunion doch die Korruption der staatlichen Behörden und der Missbrauch der Psychiatrie zur medikamentösen Ruhigstellung widerspenstiger Staatsbürger sprichwörtlich. Diese beabsichtigte Rehabilitierung staatlicher Instanzen zeigt sich noch in der Darstellung der Lehrerinnen, die anfangs klischeehaft aufgedonnert und verstockt wirken, im Laufe der Geschichte aber sympathischere Züge bekommen, halten sie doch angesichts der umgreifenden Jugendkriminalität verzweifelt an zivilisierten Umgangsformen fest.

Am deutlichsten ist die ideologische Ausrichtung der Fernsehserie in der Darstellung des Afghanistankrieges zu erkennen, in den die Sowjetunion nach ihrem Einmarsch im Dezember 1979 ein Jahrzehnt lang bis Februar 1989 involviert war. Eine ganze Generation von zwangsweise in den Kampf geschickten jungen Wehrpflichtigen wurde durch den Guerillakrieg der Mudschahedin traumatisiert. Nach Kriegsende hatten sie massive Probleme, sich in die zusammenbrechende Gesellschaft zu reintegrieren, viele verfielen dem Alkohol und Drogen. All dies kommt in der Serie überhaupt nicht vor, im Gegenteil: Adidas scheint im Krieg gestählt worden zu sein, hasst die US-Amerikaner aufgrund ihrer Waffenlieferungen an die afghanische Opposition, empört sich, dass »wir« die »Demokratische Republik Afghanistan« verraten haben, ist Liebling aller älteren und jüngeren Frauen und übernimmt sofort die Führung der Stadtteilbande.[25] Dass auch er schwer traumatisiert ist, zeigt die Serie nur mittelbar, etwa in der Szene, in der er eine romantische Nacht mit seiner Geliebten Natascha nicht im Bett, sondern mit Gitarre in der Küche verbringt und so lange Afghanistanlieder singt, bis sie weinend ausruft, sie wolle nichts mehr vom Tod hören. Seine Rückkehr in die Gesellschaft misslingt letztlich auf allen Ebenen: Statt militärische Ordnung und Disziplin zu schaffen, schaden alle seine Aktionen der Gruppierung nur; und sein Vater, der als Chef eines Rüstungsbetriebs Karriere als Waffenlieferant für die sowjetische Invasionsarmee gemacht hat, ist am Ende als Vater eines Kriminellen und Mörders ein gesellschaftlich geächteter Mann.[26] Kriegshelden, so die implizite Botschaft, sind fürs Zivilleben nicht zu gebrauchen.

Eng verbunden mit dieser indirekten Kritik an den destruktiven Folgen des Krieges sind Fragen nach der Menschlichkeit. Deren Abwesenheit zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Serie, verbildlicht durch diskriminierende Rede, despektierliche Gesten und übergriffiges Verhalten.[27] Vor allem aber entfaltet der omnipräsente Sexismus innerhalb der Gruppierung seine toxische Wirkung. Auch sonst präsentiert die Serie kein idealisiertes Bild der Sowjetunion: Die Mütter der beiden Jungen beispielsweise sind keineswegs emanzipierte Frauen, sondern folgen weitgehend traditionell-weiblichen Rollenmustern. Und der Vorsitzende des örtlichen Komsomol ist ein typischer Karrierist der Wendezeit, der früh die kapitalistischen Zeichen der neuen Zeit erkannt hat und in den Klubräumen eine Produktionsstätte für Bluejeans betreibt.

So erweist sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt einerseits als Versuch, im zunehmend repressiven und autoritären Russland der Gegenwart mit einem populärkulturellen Werk den staatlichen ideologischen und pädagogischen Anforderungen zu genügen, lässt aber andererseits auf subtile Weise auch andere Sichtweisen zu. Deutlich folgt die Serie dem offiziellen Narrativ, dass nur ein starker Staat für Recht und Ordnung sorgen könne und alle Formen von selbstorganisierter Autonomie oder alternative Gemeinschaftsformen nur zu Chaos und blutiger Gewalt führen. Putins Diktum vom Zusammenbruch der Sowjetunion als »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« wird anhand des »Kasaner Phänomens« anschaulich demonstriert. Zugleich zeigt die Serie am Beispiel der beiden jugendlichen Protagonisten Marat und Andrej die Faszination, die gegenkulturelle Jugendbewegungen entwickeln können, und die fatalen Konsequenzen, die extreme Gewalt für alle Beteiligten mit sich bringt. Die katastrophalen Folgen des sowjetischen Afghanistaneinsatzes für eine ganze Generation junger Soldaten werden hingegen nur indirekt anhand der Figur des Kriegsveteranen Adidas thematisiert, dem eine Rückkehr in den zivilen Alltag nicht gelingt.

Es dürfte diese gelungene Verknüpfung einer spannenden und mitreißenden Geschichte über jugendliche Alternativkulturen mit einer vielschichtigen Thematisierung der Folgen von Gewalt und Krieg für die eigene Gesellschaft sein, die die enorme Popularität der Serie beiderseits der russisch-ukrainischen Front begründet. Denn, wie Robert Garaev im Nachwort zur Neuauflage seines Buches schreibt:

»Leider ist die Welt der Kerle nicht nur auf die Bildschirme gekommen, sondern auch in unsere Realität zurückgekehrt – und zwar in einem viel größeren Ausmaß, als man sich vorstellen konnte. Die Sprache der Kerle wird inzwischen von russischen Politikern, Beamten und Talkshow-Moderatoren gesprochen. […] Angesichts der Situation im Jahr 2023, in der die Welt in Chaos und militärischen Konflikten versinkt, möchte ich daran glauben, dass der Leser nach der Lektüre dieses Buches die richtige Schlussfolgerung zieht: Kriege können Gründe und Voraussetzungen haben, aber manchmal ist der Gewinner nicht derjenige, der sich Hals über Kopf in diesen Konflikt gestürzt hat, wie die Helden aus Ehrenwort eines Kerls, sondern derjenige, der sich abseits dieser Kämpfe befand, sich in die Materie vertiefte, sie verstand, sich weiterentwickelte und allem widerstand, ausgehend von seinem Weltverständnis und seinen Ehrregeln.«[28]

Zu verstehen und zu widerstehen: ein solches Angebot enthält auch die Fernsehserie.

Der Slawist Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und leitet das Projekt Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg.

[1] Da Aigel Gaisina, die Sängerin der Band, nach kritischen Äußerungen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine emigriert ist, sind später alle Angaben zum Song aus dem Abspann der Serie entfernt worden.

[2] Pazan bedeutet so viel wie ›Kerl, Bursche, Junge‹. Das Substantiv hat im Russischen umgangssprachlich einen herablassenden Beiklang und kann auch die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Gruppierung markieren. Ein Trailer zur Serie mit englischen Untertiteln findet sich auf Youtube. In Deutschland ist die Serie bislang nur mit englischen Untertiteln auf der Filmplattform Soviet & Russian Movies zu sehen. Ich danke Franziska Thun-Hohenstein, Nina Weller, Roman Dubasevych und Dirk Naguschewski für ihre hilfreichen Hinweise.

[3] Vgl. u.a. Anastasija Chochlova: »Zusammenkünfte, Schlägereien und Einflusszonen: Was Jugendliche nach dem Ansehen der Fernsehserie Ehrenwort eines Kerls tun« (auf Russisch), in: Radio 1 (29.11.2023); [Anon.]: »Russische Propaganda: Ukrainische Schulen schlagen wegen der Serie Ehrenwort eines Kerls Alarm« (auf Ukrainisch), in: Gazeta.Ua (4.12.2023). Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen von mir.

[4] Vgl. u.a. Anastasija Gončarenko:»Ehrenwort eines Kerls: Warum man diese Serie in der Ukraine hasste und warum Jugendliche ›süchtig‹ nach ihr wurden« (auf Ukrainisch), in: TSN (11.12.2023); Anna Kundirenko: »Ehrenwort eines Kerls. Warum die skandalträchtige russische Serie in der Ukraine populär wurde« (auf Russisch), in: BBC News (Russkaja služba) (9.12.2023).

[5] Vgl. Varvara Košečkina: »Die Serie Ehrenwort eines Kerls über Jugendbanden zur Zeit des Zerfalls der UdSSR ist erschienen« (auf Russisch), in: Lenta.ru (10.11.2023); Svetlana Stephenson: »Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land« (übersetzt von Ruth Altenhofer), in: Dekoder (2.1.2024). 

[6] Anton Chitrov: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt ist eine hervorragende Serie von Shora Kryshownikow über das kriminelle Kasan der 1980er Jahre, in das sich das Russland der 2020er Jahre zu verwandeln droht« (auf Russisch), in: Meduza (25.11.2023).

[7] Aleksandr Folin: »Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt: Eine glaubwürdige Momentaufnahme einer brutalen Epoche« (auf Russisch), in: KinoReporter (9.11.2023).

[8] Sergey Toymentsev: Review of »Zhora Kryzhovnikov: The Boy’s Word of Honor (TV)«, in: KinoKultura 83 (2024).

[9] Vasilij Stepanov: »Angst haben zu fliehen« (auf Russisch), in: Kommersant’ (3.11.2023).

[10] Anton Dolin: »Ehrenwort eines Kerls wurde zu einer echten Sensation« (auf Russisch), in: Meduza (22.12.2023).

[11] Kundirenko: Ehrenwort eines Kerls (Anm. 4).

[12] Il’ja Litov: »›Sie haben das Land aufgefressen‹: Ist die Serie Ehrenwort eines Kerls wirklich so schädlich für die Jugend?« (auf Russisch), in: Moskovskij Komzomolec (5.12.2023).

[13] Alja Trynova: »Die Ombudsperson für Kinder von Tatarstan bittet Roskomnadzor die Serie Ehrenwort eines Kerls zu überprüfen« (auf Russisch), in: Večernie vedomosti (29.11.2023). Roskomnadzor ist die »Föderale Aufsicht für Informationstechnologie und Massenkommunikation« in Russland.

[14] Sergej Aksenov: »Der Film Ehrenwort eines Kerls erinnert an die Perestroika-Probleme der 80er Jahre« (auf Russisch), in: Svobodnaja Pressa (6.12.2023).

[15] Tass: »Michalkow bezeichnete Forderungen nach einem Verbot der Serie Ehrenwort eines Kerls als eine große Dummheit« (auf Russisch), in: TASS (9.12.2023); Sergij Kruglov: »Verbieten, um sich selbst nicht zu erkennen« (auf Russisch), in: Pravmir (14.12.2023). Bereits Ende 2023 kürten russische Kinokritiker die Serie zur besten des Jahres, vgl. [Anon.]: »Kritiker haben die Serie Ehrenwort eines Kerls zur besten des Jahres 2023 erklärt« (auf Russisch), in: TASS (25.12.2023).

