Oliver Precht: AUCH EINE GESCHICHTE DER THEORIE

»Das Folgende«, stellt Morten Paul gleich zu Beginn seiner Studie über Suhrkamps (mehr oder weniger) graue Bände klar, »ist keine Geschichte der Theorie, sondern eine Geschichte der Theorie-Reihe« (Morten Paul: Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg, Leipzig: Spector Books 2023, 18). Vielleicht hatte er beim Verfassen dieses Warnhinweises noch den Vorwurf im Ohr, den Gerhard Poppenberg in seinem Essay Herbst der Theorie an Philipp Felschs viel gelesenes Buch Der lange Sommer der Theorie gerichtet hat: Felsch verenge die komplexe, an eine Vielzahl von Orten, Institutionen, Produktions- und Rezeptionsmilieus gebundene Theoriegeschichte auf die spezifischen von ihm untersuchten Kontexte, nämlich auf »die Verlage Suhrkamp und Merve, die Berliner FU und die Subkultur der Siebziger- und Achtzigerjahre«.[1] Hinter diesem etwas wohlfeilen Vorwurf steht eine Vorstellung von Theoriegeschichte, die sich keineswegs von selbst versteht. „Oliver Precht: AUCH EINE GESCHICHTE DER THEORIE“ weiterlesen

Kirk Wetters: The Short Spring of German Theory (II): WE HAVE ALWAYS BEEN POSTCRITICAL

Theory, Critique, Critical Theory

In the retrospect of almost a decade, the year 2015 seems to offer at least two openings which can help us better understand and localize the “end of theory” narratives that began to take hold sometime around the end of the millennium. Rita Felski’s much-discussed and much-maligned 2015 book, The Limits of Critique, construed the long history of “critique” as largely continuous with the more recent (postwar) idea of “theory,” which allowed her to question the presupposed progressivity and utility of the dominant critical-theoretical discourses of late 20th-century North American academia. In the same year, Philipp Felsch’s Der lange Sommer der Theorie (which was recently published in English as The Summer of Theory) went so far as to assign specific dates, 1960–1990, and tended to define theory not as a purely academic product, but as a much wider cultural movement.[1]  Between the two books, questions of the difference between theory and critique, their specific institutional locus within and beyond academia, became objects of acute concern. „Kirk Wetters: The Short Spring of German Theory (II): WE HAVE ALWAYS BEEN POSTCRITICAL“ weiterlesen

Kirk Wetters: The Short Spring of German Theory (I): POSITIVISMUSSTREIT VS. POETIK UND HERMENEUTIK

Transatlantic Theory Canons

In present-day Germany, research on postwar academia, up through the 1960s and beyond, requires no special justification. But from the North American side, the point of this scholarly activity—including the many new editions and a flood of archive-based publications—is much less obvious. For the most well-established figures of the period, the primary international canonizations were already part of the first waves of the reception, the theoretical tectonics established themselves accordingly, and the theories were established as theories—which are in many quarters presumed to be just as reliable today as they were decades ago. One might say that the international and North American reception of European theory has manifested an overall tendency toward sedimentation, while the dynamic of scholarly research about theory, including the archival unearthing of new sources, tends to complicate and undermine the established corpus of “primary texts.” For example, not only does the quantity of new German publications on (and by) figures like Hans Blumenberg or Siegfried Kracauer widen the rift and amplify the asynchrony between North American and German academic cultures, it also heightens awareness for the fact that these somewhat “second tier” figures were extremely important all along. „Kirk Wetters: The Short Spring of German Theory (I): POSITIVISMUSSTREIT VS. POETIK UND HERMENEUTIK“ weiterlesen

Oliver Precht: GIBT ES EINE »BRAZILIAN THEORY«?

Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie French Theory (oder in jüngerer Zeit auch Italian Theory)[1] herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm.[2] Dennoch bietet die Rede von einer French Theory – im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Frankreich entstandenen und popularisierten Sammelbegriffen Poststrukturalismus oder Postmoderne – einige Vorteile. Sie verpflichtet die disparaten Theorien erstens nicht auf ein gemeinsames Programm und verweist zweitens darauf, dass die Produktion von Theorie an einem bestimmten Ort geschieht, in diesem Fall im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre, und ihre Entstehung an einen gesellschaftlich-politischen Kontext sowie an institutionelle Rahmenbedingungen gebunden ist. In jüngerer Vergangenheit drängt sich zunehmend die Frage nach einer möglichen Brazilian Theory auf. Bereits 2014 erschien in Deutschland, allerdings in englischer Sprache, unter dem Titel The Forest and the School eine erste Anthologie.[3] In den folgenden Jahren nahm das Interesse an Theorie aus (und über) Brasilien spürbar zu, was sich nicht zuletzt in einer Reihe von Übersetzungen niederschlug.[4] Als Timo Luks diese Entwicklung 2020 unter dem Titel »Brasilianische Interventionen« im Merkur reflektierte, konnte er bereits feststellen: »Brasilen ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken«.[5] Selbst von einer sich andeutenden »Brasilianisierung der Theorie« ist hier die Rede. „Oliver Precht: GIBT ES EINE »BRAZILIAN THEORY«?“ weiterlesen

Anna Förster: THEORIE – ÜBERSETZUNG – GESCHICHTE

Sammelbände zu rezensieren ist eine notorisch schwierige Angelegenheit. Dies liegt – vor allem anderen – an ihrer programmatischen Heterogenität. Häufig wird vollkommen Disparates mit hohem argumentativem Einsatz zusammengespannt und unter das Dach einer im Grunde nicht ein- sondern lediglich zugeschriebenen Leitfrage gezwungen. Sehr viel seltener ist hingegen, dass Vielfalt und Unterschiedlichkeit seiner Zugänge, Standpunkte und Argumente dem Sammelband nicht zum Nachteil gereichen, sondern, im Gegenteil, sich mimetisch zur Unabgeschlossenheit einer aktuellen Diskussion verhalten. Genau so verhält es sich erfreulicherweise im Falle des von Wolfgang Hottner herausgegebenen Sammelbands Deutsch-französischer und transatlantischer Theorietransfer im 20. Jahrhundert (Stuttgart: J.B. Metzler, 2020). Denn die Diskussion über die Frage, welche Rolle Übersetzungsprozesse für die Theoriegeschichte spielen und welchen Stellenwert ihnen die Theoriegeschichtsschreibung einzuräumen habe, wird – von wenigen Ausnahmen abgesehen[1] – zumindest hierzulande erst seit Kurzem ernsthaft geführt. „Anna Förster: THEORIE – ÜBERSETZUNG – GESCHICHTE“ weiterlesen

Eva Geulen: STREIT UND SPIEL

Von den vielen Vorwürfen an die Adresse der Geisteswissenschaften trifft derjenige ins Herz unserer Fächer, der behauptet, dass wir das Streiten verlernt haben und diskussionsmüde den Konsens suchen. Wenn die Diagnose wirklich zutreffen sollte, dass wir uns nicht mehr streiten können oder wollen, dann wäre das in der Tat ein Armutszeugnis. Denn wir sind es doch, die sich Kritik und Dissens auf die Fahnen geschrieben haben. Deshalb und weil es in unseren Kontexten zwar gute und weniger gute Argumente gibt, aber keinen letzten Beweis, ist der Streit so etwas wie unser Lebenselixier. „Eva Geulen: STREIT UND SPIEL“ weiterlesen