[16] So erhielt die Serie im April 2024 die höchsten Auszeichnungen des Nationalpreises für Webinhalte (National’naja premija v oblasti veb-kontenta). Bei der Preisverleihung des Verbands der Film- und Fernsehproduzenten (Associacija prodjuserov kino i televedenija, Abk. APKiT) in Moskau – etwa vergleichbar den US-amerikanischen Emmy Awards – kam sie im Juni 2024 sogar auf neun Auszeichnungen. Vgl. Susanna Al’perina: »Bondarčuk und Ehrenwort eines Kerls. Die Gewinner des V. Nationalpreises für Webinhalte wurden bekanntgegeben« (auf Russisch), in: Rossijskaja gazeta (16.4.2024); »Ehrenwort eines Kerls erhielt die Hauptauszeichnungen des National Web Content Award« (auf Russisch), in: InterMedia (15.4.2023); Vera Cvetkova: »Das magische Ehrenwort eines Kerls …« (auf Russisch), in: Nezavisimaja gazeta (20.6.2024).

[17] Marija Kabacij:»Ohne Tscheburaschka und Ehrenwort eines Kerls geht es nicht: Welche Filme die Ukrainer im Jahr 2023 gegoogelt haben« (auf Ukrainisch), in: Ukraijns’ka pravda (12.12.2023).

[18] Julija Ljubčenko: »›Seid ihr noch bei Verstand?‹ Irma Vitovska wendet sich an die Zuschauer der russischen Serie Ehrenwort eines Kerls« (auf Ukrainisch), in: RBK-Ukrajina (7.12.2023).

[19] Andrij Kokotjucha: »Das Schweigen des ukrainischen Kerls« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (11.12.2023). Diese Extrapolation aller negativen Seiten der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit als ein genuin russisches, der ukrainischen Kultur fremdes Element, ist kein Sonderfall. Typisch für die filmische Darstellung der Straßengewalt der späten 1980er und der 1990er Jahre ist Oleh Senzows Film Rhino (Nosorih, 2021), dessen Handlung vor allem in der Ostukraine spielt. Er stellt gewissermaßen einen Gegenentwurf zu dem russischen Kult-Film der 1990er Jahre Bruder (Brat, 1997) von Alexei Balabanow dar.

[20] Nina Khrushchova: »Russland bereitet sich auf einen permanenten Krieg vor. Wie es dazu kommt« (auf Ukrainisch), in: Novoe vremja (24.1.2024).

[21] Die deutschsprachige Presse hat zwar über den Erfolg und die öffentliche Resonanz auf die Serie in Russland und der Ukraine berichtet, eine genauere Besprechung ihres Inhalts fand aber nur selten statt, vgl. beispielsweise Artur Weigandt: »Wer um Gnade fleht, muss schießen (Russische Serie über Jugendbanden)«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (5.1.2024), S. 15; Ueli Bernays: »Stammesdenken in Russland. Du gehörst zu uns, alle anderen sind Feinde«, in: Neue Zürcher Zeitung (1.2.2024); Inna Hartwich: »Gewalt, Lügen und Zynismus (Medien in Russland)«, in: tageszeitung (12.12.2023).

[22] Robert Garaev: Slovo pacana, Kriminal’nyj Tarastan 1970–2010-ch [12021], erweiterte Auflage, Moskau 2024, S. 613, 616–617. Garaev hat sich in Interviews wiederholt positiv zu der Verfilmung geäußert, die dem Anliegen seines Buches entspreche, vgl. Polina Chabarova: »Die Gruppierungen waren staatsähnlich«, in: Kommersant’ (4.2.2024).

[23] Vgl. zum Beispiel die Webseite Pacany menjajutsja [Kerle verändern sich].

[24] Mit Szenen aus der Fernsehserie unterlegt: https://www.youtube.com/watch?v=CbbGV1JthRA. Im Russischen gibt es zwei Worte für ›grau‹, zum einen seryj für die Farbe Grau, was aber auch ›trist‹ oder ›langweilig‹ bedeuten kann, zum anderen sedoj, was vor allem auf die Haarfarbe bezogen wird (›grauhaarig, ergraut‹). Der Titel Sedaja noč’ (1988) konnotiert diese Bedeutung im Sinne von einer alt gewordenen Nacht.

[25] Diese geschönte Darstellung des sowjetischen Afghanistaneinsatzes und seiner Folgen ist kein Novum. Nachdem in der Glasnostzeit und Anfang der 1990er Jahre eine schonungslose Auseinandersetzung stattfand – deren im Westen bekanntestes Zeugnis Swetlana Alexijewitschs Dokumentarroman Die Zinkjungen (Cinkovye mal’čiki,1989) ist –, änderte sich das im neuen Jahrtausend langsam. Kameradschaft, Disziplin und Durchhaltewille als militärische Tugenden traten wieder in den Vordergrund, wofür im Bereich der Populärkultur Fjodor Bondartschuks Blockbuster Neunte Kompanie (9 rota, 2005) wegweisend war.

[26] Auch die Flucht ans Meer mit der Geliebten im gestohlenen Auto – wie man sie aus dem Genre des Roadmovies kennt – vermasselt Adidas zum Schluss. Denn zuvor versucht er vergeblich, sich mit seinem Vater zu versöhnen und wird bei einer Polizeiaktion niedergeschossen.

[27] Auffällig ist dabei, dass nationalistische oder identitäre Diskurse keinerlei Rolle spielen, sämtliche Helden sind diesbezüglich auffällig farbenblind. Auch Christentum und Islam kommen nur am Rande vor. In der Tat, das zeigt auch Robert Garaevs Buch, ist der Alltagsrassismus zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen erst ein Phänomen der 1990er Jahre.

[28] Robert Garaev: »Posleslovie k izdaniju 2024 goda« [Nachwort zur Ausgabe von 2024], in: ders.: Slovo pacana (Anm. 22), S. 634, 638.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: In der Welt der wilden Kerle. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges, in: ZfL Blog, 12.7.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/07/12/matthias-schwartz-in-der-welt-der-wilden-kerle-eine-populaere-serie-im-zeichen-des-russisch-ukrainischen-krieges/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240712-01

Der Beitrag Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/ Thu, 20 Jun 2024 12:27:33 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3312 Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug Weiterlesen

Der Beitrag Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug des ZfL nach Wilmersdorf in ein neues Forschungsprojekt weniger vertieft als gestürzt. Doch recht besehen ist es kein neuer Gegenstand, sondern es sind seine alten Bekannten, die ihm rund um den Fasanenplatz wiederbegegnen. Ein größeres Geschenk als diese Nachbarschaft hätte man ihm vielleicht nicht machen können: Die literarische und kulturelle Moderne entstand hier! Der Fasanenplatz ist ein ›Freilichtmuseum‹ der Moderne mit Hauptmann, Brecht, Benjamin und vielen anderen. Und Detlev Schöttker wäre nicht Detlev Schöttker, wenn er die Öffentlichkeit nicht sogleich über einige seiner Funde und Entdeckungen informiert hätte. In der FAZ sind bereits mehrere Artikel von ihm über die erstaunliche Bedeutung unseres Kiezes für die Moderne erschienen.

Die These, dass die kulturelle Moderne im damals noch sehr viel beschaulicheren Wilmersdorf begann, die steht also schon mal. Aber die Dokumentenlage – und auf die kommt es ihm immer und bei allem an – die ist leider, aber zum Glück für Detlev Schöttker, sehr dürftig. – Noch! Jetzt muss akribisch und mit viel Geschick rekonstruiert werden, wo der Lebensmittelladen stand, in dem Brecht und Simmel zusammengetroffen sein könnten, wer die Besitzer, die Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser waren, die oft schon lange nicht mehr stehen. Alte Stadt- und Baupläne müssen gefunden, studiert und mit der jüngeren Stadtentwicklung abgeglichen werden, Postkarten mit unserem Vor-Vorgängerbau sind ausfindig zu machen und zu ersteigern. Es sind aber auch Kontakte zu knüpfen, Netzwerke müssen ausgebildet werden, Projekte geschmiedet, Kooperationen in die Wege geleitet und Ausstellungen geplant werden. Man kann davon ausgehen, dass Detlev Schöttker, der die Gegend seit letztem Jahr systematisch zu Fuß erkundet hat, in der näheren und ferneren Nachbarschaft längst bestens bekannt ist. Pünktlich zum 70. Geburtstag ist der Spurensucher einmal mehr in seinem Element. Wie es sich für einen Detektiv gehört, gibt er sein inzwischen akkumuliertes Wissen strategisch dosiert preis, wittert manchmal Konkurrenten und leidet unter Ignoranten. Er wird schon einmal etwas ungeduldig, wenn jemand versucht, seinen Elan zu bremsen. Er ist nämlich nicht nur ein so skrupulöser wie findiger Forscher, sondern er kann auch ziemlich laut poltern. Als ich ihm aber den neuen Status als Senior Fellow so behutsam wie möglich antrug, grummelte er etwas in sich hinein und war’s zufrieden. – Das ist, muss man schon sagen, eine eher seltene Reaktion.

Das Es-gut-sein-Lassen liegt Detlev Schöttker nämlich eigentlich nicht. Bis heute hat er es mit Walter Benjamin keinesfalls gut sein lassen. 1999 erschien im Suhrkamp Verlag Konstruktiver Fragmentarismus, dessen Untertitel Form und Rezeption erkennen ließ, wie die Deutung der fragmentarischen Form von Benjamins Schreiben in seiner Rezeptionsgeschichte fortwirkt: »So vollendet die Nachwelt, was Benjamin begonnen hatte.« 2006 erschien im gleichen Verlag die unschätzbare Studie über das Verhältnis von Arendt und Benjamin, die die Dokumente im Streit zwischen Scholem, Adorno und Arendt um Benjamins Nachlass erstmalig und mustergültig aufbereitete. 2007 folgte der ebenso wertvolle Kommentar zum vielleicht meistgelesenen Text Benjamins, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2015 in der vierten Auflage). Durchgängig zeichnen sich alle Publikationen und Herausgaben Detlev Schöttkers durch den Vortritt aus, den sie dem Material und den Dokumenten einräumen. Bestimmte und immer wichtige Texte in mühevoller Kleinarbeit mit so viel Sinn für das Detail wie übergreifende Relevanz erst einmal aus den Archiven geklaubt und, perfekt kommentiert, der Nachwelt zur Verfügung gestellt zu haben, gehört zu Detlev Schöttkers größten Verdiensten.

Unter den Dokumenten und Materialien spielen Briefe für ihn schon lange eine besondere Rolle, über die er wiederholt nachgedacht hat, etwa in dem Band Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung (2008). Als Dokumente verstanden, werden Briefe zu einer entscheidenden Schnittstelle zwischen der Person in der Zeitgeschichte, ihrem weiteren Umfeld und der Nachwelt. Aber zum dokumentarischen Charakter der Briefe gehören auch die Briefmarken und zu ihnen wiederum die Stempel. Und beides hat nicht nur ihn, sondern auch Walter Benjamin brennend beschäftigt, wie ein Beitrag in dem von ihm und Dirk Naguschewski gemeinsam herausgegebenen Band Philatelie als Kulturwissenschaft (2019) belegt.

Mit dem erst in jüngerer Zeit hinzugekommenen, manche unter den eingefleischten Benjamin-Expert*innen irritierenden, aber leidenschaftlich und ertragreich verfolgten Interesse an Ernst Jüngers gigantischem Briefkosmos hat sich Detlev Schöttkers Spürsinn neue Jagdgründe erobert und gesichert, die vielleicht nicht ewig, aber doch sehr lange vorhalten werden. Der unter dem Titel Einer der Spiegel des Anderen gemeinsam mit Anja Keith edierte und vielbesprochene Briefwechsel zwischen Gretha und Ernst erschien 2021. Derzeit arbeitet Detlev Schöttker mit Katja Schicht an der Edition des Briefwechsels der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger. Und das ist erst der Anfang.

Wer Dokumenten auf der Spur ist, kann sich an das Kleinformat einer Briefmarke mit oder ohne Stempel verlieren, aber es zeichnet Detlev Schöttker aus, dass er darüber die Monumente nicht vergisst, die Stein und Bau, Platz und Haus gewordene Geschichte. Ein 2010 im Merkur unter dem Titel Der Beobachter des Parterres erschienener Text über Architektur bei Kafka bildet den Auftakt seiner anhaltenden Auseinandersetzung mit Architektur und Stadtgeschichte. Bei DOM publishers erschien 2019 unter dem Titel Ästhetik der Einfachheit die Geschichte eines Bauhausprogramms, die mit Aristoteles beginnt und in der Spätmoderne endet. Detlev Schöttkers Moderne begann früh und ist noch nicht vorbei. Beim selben Verlag war bereits 2017 unter dem Titel Über Städte und Architekturen eine Anthologie mit Texten von Walter Benjamin erschienen. 2021 schließlich hat Detlev Schöttker mit Kollegen einen Band zu Architekturtexten der Wiener Moderne herausgegeben, darunter Bekanntes, aber auch sehr viel vordem Unbekanntes.

Die mit Architektur befassten Bücher und Editionen sind übrigens ausnehmend schön gemacht. Und zu Detlev Schöttkers Auseinandersetzung mit der Moderne gehört sein eigener an ihr und mit ihr entwickelter Sinn für das Ästhetische. Dieser Sinn lässt nichts aus und ist unbeirrbar. Jüngst waren für unser neues Domizil Möbel für die Lounge auszuwählen. Das uns dabei beratende Team eines Möbelausstatters (Tipp von Detlev Schöttker) hatte seine liebe Not mit uns. Es waren harte Kämpfe ums Ganze. Denn so geht es einem mit Detlev Schöttker: Immer steht mit jedem Detail alles auf dem Spiel. Das kann anstrengend sein, aber wir möchten ihn und seine Moderne nicht missen und zählen weiterhin auf beide.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: Detlev Schöttker zum 70. Geburtstag, in: ZfL Blog, 20.6.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/06/20/eva-geulen-mann-der-moderne-ohne-wenn-und-aber-detlev-schoettker-zum-70-geburtstag/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240620-01

Der Beitrag Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/ Fri, 24 May 2024 08:22:47 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3300 Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Weiterlesen

Der Beitrag Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Hoffmann als Dichter der Großstadt.[3] Obwohl das Wort »dämonisch« nur im Titel fällt, eröffnet der Vortrag eine neue Sicht auf das post-goethesche Dämonische, denn die Medialität des Dämonischen wird darin auf mehreren Ebenen reflektiert, die das Radio selbst involvieren.

Gemäß Goethes berüchtigter Antidefinition in Dichtung und Wahrheit (1831) manifestiert sich das Dämonische nur als Widerspruch. Seine Struktur ist ein Weder-noch: weder göttlich noch menschlich, weder teuflisch noch engelhaft, weder unvernünftig noch verständig, weder Zufall noch Vorsehung. Während die Dämonen von Anbeginn von Dämonologien eingehegt wurden, zelebriert das Dämonische einen Bruch mit dem Logos. Deshalb wandert es aus dem Bereich der Theologie und Philosophie in ästhetisch-existenzielle Zusammenhänge: Goethe, der das Dämonische in einer Entscheidungskrise erlebte, flüchtet sich gegen Ende seiner gescheiterten Definition »hinter ein Bild«, womit er die literarische Figur seines Egmont meint.[4] Bei Georg Lukács fließt das Dämonische schließlich in die Theorie des Romans ein.[5] Das Dämonische streift die Phantastik ab und wird zum Signum der Moderne.[6]

Auch Benjamin assoziiert das Dämonische mit der Moderne. Er nähert sich der ambivalenten Kategorie in mehreren Texten und aus unterschiedlichen Richtungen: von Goethe in seinem großen Wahlverwandtschaften-Aufsatz (1924/25), von Karl Kraus, den Benjamin als dämonische Gestalt einer unerlösten Moderne porträtiert,[7] oder vonseiten der jüdischen Dämonologie – wie nicht zuletzt Giorgio Agamben (der Partei für die Engel ergreift) auf den Spuren von Gershom Scholem betont.[8] Aus diesen Blickwinkeln zeigt sich das Dämonische tief in Benjamins Geschichts- und Sprachphilosophie eingebettet. Dagegen nimmt Das dämonische Berlin, das in der Forschung kaum Beachtung fand, eine scheinbar naive, kindliche Perspektive ein. Das Dämonische offenbart sich ausgerechnet in »einer klaren prosaischen Stadt«, die dem Aberglauben und Ominösen abschwören will.[9]

Die Wendung »dämonisches Berlin« stammt von dem Germanisten und Museumsdirektor des Märkischen Museums Otto Pniower, der in einem Aufsatz historische Berliner Schauplätze in Hoffmanns Erzählungen identifizierte.[10] Benjamin, der Pniowers Ansatz folgt, eröffnet Das dämonische Berlin mit einer Kindheitserinnerung: Als er vierzehn Jahre alt war, kam der Komponist und Musikschriftsteller August Halm in seine Schule, um Hoffmann vorzulesen. Wozu jemand solche unerklärlichen Geschichten schreibe, wollte Halm bei einem späteren Besuch erklären. Dazu kam es nicht, und so versuchte Benjamin, die Frage selbst zu beantworten. In einem ersten Schritt ersetzte er das Wozu durch ein Warum: Warum schreibt einer so bizarre Geschichten? Seine Antwort: Hoffmann gehört zu denjenigen Schriftstellern, die »von ihren Figuren besessen sind«, von phantastischen Visionen heimgesucht werden und sich erst beruhigen, wenn sie diese niederschreiben.[11]

Einen Monat nach Ausstrahlung von Das dämonische Berlin, im März 1930, führte Benjamin seine Antwort in dem Vortrag E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza für den Frankfurter Rundfunk weiter aus: Hoffmann erzähle Geschichten, »um die Figuren, Arabesken, Ornamente festzuhalten, in denen alte Geister- und Naturdämonen ihr Wirken in der Tageshelle des neuen Jahrhunderts […] einzuzeichnen suchen«.[12] Er verleihe archaischen Naturmächten, die in der Moderne verdrängt wurden, ein Sprachrohr. Das Dämonische wird zur Wiederkehr der vorgeschichtlichen Dämonen in der »Tageshelle«. Der Dichter erscheint folglich als ein von besessenen Figuren Besessener, als dämonisches Medium. Sein Schreiben ist ein Exorzismus.

In einem zweiten Schritt thematisiert Benjamin die Wirkung von Hoffmanns Texten: Die dämonischen Mächte, von denen sich der Dichter schreibend befreit, fahren in die Leserinnen und Leser seiner Geschichten. Benjamin erinnert sich, wie er, als seine Eltern einmal nicht zu Hause waren, als Kind heimlich Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) las und plötzlich »alle Schrecken wie Fische mit stumpfen Mäulern sich allmählich in der umgebenden Dunkelheit um die Tischkanten sammelten, so dass meine Augen wie an einer rettenden Insel sich auf die Buchseiten hefteten, aus denen doch alle diese Schrecken kamen«.[13] Das Dämonische verwandelt sich von einer Naturmacht in eine literarische Überwältigung. Das Medium Schrift wird zum Ursprung der dämonischen Versuchungen, vor denen es uns zugleich zu retten verspricht. Nicht mehr der Autor oder der Text, sondern die Lesenden sind nun dämonisch.[14]

Die »Fische mit stumpfen Mäulern« sind ein Echo der Bergwerke zu Falun, deren Protagonist Elis Fröbom vom Meeresgrund träumt, um in der Dunkelheit eines Stollens zu verschwinden. Doch zugleich erinnern sie an die Dämonen, die den Heiligen Antonius auf zahlreichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Darstellungen aus der Dunkelheit bedrängen. So bildet sich etwa auf einem Gemälde von Jan Brueghel d. Ä. (1603/04), das sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet, ein dämonischer Lesekreis um den Heiligen, der sich in einer grotesken nächtlichen Landschaft in ein Buch vertieft. Die Dämonen werden von dem Licht und der Lektüre angelockt, die sie seltsamerweise selbst erst ermöglichen: ein Frosch-Dämon leuchtet dem lesenden Antonius mit der Fackel. Das Dämonische offenbart sich im hermeneutischen Drama von Dunkelheit und rettendem Licht der Schrift.[15]

Nach dieser Lektüreszene kommt Benjamin in einem dritten Schritt wieder auf den Dichter zurück, dem er ein erzählerisches »satanisches« Wissen attestiert, das »die Geister unter ihrer raffiniertesten Verkleidung aufspürt«.[16] Eine solche Gabe hätte man früher in der monastisch-mystischen Tradition, die Antonius repräsentiert, als »Unterscheidung der Geister« bezeichnet.[17] Bei Benjamin erscheint sie in einem profanen urbanen Licht: Hoffmann erfinde seine Gestalten nicht, er erspähe sie in der Großstadt (nicht in der Wüste). Er entdecke sie hinter der Fassade des preußischen Bürger- und Beamtentums, dem der Autor selbst angehört. Für ihn sei immer »Geisterstunde«, auch »in diesem vernünftigen Berlin am hellen Mittag« begegne ihm das Dämonische.[18] Daher sei er »weniger ein Seher, als ein Anseher«; ein genauer Beobachter, ein »Physiognomiker von Berlin«, der eine Tradition gründet, die laut Benjamin in Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) kulminiert.[19]

Die alte »Unterscheidung der Geister« wird zur Physiognomie. Man könnte mit Georg Friedrich Lichtenberg – dem Benjamin sein letztes Hörspiel Lichtenberg. Ein Querschnitt (1933) widmete – von einer Pathognomik sprechen, der Beobachtung der affektiven Regungen und Bewegungen. Das ist die »Kunst zu schauen«, wie wir sie insbesondere in Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) finden: Das Alltagstreiben auf dem Berliner Gendarmenmarkt wird aus diesem »Eckfenster der Moderne«[20] zu einem Wimmelbild in »Callots Manier« – man denke an Jacques Callots Radierung Die Versuchungen des Hl. Antonius (zweite Version 1635), die Hoffmann in der Einleitung seiner Fantasiestücke (1814/15) erwähnt (und die später über Gustave Flauberts Arbeitstisch hing). Das Phantastische konvergiert bei Hoffmann mit dem Realistischen, den Versuchungen des Marktes. Das Dämonische äußert sich in den anonymen urbanen »Figuren, Arabesken, Ornamenten«, die die individuellen Schicksale bestimmen und deren historische Schichtungen Benjamin in seinen eigenen Berlin-Texten untersucht.[21] Damit wird endlich das Wozu geklärt – nicht das Wozu des Dichters, sondern das des Lesens: Wir sollen Hoffmanns Texte lesen, als ob ihr Zweck darin bestünde, die affektiven, sozialen, ökonomischen Zwänge aufzudecken, die sich hinter der scheinbaren Tageshelle unsrer eigenen Gegenwart immer noch verbergen. So endet Das dämonische Berlin mit einer Lektüreanweisung.

Abschließend möchte ich eine weitere Ebene andeuten, die Benjamin nicht dezidiert anspricht: 25 Jahre nach seiner Begegnung mit Halm, der 1929 starb, schlüpft Benjamin in dessen Rolle, um lauschenden Kindern eine Antwort zu geben. Der Vortrag ist damit selbst eine dämonische Wiederkehr; die Radiostunde eine Geisterstunde. Das junge Medium des Radios, das den mesmeristischen Phantasien und unheimlichen Automaten Hoffmanns entgegenkommt, musste zwangsläufig als dämonisch empfunden werden. Das »Stimmenhören« wird zur elektromagnetischen Technik. Benjamin, der in einem Brief an Scholem erwähnt, dass er ein »Hörfunkspiel über Spiritismus« plant,[22] ist sich der spiritistischen Anklänge des Medienbegriffs bewusst. Im Vortrag über Hoffmann und Panizza betont er – unter Rückgriff auf die Erzählung Die Automate (1814) –, dass Hoffmann Musiker, nicht bloß Physiognomiker war. Als solcher habe er »wirkende Zusammenhänge mit der fernsten Urzeit« im »Hörbaren« erkannt.[23] Dies gilt für den Gesang und die Musik, in der die Romantik einen verzerrten Nachhall einer natürlichen pantheistischen Harmonie erkennen will. In der Maschinenmusik, die in Die Automate verdammt wird (man denke an den aktuellen Widerstand gegen KI in der Musikindustrie), äußert sich hingegen das dämonische Prinzip der Moderne, welche das Radio mit der lebendigen Stimme versöhnen wird. Für Benjamin überwindet das Radio diesen »manichäischen« Dualismus von »Schein und Leben«, Technik und Liebe, den Hoffmann verficht.[24] Das Radio ermöglicht eine Chance, die dämonische Moderne mit dämonischen Mitteln zu überwinden.

Jakob Moser ist Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Philosophie der Universität Wien und forscht zur Geschichte und Theorie dämonischer Trugbilder. Im Sommersemester 2024 ist er Gastwissenschaftler am ZfL.

[1] Siehe hierzu den grundlegenden Sammelband: Eva Geulen/Kirk Wetters/Lars Friedrich (Hg.): Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, Paderborn 2014.

[2] Goethe schreibt in seiner polemisch zugespitzten Übersetzung von Walter Scotts Essay über Hoffmann: »Es ist unmöglich, Märchen dieser Art irgendeiner Kritik zu unterwerfen; […] es sind fieberhafte Träume eines leichtbeweglichen kranken Gehirns.« Zit. nach: Hartmut Steinecke: »Kommentar«, in: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 3, hg. v. dems., Frankfurt a.M. 2009, S. 949.

[3] Vgl. Walter Benjamin: »Das dämonische Berlin«, in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Christoph Göde/Henri Lonitz, Bd. 9.1: Rundfunkarbeiten. Texte, hg. von Thomas Küpper/Anja Nowak, Berlin 2017, S. 206–212, hier S. 206-212.

[4] Dies betont Martina Wagner-Egelhaaf: Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe, Göttingen 2020, S. 170ff.

[5] Vgl. Kirk Wetters: »The Luciferian and the Demonic in Georg Lukácsʼ ›Die Theorie des Romans‹«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 243–266. Siehe auch das Projekt von Patrick Eiden-Offe am ZfL.

[6] Dies verhindert freilich nicht, wie Martina Wagner-Egelhaaf kürzlich in einem Vortrag im Warburg-Haus in Hamburg demonstrierte, dass Dämonen als metaphorische Kräfte in Gegenwartsliteratur und ‑theater Hochkonjunktur haben.

[7] Vgl. Eva Axer: »Alldeutig, mehrdeutig, undeutig. Walter Benjamins ›Bezwingung‹ dämonischer Zweideutigkeit im Kraus-Essay«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 325–343.

[8] Vgl. Giorgio Agamben: »Walter Benjamin und das Dämonische«, in: ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. von Francesca Raimondi, Frankfurt a.M. 2013, S. 237–273.

[9] So der Philosoph Fritz Mauthner, der über Goethes »Aberglauben« bezüglich des Dämonischen schreibt: »je höher ein Mensch, desto mehr stehe er unter dem Einfluß der Dämonen; Raphael, Mozart, Napoleon, auch Lord Byron, werden dämonisch genannt; das Dämonische werfe sich gern an bedeutende Figuren; in einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit sich zu manifestieren.« Zit. nach Cornelia Zumbusch: »Dämonische Texturen. Der Durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren«, in: Geulen/Wetters/Friedrich (Hg.): Das Dämonische (Anm. 1), S. 79–95, hier S. 79.

[10] Vgl. Otto Pniower: »E. T. A. Hoffmanns Berlinische Erzählungen«, in: Archiv der Brandenburgia. Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin 12.II (1907), S. 6–25. Vgl. auch Michael Bienert: E. T. A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze, Berlin 2015.

[11] Vgl. Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 207.

[12] Walter Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza«, in: ders.: Rundfunkarbeiten (Anm. 3), S. 458–467, hier S. 461.

[13] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 208.

[14] Dies argumentiere ich ausführlich in meinem Buch Lesende Dämonen. Schrift als Versuchung, Wien/Berlin 2022.

[15] Zu Brueghels Bild ebd., S. 42–47.

[16] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[17] Zu diesem Begriff siehe z.B. Niklaus Largier: »Rhetorik des Begehrens. Die ›Unterscheidung der Geister‹ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität«, in: Martin Baisch u.a. (Hg.): Inszenierung von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein i. Ts. 2005, S. 249–270.

[18] Benjamin: »Das dämonische Berlin« (Anm. 3), S. 209.

[19] Vgl. ebd., S. 210.

[20] Ich übernehme diesen Ausdruck von Helmut Lethen: »Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann«, in: ders.: Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg. i. Br. 2009, S. 9–42.

[21] Zu Benjamins Straßen-Literatur vgl. Gerhard H. Hommer: Attraktionen der Straße. Eine Berliner Literaturgeschichte 19271932, Göttingen 2021.

[22] Dies bemerkt Reinhard Döhl: »Walter Benjamins Rundfunkarbeit«, in: Stuttgarter Schule.

[23] Benjamin: »E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza« (Anm. 12), S. 461.

[24] Vgl. ebd., S. 462.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Jakob Moser: »Das Dämonische Berlin«: Walter Benjamin über E. T. A. Hoffmann, in: ZfL Blog, 24.5.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/24/jakob-moser-das-daemonische-berlin-walter-benjamin-ueber-e-t-a-hoffmann/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240524-01

Der Beitrag Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: EVALD ILYENKOV AT 100 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/08/isabel-jacobs-martin-kuepper-philosopher-of-the-ideal-evald-ilyenkov-at-100/ Wed, 08 May 2024 07:57:26 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3277 February 18th 2024 marked the centenary of the birth of Evald Ilyenkov (1924–1979) – a brilliant and influential Soviet philosopher whose most important early works remained unpublished during his lifetime (fig. 1). Two days before Ilyenkov’s 100th birthday, Russian opposition leader Alexei Navalny was found dead in a Siberian prison colony; that news overshadowed the Weiterlesen

Der Beitrag Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: EVALD ILYENKOV AT 100 erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Fig. 1: Evald Ilyenkov in the early 1950s. Credits: Elena Illesh

February 18th 2024 marked the centenary of the birth of Evald Ilyenkov (1924–1979) – a brilliant and influential Soviet philosopher whose most important early works remained unpublished during his lifetime (fig. 1). Two days before Ilyenkov’s 100th birthday, Russian opposition leader Alexei Navalny was found dead in a Siberian prison colony; that news overshadowed the little attention given to Ilyenkov’s anniversary in Russia. The manner in which Ilyenkov’s centenary and Navalny’s death were treated reflects memory culture in Putin’s Russia, where the legacies of Soviet Marxism are often suppressed by ultra-nationalist propaganda. Abroad, Ilyenkov’s prestige has seen a remarkable rise in recent years, accompanied by translations and new scholarship in, for example, Sweden, Ukraine, Peru, Turkey, Canada and Cuba.

On his 100th birthday, Ilyenkov continues to shape Marxist philosophy, radical pedagogy and psychology around the world. His philosophical interests included political economy, logic, cybernetics, science fiction, epistemology and aesthetics. His radical fusion of Spinoza, Hegel and Marx transformed Soviet intellectual life from the 1950s to the 1970s. Best known for his analysis of Marx’s dialectical method, he reinvented the study of materialist dialectics in the Soviet Union. The Dialectics of the Abstract and the Concrete in Marx’s Capital (1960) made him famous both at home and abroad. Swiftly translated into Italian, Spanish, German and English, his succinct reading of Marx’s Capital significantly influenced Italian and Latin American leftist thought.

Ilyenkov’s philosophy emphasizes the importance of connecting philosophy, pedagogy and psychology to promote the emancipation of the individual. Various notions, among them the idea of tacit knowledge, are very much indebted to him. His warnings against the dangers posed by quantification measures, artificial intelligence and unrestrained capital accumulation amount to a socialist humanism that has great relevance today.

Born in Smolensk, Ilyenkov grew up in Moscow. His mother was the teacher Yelizaveta Ilyinichna (Ilyenkova), his father the novelist Vasily Ilyenkov (1897–1967). The family lived in a commune house, a progressive form of early Soviet housing popular with the intelligentsia. Shortly before the German invasion of the Soviet Union, Ilyenkov began studying philosophy at the famous Moscow Institute of History, Philosophy and Literature (IFLI). There, his teacher Boris Chernyshev (1896–1944) sparked Ilyenkov’s interest in classical German philosophy. An expert in Greek philosophy, Chernyshev also introduced him to the history and study of dialectics, which he considered essential for forming philosophical arguments.

In Moscow, during the height of Soviet war propaganda against fascism and German culture, Ilyenkov read Hegel and listened to Wagner. In 1942, being drafted into the Red Army, he interrupted his studies. He marched to Berlin as an artillery lieutenant with his camera, and photographs from that time show him posing in uniform. At Dorotheenstadt cemetery, he visited the graves of Hegel and Fichte. Upon his return to the Soviet Union in 1946, he continued his studies at the Faculty of Philosophy in Moscow, graduating with honours in 1950.

Communist Cosmology

The late 1950s saw a renaissance of philosophy in the Soviet Union. Previously banned thinkers and ideas briefly gained popularity. Hegel and the Romantics weere now seen as forerunners of Marxism-Leninism. Ilyenkov organized a private reading group in his apartment to discuss Hegel’s Phenomenology of Spirit, which had just been published in Russian. Still, despite de-Stalinization, he was unable to publish his first philosophical works. In Notes on Wagner (Zametki o Vagnere), published posthumously, Ilyenkov interprets Wagner as a radical socialist and a Romantic counter-figure to Marx, detecting in his music traces of an anti-capitalist cosmology.[1]

Ilyenkov’s most important text, Cosmology of the Spirit (Kosmologiia dukha), also remained unpublished during his life. Drawing on Engels’s Dialectics of Nature, Ilyenkov argues that in communism, the act of thinking materially manifests itself as a cosmic event – a crucial stage in the circular evolution of the solar system which, according to the laws of thermodynamics, can only end in thermal death. To defy the law of entropy in the solar system, he suggested that humanity would commit collective suicide, as “a gesture of self-destruction on the part of communist reason.”[2]

According to Ilyenkov, matter gains consciousness in certain parts of the universe. The “thinking brain appears as one of the necessary links, locking together the universal [vseobshchee] big circle of universal [mirovoi] matter.”[3] Cosmology of the Spirit draws on scientific theories and innovations, such as thermodynamics, the Soviet space program and the construction of the first nuclear power plant near Moscow in 1954. It is a reflection on technology and materialism and was Ilyenkov’s first attempt to develop a theory that can avoid both crude materialism and idealism.

Philosophy as the Science of Thinking

Ilyenkov’s official career had begun in 1953 when he completed his thesis on Marx’s materialist dialectics. He soon became a popular lecturer in philosophy. After Stalin’s death in 1952, philosophy in the Soviet Union shifted towards scientification, circumvening political or ideological questions. In 1954, Ilyenkov and Valentin Korovikov (1924–2010) were commissioned to write a paper on the status of philosophy. They argued that the categories of logic are the forms in which human practice embodies scientific knowledge, and that their historical development belongs to the domain of philosophy. Philosophy is therefore not a meta-science, but, they claimed, rather the science of thinking, analyzing its general laws and historical development. For Ilyenkov and Korovikov, this renewal of philosophy would need to be accompanied by a transformation of the entire system of science. Each scientific discipline would have to develop its subject matter and methodology without the interference of other scientific disciplines. Philosophy’s task would be to generalize and interpret the results of the natural sciences, devoting itself to each science with its own categories and concepts. Their 15 Theses provoked fierce resistance among the philosophical establishment. After a general meeting at the Faculty of Philosophy of Moscow’s State University in the spring of 1955, during which Ilyenkov and Korovikov clashed with members of the conservative establishment, a decision was taken to ban both scholars from teaching. While Korovikov left academia and became a successful journalist for Pravda in Africa, Ilyenkov took up a position at the Philosophical Institute of the Academy of Sciences. There he was supported by Bonifaty Kedrov (1903–1985), who had been one of the founders and the first editor-in-chief of Voprosy Filosofii [Problems of Philosophy], the leading philosophy journal in the Soviet Union.

The Ideal in Dialectical Materialism

Having posited philosophy as the science of thinking, Ilyenkov sought to further develop Marxist epistemology. Of course, the very notion of thinking poses a challenge for every materialism, including dialectical materialism. It asks whether thought is just a function of the material brain best explained by physiology. Popular theories by the physician and physiologist Ivan Pavlov (1849–1936) led many philosophers to believe that physiology would provide all the answers. Ilyenkov strongly opposed the view that thinking could be reduced to a measurable product of the brain. Instead, he insisted that only philosophy would be up to the task of understanding what thought and thinking are. He therefore introduced the concept of “the ideal” into Soviet Marxist philosophy, arguing that philosophy should attempt to explain in on a material basis. The ideal is the idea that the foundation of thinking should be sought in the historical development and social practices of humans, rather than in their biological makeup. In 1962, in an important article in the Soviet Encyclopedia of Philosophy, Ilyenkov explained his position:

“The ideal is not an individual-psychological, even less a physiological fact, but a social-historical fact […] realized in the manifold forms of social consciousness and the will of the human being as a subject of the social production of material and spiritual life.”[4]

For Ilyenkov, the ideal encompasses feeling, thinking and the psyche, but also culture and theory. According to him, all these phenomena possess a special kind of objectivity, distinct from that of physical-material matter. The ideal, he suggests, exists independently of any particular individual human being. However, it depends on humanity’s material reproduction processes. The ideal is essentially the social interactivity of all people. It assumes form as a relationship between material things, processes and events, whereby an object remains what it is while simultaneously representing another object, just as a coin remains a coin but at the same time functions as a means of payment in society, thus representing a social relationship.

Ilyenkov opposed attempts to limit the ideal to the psyche or to locate it within the brain. He defends this view in the sci-fi parable On Idols and Ideals (1968), an intense critique of cybernetics, automation and artificial intelligence. From the mid-1950s onwards, cybernetics had been discussed in the Soviet Union as a potential break-through in overcoming economic and social stagnation. Ilyenkov was sceptical of such visions of “machine communism” and insisted that human thinking possessed unique strengths.

According to Ilyenkov, a conscious human being is not a thinking machine. He or she is an embodied, social being with different organs of thinking: brain, hands, and eyes. What distinguishes a human being from a machine is its ability to deal with contradictions and to comprehend alterity. Whereas a machine can only process information according to its own logic “through rubber-stamped actions encoded into the hand or mind,”[5] humans have the ability to interact with many things that are not themselves. To create artificial intelligence, Ilyenkov argues, it is not enough to create a “model brain.” The brain on its own is as incapable of thinking as legs removed from the body are of walking. Organs can only work when connected to what Ilyenkov, with reference to Spinoza, calls a “thinking body.” This body is not necessarily an individual’s body, but rather the totality of social activity.

The Zagorsk Experiment

The idea that the foundation of thinking should be sought in the historical development and social practices of humans, rather than in their biological makeup, is referred to as the “ideal.” The concept of the ideal can be explained with reference to the sensory activity of “thinking bodies” in space and in their interactions with others. This position was not a central belief to Soviet Marxism because it defied experimental verification, but Ilyenkov found like-minded thinkers within cultural-historical psychology, such as Alexander Luria (1902–1977) and Alexei Leontiev (1903–1979), who also wanted to break the dominance of physiology in this matter. His closest ally at the time was the psychologist Alexander Meshcheriakov (1923–1974), temporarily a colleague of Luria, who headed the laboratory for deaf-blind education at the Institute of Defectology in Moscow. Later on, Mescheriakov headed a school for blind and deaf children that was located in Zagorsk (today Sergiyev Posad) in the suburbs of Moscow. Known as the “Zagorsk Experiment,” the innovative education of deaf-blind people under his aegis made history. After Meshcheriakov’s death in 1974, Ilyenkov continued his work until his suicide in 1979 (fig. 2).

Fig. 2: Ilyenkov and his deaf-blind student Alexander Suvorov, early 1970s. Credits: Elena Illesh

While Meshcheriakov primarily tried to clarify what distinguished deaf-blind people from those who can see and hear, Ilyenkov was more interested in exploring where the human mind begins and how it works. With his work, he challenged Western Enlightenment’s idea that the mind forms a self-contained, interior world accessible only through language. Meshcheriakov and Ilyenkov’s work with deaf-blind children suggested that learning to speak through tactile sign language is a social, embodied process that cannot be reduced to an individual’s acquisition of language. The development of the mind begins when a child engages in an elementary activity, such as initiating a coordinated movement in space. If the child is deaf-blind from birth, and if unassisted, they cannot satisfy its need to eat. Through interactions with parents or teacher, a child learns the actions they require to satisfy their basic needs. In the case of learning to use a spoon a child has to adapt their hand movements to the shape of the spoon and learn the necessary physical motions. Initially, they resist this motion because they do not know that a spoon can be used to eat soup. Only with practice is a mark left on the child’s thinking body. Ilyenkov drew a provocative conclusion from his work in Zagorsk. All expressions of the human mind are socially determined:

“The whole of the human mind (all 100 percent of it and not 80 percent or even 99 percent) emerges and develops as a function of the work of the hand in an external space filled with such objects as a spoon, a potty, a towel, a pair of pants, socks, tables and chairs, boots, stairs, windowpanes, and so on. The brain is merely the natural material that turns into an organ of specifically human life activity and the mind only as a result of the actively formative influence of active work by external organs of the body in an external space filled not with natural but with artificially created things.”[6]

Some of Ilyenkov’s pupils at Zargosk went on to graduate from the Faculty of Psychology at Moscow University, such as Alexander Suvorov, who earned a doctorate in psychology. Could it be said that such success stories proved correct the ideas of Ilyenkov and his colleagues? His critics thought not, and the Zagorsk Experiment was heavily criticized from the start. It was argued that being deaf-blind automatically limits a child’s development. By contrast, Ilyenkov’s inclusive, anti-ableist vision for the human being pointed to what was achievable in a socialist society.

On his 100th anniversary, Ilyenkov may teach us that philosophy, psychology and pedagogy are not three different disciplines but one science dedicated to the same ideal: the development of human personalities, in harmony with their environment and with each other.

 

Isabel Jacobs is a PhD student in Comparative Literature at Queen Mary University of London, Martin Küpper is a PhD student at Kiel University and doctorand at the project “Philosophy in Late Socialist Europe: Theoretical Practices in the Face of Polycrisis” at Babeș-Bolyai University. Together with Zaal Andronikashvili and Matthias Schwartz (both ZfL), they organize the International Conference Images of the Ideal. Evald Ilyenkov at 100, taking place at the ZfL from the 15th to the 17th of May 2024.

 

[1] Evald Ilyenkov: “Notes on Wagner,” translated by Isabel Jacobs, in: Studies in East European Thought (2024).

[2] Alexei Penzin: “Contingency and Necessity in Evald Ilyenkov’s Communist Cosmology,” in: e-flux Journal 88 (February 2018).

[3] Evald Ilyenkov: “Cosmology of the Spirit,” in: Stasis 5.2 (2017), 164–190.

[4] Evald Ilyenkov: “Ideal’noe” [1962], translated by Isabel Jacobs, in: Kul’turno-istoricheskaia Psikhologia 2 (2006), 18.

[5] Ibid.

[6] Evald Ilyenkov: “A Contribution to a Conversation About Meshcheriakov” (1975), in: Journal of Russian and East European Psychology 45.4 (2007), 85–94, p. 93.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: Evald Ilyenkov at 100, in: ZfL Blog, 8.5.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/05/08/isabel-jacobs-martin-kuepper-philosopher-of-the-ideal-evald-ilyenkov-at-100/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240508-01

Der Beitrag Isabel Jacobs/Martin Küpper: Philosopher of the Ideal: EVALD ILYENKOV AT 100 erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Falko Schmieder: SOZIODIZEE DES KAPITALISMUS https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/04/17/falko-schmieder-soziodizee-des-kapitalismus/ Wed, 17 Apr 2024 08:12:09 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3262 In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Glossare zu Leitvokabeln der Gegenwart entstanden, auffällig oft konzipiert von Soziolog*innen. Mit diesem flexiblen Genre lässt sich auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen reagieren, die auch in der Sprache ihren Niederschlag finden. Die Transformationen der Semantik indizieren tiefgreifende Wandlungen kollektiver Wahrnehmungsweisen, Erwartungshaltungen sowie Zeitvorstellungen; ihre Analyse dient so einer historischen Weiterlesen

Der Beitrag Falko Schmieder: SOZIODIZEE DES KAPITALISMUS erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Glossare zu Leitvokabeln der Gegenwart entstanden, auffällig oft konzipiert von Soziolog*innen. Mit diesem flexiblen Genre lässt sich auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen reagieren, die auch in der Sprache ihren Niederschlag finden. Die Transformationen der Semantik indizieren tiefgreifende Wandlungen kollektiver Wahrnehmungsweisen, Erwartungshaltungen sowie Zeitvorstellungen; ihre Analyse dient so einer historischen Selbstaufklärung der Gegenwart, die sich mit wachsender Geschwindigkeit selbst überholt und ins Präzedenzlose vorstößt. Armin Nassehis Buch zu gesellschaftlichen Grundbegriffen setzt diese Reihe soziologischer Standortbestimmungen im Medium der Sprachreflexion fort (Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede, München: Beck 2023).

In seiner Einleitung nimmt der Münchner Soziologe Bezug auf die großen, bereits in den 1960er Jahren konzipierten begriffsgeschichtlichen Lexika, die Geschichtlichen Grundbegriffe und das Historische Wörterbuch der Philosophie, die er als Dokumente »einer historischen Situation« versteht, »in der womöglich zum letzten Mal eine kanonisierbare Bestandsaufnahme gemacht werden konnte« (15). Die Gegenwart sieht er im Unterschied dazu durch eine wachsende Beliebigkeit und »geradezu programmatische Fluidität und Freihändigkeit« (ebd.) charakterisiert, der er mit seinem Buch entgegenwirken möchte. Zu diesem Zweck nimmt er sich in eigenständigen Essays insgesamt 19 Begriffe vor, die in der öffentlichen Kommunikation den Status von Grundbegriffen erlangt haben: Demokratie, Freiheit, Fremdheit/der Fremde, Gesellschaft, Gleichheit/Ungleichheit, Handeln, Identität, Kommunikation, Konflikt, Krise, Kritik, Kultur, Lebenswelt, Macht, Natur, Öffentlichkeit, Populismus, Technik, Wissen. Seine soziologische Begriffsarbeit verfolgt das Ziel, die gesellschaftlichen Debatten über sich selbst aufzuklären und auf ein höheres Niveau zu heben. Diesem Anspruch liegt die These zugrunde, dass die gesellschaftlichen Grundbegriffe theoriehaltig und die öffentlichen Debatten, in denen sie Verwendung finden, daher theoriebedürftig sind. Theoriehaltig sind die Begriffe, weil sie Nassehi zufolge ihren Ursprung in der Soziologie haben und von hier in allgemeinere Diskurse eingewandert sind. Im Zuge dieser Diffusion seien die theoretischen Gehalte sukzessive in die Latenz abgedrängt worden oder ganz in Vergessenheit geraten.

Mittels einer soziologischen »Rückholaktion« (9), die er zugleich als »Wiedereinführung von Selbsteinschränkungen« (15) oder auch als »begriffshygienische Maßnahme« (22) versteht, möchte Nassehi nun prüfen, ob die Begriffe noch angemessen funktionieren, bzw. sie durch eine Neubestimmung ihres jeweiligen theoretischen Gehalts schärfen. In einiger Spannung zu diesem normativen Anliegen steht Nassehis Behauptung, es solle keineswegs darum gehen, »irgendjemanden auf einen richtigen oder legitimen Begriffsgebrauch festzulegen« (9). Vielmehr gehe es um eine funktionalistische Analyse, die danach fragt, welche Funktion der jeweilige Begriff im öffentlichen Gebrauch hat, für welches Problem er die Lösung ist und worin sich das wissenschaftliche vom außerwissenschaftlichen Bezugsproblem der Begriffe unterscheidet.

Aus der Perspektive der historischen Semantik erscheinen einige Grundannahmen aus der Einleitung Nassehis problematisch. Zum einen ist es erstaunlich, dass Nassehi den Ursprung der von ihm behandelten Begriffe in der Soziologie verortet. Denn etliche von ihnen haben ihre Wurzeln bereits in der Antike, während die Soziologie doch, wie er selbst zeigt, erst um die Wende zum 20. Jahrhundert als eigenständige akademische Disziplin entstanden ist. Statt von einer »Rückholaktion« der Begriffe zu sprechen, wäre es demnach wohl angemessener, nach den spezifischen soziologischen Perspektivierungen in der Geschichte der Begriffe und nach ihrer Relevanz für die Orientierungsversuche in der Gegenwart zu fragen. Damit verbunden erscheint es nicht unproblematisch, den wissenschaftlichen (soziologischen) Sprachgebrauch derart strikt vom öffentlichen Sprachgebrauch abzusetzen. Diese Entgegensetzung ist auch insofern unplausibel, als Nassehi selbst nicht die Perspektive der Soziologie im Allgemeinen, sondern mit der Systemtheorie einen Ansatz unter vielen anderen vertritt. Nassehi versteht dann auch sein Buch »als eine (Selbst-)Kritik der Soziologie« (17), als Einsatz, »der einen Unterschied machen« soll, der sich »aus einer bestimmten Art des soziologischen Argumentierens« (18, Hervorhebungen im Original) ergibt – des systemtheoretischen nämlich. Gerade hier, in der kritischen Auseinandersetzung mit konkurrierenden soziologischen Deutungen, besteht ein großer Reiz von Nassehis begrifflicher Aufklärungsarbeit.

Jeder Begriffsessay folgt demselben Schema und ist an der Leitfrage orientiert, für welches Problem der jeweilige Begriff die Lösung ist. Wenn das Buch im Untertitel als Glossar der öffentlichen Rede vorgestellt wird, dann ist das missverständlich, denn Nassehi ist nicht am Facettenreichtum und den verschiedenen, je nach Sprechergruppen differierenden Bedeutungen, sondern eher an allgemeineren Argumentationsfiguren interessiert, ohne dass allerdings klar wird, für wen diese Argumentationen charakteristisch sein sollen. Idiosynkratisch erscheinen auch die Rückgriffe auf soziologische Theorietraditionen. Eine durchgehende Konstante ist der Rekurs auf eigene Arbeiten, deren Befunde zuweilen als Versatzstücke übernommen werden. Der organisierende Zentralbegriff Nassehis, von dem her Licht auf viele andere Begriffsanalysen fällt, ist der der Gesellschaft, dem ein eigener Essay gewidmet ist. Nassehi macht vielen soziologischen Ansätzen, etwa dem Konstruktivismus oder der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours, den Vorwurf, keinen Sinn für die Form des Gesellschaftlichen zu haben (vgl. 287). In der öffentlichen Debatte setze sich dieses Defizit fort. Einen Tiefpunkt, der Nassehi schaudern lässt, markiert die Wendung »Wir als Gesellschaft«, die immer dann strapaziert wird, wenn ein großer Problemdruck konstatiert und ein entsprechender Veränderungsbedarf angemahnt wird (vgl. 94). An dieser Wendung deutet sich bereits an, zur Bewältigung welches Problems der Gesellschaftsbegriff verwendet wird – nämlich des Problems, einem abstrakten, in verschiedene autonome Teilsysteme mit jeweils eigener Logik ausdifferenzierten System eine Adresse zu geben, die es erlaubt, strukturelle Probleme zurechenbar zu machen:

»Gesellschaft dient zumeist als Imaginationsbegriff für eine soziale Einheit, der begrifflich mehr Einheit unterstellt wird, als tatsächlich vorzufinden ist.« (71)

Mit dieser Lösung, die eine Scheinlösung sei, werde verdeckt, dass es in der Gesellschaft kein Zentrum gibt und dass auf allgemeine Probleme keine Antwort aus einem Guss möglich ist. Hier wie auch in etlichen anderen Begriffsessays führt Nassehi das Beispiel des Klimawandels an, der zwar als allgemeine Bedrohung der Überlebensbedingungen erscheint, aber dennoch nicht zentral und nach Maßgabe der besten wissenschaftlichen Einsichten angegangen werden kann, weil es eben kein einheitliches, mit sich identisches Handlungssubjekt gibt. Die Reduktion der Gesellschaft auf ein kollektives Wir muss somit ein ums andere Mal die von der Systemtheorie exponierte Komplexität der Gesellschaft verfehlen und bleibt so im Wiederholungszwang von Forderungen fixiert, die sich nicht einlösen lassen.

Der Vorwurf der Komplexitätsreduktion zieht sich leitmotivisch durch das ganze Buch. In der Analyse des Begriffs Handeln wird als ein zentrales Problem herausgestellt, dass das Handeln von vorgelagerten Bedingungen abhängig ist, die durch den Handlungsakt selber nicht kontrolliert oder bestimmt werden können – ebenso wenig wie die Konsequenzen, die sich aus den Handlungen ergeben. Gerade die für aktivistische Bewegungen charakteristische emphatische Beschwörung, endlich ins (transformative) Handeln zu kommen, täuscht für Nassehi über die Bedingtheit und die begrenzte Reichweite des Handelns hinweg. Im Pathos des Handelns sieht Nassehi eine Soziodizee par excellence. Er versteht darunter kognitive Formen,

»die dabei helfen, die Komplexität der Welt bzw. der Gesellschaft durch semantische Anker und Signale gewissermaßen unsichtbar zu machen. Solche begrifflichen Soziodizeen verdecken die Komplexität ihres Bezugsproblems und erzeugen […] illusorische Vorstellungen darüber, wie die Dinge funktionieren.« (139)

Ähnlich gelagert ist die Argumentation im Essay zum Begriff Konflikt. Der Konfliktbegriff hat für Nassehi in den öffentlichen Debatten die Funktion, in komplexen Verhältnissen durch die Konzentration auf eine Konfliktlinie oder einen binären Grundkonflikt eine Eindeutigkeit zu generieren und damit die wahren, vielfach überdeterminierten Konfliktverhältnisse zu simplifizieren. Auch der Einsatz des Begriffs Öffentlichkeit evoziere mehr Einheit, als empirisch nachvollziehbar sei. Seine performative Funktion sieht Nassehi darin, die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft kommunikativ adressierbar zu machen und eine Sphäre zu simulieren, in der sich die Gesellschaft über sich selbst verständigen kann (vgl. 310). In Bezug auf seinen eigenen Ansatz muss sich Nassehi allerdings fragen lassen, ob er in seiner Gegenüberstellung von soziologischem und öffentlichem Diskurs nicht selber eine krasse Simplifizierung vornimmt, wenn er die öffentlichen Diskurse auf zentrale Argumentationsstränge reduziert und die Vielstimmigkeit der Semantiken in den diversen Begriffsstreitigkeiten einebnet.

Die Spezifik des kritischen Einsatzes Nassehis tritt vielleicht am deutlichsten in seinem Essay zum Begriff der Kritik selbst hervor. Als eine Art argumentativer Leitfaden dient hier Reinhart Kosellecks Dissertationsschrift Kritik und Krise, an der Nassehi vor allem die Diagnose der fortschreitenden Abstraktion von den konkreten Anlässen und Verhältnissen und der daraus resultierenden Verselbständigung der Kritik hervorhebt, ohne jedoch ein Wort über die verschwörungsmythischen und aufklärungsfeindlichen Dimensionen dieser Arbeit zu verlieren. Wenn Nassehi zustimmend Wendungen Kosellecks zitiert wie diejenige von der sich selbst Absolution erteilenden Kritik, die »alles und jedes in den Strudel der Öffentlichkeit« ziehe mit der Konsequenz, dass die Kritik zu einer »geheimnisvollen Herrschaft« anwachse, »die alle Lebensäußerungen verfremdet« (214), dann schreibt er diesen Verschwörungsmythos fort. Kosellecks Ausführungen dienen Nassehi als Blaupause für seine eigene Kritik an kapitalismuskritischen Protestbewegungen, denen er die Abstraktifizierung der Kritik zum Vorwurf macht. Der kritische Habitus habe sich hier verselbständigt und gerate zur selbstgefälligen Pose, bei der Kritik sich gegen alles richte und dabei jeden Bezug verliere. Die Protestierenden könnten sich darin umso bequemer einrichten, als sie keine Probleme lösen müssten. Sachlich begründet Nassehi die Verselbständigung der Kritik mit dem Umstand, dass die aufs Ganze des Kapitalismus zielende Kritik keinen Angriffspunkt findet. Dies ergebe sich zwangsläufig, da der Kapitalismus, den er als »Chiffre für die Struktur der modernen Gesellschaft« oder als »Platzhalter für das Unbehagen an der Unübersichtlichkeit der Moderne« (220) versteht, kein Gegenstand für emanzipatorisches Handeln sein kann.

Kritik, so Nassehi, müsse konstruktiv sein und brauche stets eine konkrete Adresse, sonst laufe sie ins Leere. Der frei flottierenden Kritik, die sich von konkreten Gegenständen ablöse, hält Nassehi die im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft breit ausdifferenzierten institutionalisierten Formen der Kritik und des Widerspruchs entgegen, die etwa in politischen und rechtlichen Verfahren, in der Bildung, in der Kultur und Kulturkritik etabliert sind und die sich um die Bewältigung konkreter Probleme bemühen. Nassehi weist aber auch darauf hin, dass die Protestbewegungen ihre radikalisierte Kritik nicht zuletzt damit begründen, dass die institutionalisierten Formen der Kritik angesichts der immer drängender werdenden Probleme versagen (vgl. 217). Der Konflikt, der sich hier abzeichnet, ist ein politischer und kann auf dem Papier nicht gelöst werden. Mit Bezug auf die Klimakrise als wohl größte Herausforderung räumt Nassehi ein, dass es gerade die Erfolge der Moderne sind, die zur Gefährdung der Überlebensbedingungen geführt haben:

»Daraus aber abzuleiten, dass es sich um geradezu notwendige Entwicklungen handelt, wäre insofern naiv, als es die Möglichkeit von Selbstkorrekturen ausschlösse. Die Entwicklung des Kapitalismus ist jedenfalls eindeutig ein Gegenbeispiel, weil er eben stets und immer wieder zu Selbstanpassungen in der Lage war, und für die ökologische Krise sollten wir dies zumindest hoffen.« (194)

Mit Blick auf die ungebrochenen Trends der Großen Beschleunigung erscheint Nassehis Position allerdings reichlich naiv. Sie lädt dazu ein, seinen Kampfbegriff der Soziodizee auf seinen Ansatz selbst anzuwenden, als semantische Form der Naturalisierung und Sakralisierung der Gesellschaft. Eine sachliche Ursache liegt paradoxerweise in Nassehis Gesellschaftsbegriff, dessen Unzulänglichkeit schon darin zum Ausdruck kommt, dass er ›Kapitalismus‹ lediglich als Chiffre statt als adäquaten wissenschaftlichen Begriff ansehen kann, der die spezifische Form der modernen Gesellschaft erfasst. Ein Grundcharakteristikum dieser Gesellschaft ist der mit dem Profitmotiv verbundene permanente Wachstumszwang. In den 1970er Jahren erschien es den Kritikern der politischen Ökologie noch als Binsenweisheit, dass auf endlicher Grundlage kein unendliches Wachstum möglich ist. Es wurde ein notwendiger Zusammenhang zwischen kapitalistischem Wachstum und Naturzerstörung konstatiert. Hans Magnus Enzensberger, der Begründer des Kursbuchs, dessen heutiger Herausgeber Nassehi ist, war nur einer unter vielen, die daraus das existenzielle Erfordernis der Überschreitung der kapitalistischen Wirtschaftsweise abgeleitet haben. Selbst Niklas Luhmann hatte in den 1980er Jahren die Möglichkeit erwogen, dass das System so auf seine Umwelt einwirkt, dass es später in dieser Umwelt nicht mehr existieren kann. Nassehi hält unter deutlich verschärften Gefährdungsbedingungen an der Illusion einer ökologischen Selbstkorrektur der Gesellschaft fest. Von vielen Aktivist*innen der Protestbewegungen wird diese Illusion eines grünen Kapitalismus nicht mehr geteilt. Nicht wenige scheinen resigniert und den Glauben an eine Veränderung der Gesellschaft verloren zu haben. In diesem Sinne lässt sich vielleicht auch die allgemeinere Wende zur Identitätspolitik und die Konzentration auf Identitätsfragen deuten, die Nassehi einmal mehr als Kompensation für die »Nicht-Erreichbarkeit« von strukturellen gesellschaftlichen Problemen ansieht (vgl. 157).

Falko Schmieder leitet am ZfL das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Falko Schmieder: Soziodizee des Kapitalismus, in: ZfL Blog, 17.4.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/04/17/falko-schmieder-soziodizee-des-kapitalismus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240417-01

Der Beitrag Falko Schmieder: SOZIODIZEE DES KAPITALISMUS erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Sebastian Truskolaski: AKTIVISMUS, OFFENSIV UND POLEMISCH: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/03/07/sebastian-truskolaski-aktivismus-offensiv-und-polemisch-randbemerkung-zur-fruehgeschichte-eines-begriffs/ Thu, 07 Mar 2024 09:19:22 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3249 Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar »Aktivismus und Wissenschaft« von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. Eva Geulen etwa verweist auf den etliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert kennzeichnenden Gegensatz zwischen einer sich weltfremd im Elfenbeinturm ereignenden vita contemplativa und einer sich engagiert-praktisch Weiterlesen

Der Beitrag Sebastian Truskolaski: AKTIVISMUS, OFFENSIV UND POLEMISCH: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>
Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar »Aktivismus und Wissenschaft« von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. Eva Geulen etwa verweist auf den etliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert kennzeichnenden Gegensatz zwischen einer sich weltfremd im Elfenbeinturm ereignenden vita contemplativa und einer sich engagiert-praktisch gestaltenden vita activa. Zur Veranschaulichung nennt sie eine »Kontroverse zwischen Herbert Marcuse und Jürgen Habermas aus den späten 1960er Jahren«, in der Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Praxis verhandelt wurden. In der Folge wird die Frage aufgeworfen, ob denn die Polarität von »›Elfenbeinturm‹ vs. Engagement« unter heutigen Bedingungen so noch bestehe oder ob wir es nicht eher »mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus ›von oben‹ und ›von unten‹ zu tun« haben.

Tatsächlich sehen sich Forschende heutzutage immer öfter dazu genötigt, den unmittelbar praktischen Mehrwert ihrer Arbeit im Namen eines vermeintlichen Aktivismus zu Markte zu tragen, nicht zuletzt, um den Empfang etwaiger Fördergelder zu rechtfertigen. So könnte man auch fragen, was denn die erwähnte Konvergenz für die vielleicht bekannteste Formulierung des Spannungsverhältnisses von Aktivismus und Wissenschaft bedeutet, nämlich für die Marx’sche Forderung, die Philosophie (und damit stellvertretend die Geisteswissenschaft) habe die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern.[1] Jedenfalls hätte der berühmte letzte Abschnitt aus den Thesen über Feuerbach im gegenwärtigen universitären Rahmen eine ganz andere Resonanz als noch bei Habermas und Marcuse. Die Konvergenz von Aktivismen von oben und unten müsste dann auch heißen: die Aufhebung eines kritisch-transformativen Imperativs. Im Zeitalter des Impact-Faktors wäre Wissenschaft dann nicht mehr kritisches Medium transformativer Praxis, sondern nur noch affirmativer Leistungsträger; und Aktivismus wäre kein direkter Eingriff mehr in bestehende Ungerechtigkeiten, sondern ein Aspekt korrekter Abrechnungsmethodik. Aus Negation müsste sich folglich Affirmation ergeben (Adorno ahnte dies schon früh); das kritisch-polemische Moment des Aktivismus »von unten« ginge verloren.

Nun lässt sich gewiss nicht leugnen, dass den Aktionen von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion Polemik innewohnt (ikonoklastische Angriffe auf bekannte Kulturgüter oder die Stillstellung großstädtischen Pendlerverkehrs seien hier angeführt). Obwohl sie von wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgehen (zum Beispiel den Berechnungen der katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung), stehen diese Gruppen – wohl auch aus strategischem Kalkül – in keinem klaren Verhältnis zu dem, was gemeinhin Wissenschaft genannt wird. So drängt sich die Frage auf, worin eigentlich der kritische Zug im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus liegt, wenn die institutionelle Konvergenz der Aktivismen von oben und unten zur Affirmation tendiert?

***

Möglicherweise ist es lohnenswert, Geulens Verfahren des Rückgriffs aufzunehmen und sich auf ein weiteres streitbares Beispiel aus der frühesten Geschichte des Aktivismusbegriffs zu besinnen, von dem zuweilen behauptet wird, es handele sich um die früheste Okkurenz dieses Wortes überhaupt.[2] Die Rede ist vom sogenannten »literarischen Aktivismus«,[3] auf den auch Henning Trüper in seinem Blogbeitrag zum ZfL-Jahresthema anspielt, wenn er vom »Umfeld des Expressionismus« spricht, in dem der »Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erstmals politisch Fuß fasste«. Was hat es hiermit auf sich?

Tatsächlich ist es so, dass Kurt Hiller (1885–1972) – deutsch-jüdischer Publizist, expressionistischer Impresario und pazifistischer Aktivist – diese Wortprägung für sich beansprucht. So soll bei einem Treffen seines Berliner Kreises anno 1914 »Literarischer Aktivismus« als Name der von ihm gegründeten, »ethisch-politischen« Bewegung beschlossen worden sein.[4] Die Organe dieses Aktivismus waren vorrangig Periodika, allen voran die ab 1916 von Hiller und seinem Kreis herausgegebene Zeitschrift Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist, in deren Namen sich bereits eine gewisse Vorstellung von Aktivität ankündigt (der Untertitel änderte sich im Laufe der Jahre mehrmals, etwa 1919–20, als die Zeitschrift in Das Ziel: Jahrbücher für geistige Politik umbenannt wurde). 1924 wurde sie jedenfalls endgültig von der Zensur verboten. In der Zwischenzeit trat Hiller unter anderem zusammen mit Magnus Hirschfeld aktiv für Schwulenrechte ein und agitierte als Teil des »Rates geistiger Arbeiter« im Kontext der Münchener Räterepublik gegen den Kapitalismus; bis zu seinem Tod im Jahre 1972 mischte er die publizistische Landschaft Deutschlands weiter auf.[5]

Mit seiner Zeitschrift aber ging es dem jungen Hiller vornehmlich um eins: um die Literatur als politisches Werkzeug im Dienste radikaler gesellschaftlicher Veränderung. Schon aus diesem Grund empfiehlt sich für die Literaturwissenschaft die Auseinandersetzung mit seinen Positionen. In seinem die erste Ausgabe beschließenden Beitrag Philosophie des Ziels[6] schreibt Hiller im charakteristisch hochtrabendem Duktus des abtrünnigen Expressionisten (der stets angriffslustige Hiller zerstritt sich alsbald mit vielen expressionistischen Wegbegleitern): »Ziel« sei »die Weltverbesserung« (34), die von der Ablehnung des Weltkriegs und des Zustands allgemeiner geistiger Verkümmerung auszugehen habe (41). Dieses Ziel sei durch »Erziehung […] der Jugend, des Volkes« zur »Aktivität« zu erreichen (35), vor allem durch die Herausbildung eines »tätige[n] Geistes« (42), welcher wiederum an anderer Stelle mit »Verantwortung« (38) gleichgesetzt wird. Voraussetzung derartiger Tätigkeit sei eine spezifische Gemeinschaftsform, zu deren Formierung Hiller explizit aufruft: ein »Bund« der Geistigen (42), der »in lauter kleine Einzelbünde« (50) zu unterteilen wäre. Nicht umsonst spricht Hiller anderenorts von seiner »Reverenz« für den für seine Generation wohl bedeutendsten politisch-literarischen Aktivisten, Gustav Landauer, trotz aller Abneigung gegenüber dessen Anarchismus.[7] Das Modell des Bundes – das Wort lässt Freiwilligkeit und Konkordanz vermuten – versteht der Marx-Kritiker Hiller allerdings gar nicht demokratisch, sondern ausgesprochen elitär. So schreibt er etwa: »Es bleibt ein Irrtum, die Pyramide der menschlichen Gesellschaft […] von der Basis her bearbeiten zu wollen«, wo doch die »kräftigere Methode« die »von oben« sei (44). Hiller beruft sich auf eine prophetische Form von Führerschaft, eine quasiplatonische »Monarchie – des Besten« (53), in der vor allem »der Literat von morgen« zum »große[n] Verantwortliche[n]« stilisiert wird, dessen »Intellekt […] die Tat nicht mehr hemmt« (48).

Obschon die Platon-Analogie spätestens mit dem Auftritt des Literaten endet, nimmt Hiller hier sein späteres Lob dessen, was er Logokratie nennt, vorweg. Das brachte ihm schließlich die durchaus berechtigte Kritik seines ehemals ebenso jugendbewegten Zeitgenossen Walter Benjamin ein.[8] Es folgen in der Philosophie des Ziels einige aktivistische Gedanken zur Rolle der Wissenschaft und zum Begriffspaar »Geist und Praxis« (46). So sei die Wissenschaft im Zuge der modernen Arbeitsteilung »zerfallen in nützliche […] und überflüssige« Wissenschaft, wobei angeblich nur letztere in irgendeiner residualen Verbindung zum Geist zu stehen vermag. An die Stelle der arbeitsteiligen Pseudowissenschaft müsse laut Hiller eine andere treten, nämlich eine aktivistische, die den historisch gewachsenen Gegensatz von Geist und Praxis aufzuheben verstünde. So behauptet er apodiktisch: »Geist und Praxis – das war ehemals eine Antithese; heute bezeichnen diese Worte korrelative Abhängigkeit« (47), wenn auch nur im Horizont des Ziels: »Der Geist setzt die Ziele, die Praxis verwirklicht sie« (47) – man müsse nur wollen. Ob dies wirklich so einfach geht, darf man bezweifeln. Die eigentlichen Ziele des Ziels folgen am Ende des Textes. Unter anderem beinhalten sie die »Abschaffung der Todesstrafe« und des »Krieges«, die »Umgestaltung der höheren Erziehung«, die »Gewährung eines Existenzminimums«, und eben die »Einführung der Monarchie – des Besten« (51–53). Manchem davon kann man vielleicht heute noch etwas abgewinnen; anderen Forderungen bestimmt nicht, wie etwa jener nach »Rationalisierung der Kindererzeugung nach eugenischen Gesichtspunkten« (53), die Hillers elitären Bund-Gedanken zur Gänze disqualifiziert.

***

Wozu nun dieser historische Exkurs, wo doch Hillers Programm eines literarischen Aktivismus unter heutigen Gesichtspunkten – sachte formuliert – problematisch erscheinen muss (das war es wohl schon immer)?

Einen Grund liefert eine Randbemerkung Hillers, in der es um die Charakterisierung des von ihm geforderten aktivistischen Bundes als »offensiv« geht. Dieser Bund zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er sich polemisch von dem absetzt, was er seinem Selbstverständnis nach nicht zu sein hat. So teilt Hiller zum Beispiel in dem »Durchstoß zum Aktivismus« betitelten Abschnitt seiner Autobiographie aufs Schärfste gegen Hegel aus, der als ein »zum Riesen aufgeblasener Denkknirps und Pfuscher« verunglimpft wird; »wann«, wird hier etwa gefragt, »steigt aus dem Wellenschaum« des überflüssigen Hegel-Erbes endlich »die Aphrodite einer Doktorarbeit, die Opus für Opus […] das Fäkalische der Hegelprodukte nachweist?«[9] Derartige Stellen gibt es bei Hiller viele. Offensiver, polemischer, zugespitzter geht es kaum.

Nun berufen sich die prominenten Aktivismen von heute wohl aus guten Gründen nicht auf Hiller (ohnehin kann man das Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus schwerlich mit Verweis auf Genealogien dieser Art bestimmen). Gleichwohl ist das marginale historische Interesse der Literaturwissenschaft an Hillers Person doch auch dies: wissenschaftlich; und als wissenschaftliches – zumal als literaturwissenschaftliches – darf es vielleicht den bescheidenen Anspruch erheben, Hillers Aktivismus doch zumindest diesen polemischen (sprich: offensiven) Zug abzugewinnen, just jenen also, der im heutigen, zum Affirmativen tendierenden Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus allzu oft fehlt.

Der Komparatist Sebastian Truskolaski ist Lecturer (Assistant Professor) in German Cultural Studies an der University of Manchester; am ZfL bearbeitet er als Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung sein Projekt »Gesten von Gemeinschaft: Hölderlin bei Benjamin, Landauer und Rosenzweig«.

[1] Vgl. Karl Marx: »Ad Feuerbach«, in: Karl Marx / Friedrich Engels Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1998, S. 21.

[2] Vgl. Matthias Heine: »Aktivisten aller Länder, vereinigt euch!«, in: Die Welt, 26.2.2014.

[3] Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, Frankfurt am Main 1981.

[4] Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit, Hamburg 1969, S. 98. Vgl. Daniel Münzer: Kurt Hiller: Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015.

[5] Vgl. Wolfgang Rothe: »Einleitung«, in: Der Aktivismus, 1915–1920, hg. von Wolfgang Rothe, München 1969, S. 7–21.

[6] Kurt Hiller: »Philosophie des Ziels«, in: Der Aktivismus, 1915–1920 (Anm. 5), S. 29–54. Alle Nachweise erfolgen direkt im Text.

[7] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 138.

[8] Vgl. Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 179. Vgl. auch Lisa Marie-Anderson: »Translator’s Preface: Kurt Hiller, Anti-Cain: A Postscript to Rudolf Leonhard’s Our Final Battle Against Weapons«, in: Walter Benjamin: Toward the Critique of Violence: A Critical Edition, hg. von Peter Fenves und Julia Ng, Stanford 2021, S. 179–185.

[9] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 99–100.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sebastian Truskolaski: Aktivismus, offensiv und polemisch: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs, in: ZfL Blog, 7.3.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/03/07/sebastian-truskolaski-aktivismus-offensiv-und-polemisch-randbemerkung-zur-fruehgeschichte-eines-begriffs/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240307-01

Der Beitrag Sebastian Truskolaski: AKTIVISMUS, OFFENSIV UND POLEMISCH: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs erschien zuerst auf ZfL BLOG.

]]>