Drucken

Paul Alsberg

geb. 7.7.1882 in Hagen / Westf., gest. 1965 in London.

A. war praktizierender Frauenarzt. Promoviert hatte er 1907 in Leipzig mit einer Dissertation über Syphilis.[1] Studiert hatte er nach dem Abitur 1901 in Köln an den Universitäten in Heidelberg, Würzburg, Berlin und Müchen, wo er auch die ärztlichen Staatsprüfungen ablegte. Obwohl er zuletzt noch in Berlin ein klinisches Praktikum absovierte, promovierte er 1907 in Leipzig. Danach hatte er in Berlin eine Praxis am Kurfürstendamm. In Verbindung damit publizierte er zu frauenärztlichen Fragen, z.B. über nachgeburtliche Probleme.[2] 1933 wurde er Opfer der rassistischen Pogrome und im KZ Oranienburg interniert. Durch US-amerikanische Interventionen, die seine Frau veranlaßt hatte, wurde er entlassen, und beide konnten 1934 emigrieren - intendiert in die USA, aber sie verblieben in Großbritannien. A. praktizierte dort in London weiter.

Er beteiligte sich an paläontologischen Diskussionen, bei denen das Verhältnis von Mensch und Affen im Vordergrund stand, so zu den 1891 gemachten Skelettfunden auf Java (in Trinil), die die Ansicht von einer Übergangsstufe, dem Pithekanthropos,[3] zu begründen schienen.[4] Darüber hinaus publizierte er zu kulturwissenschaftlichen Fragen, so mit einer recht differenzieren ‚Faust‘-Analyse, die Unterschiede in Goethes Entwurf gegenüber der gedruckten Fassung behandelt.[5]

Seine paläontologischen Überlegungen münzte er in einen anthropologischen Ansatz, der die Frage der Sprache nicht nur evolutionstheoretisch, sondern auch systematisch ins Zentrum stellte, weswegen er in dieser Dokumentation auch als Sprachforscher aufgenommen ist.1922 veröffentlichte er dazu einen synoptischen anthropologischen Aufriß Das Menschheitsrätsel,[6] in dem er systematisch zwei konzeptuell verschiedene Diskurse unterschied:

Mit dem letzten schließt er an Herder an, auf den er implizit durchgängig mit dem diakritischen Merkmal der „Besonnenheit“ verweist (z.B. S. 77, S. 106) – da es sich für ihn um einen Topos handelt, reicht es ihm, den Terminus in Anführungszeichen zu setzen, ohne Herder explizit zu nennen. Wie auch bei Herder hat seine Argumentation eine ethische Ausrichtung: die Sonderstellung des Menschen im animalischen Raum durch Freisetzung von instinktiver Gebundenheit gibt ihm die Verantwortung für sein Leben. Die animalische Konstitution des Menschen (die auch der traditionelle Terminus des animal rationale herausstellt) bietet nur die „Anschlußstelle“ für eine anthropologische Modellierung, deren Knackpunkt die „Befreiung“ von der körperlichen Gebundenheit ist. Dabei ist die „Befreiung vom Körper“ (so in variierender Formulierung durchgängig im Text) eine skalare Dimension, die den Unterschied zum Tier ausmacht, dessen evolutionäre Vielfalt auf die körperliche Anpassung an die Bedingungen der Umgebung ausgerichtet ist. Diese ist zwar auch in der Körperlichkeit des Menschen verankert, aber dessen Lebensform ist auf die Überwindung dieser Bindung orientiert. Dazu schafft sich der Mensch nicht-körperliche Ressourcen, Werkzeuge, die ihm eine solche Befreiung ermöglichen.

Insofern ist der Mensch durch den Umgang mit Werkzeugen definiert. Dazu gehören aber nicht nur körperexterne Ressourcen (Geräte), sondern auch immaterielle Werkzeuge. Als ein solches faßt er explizit Sprache. Werkzeuge sind nicht als Verlängerung der organischen Ausstattung des Menschen zu sehen, sondern als Lösung von der Bindung der menschlichen Aktivitäten an die Körperlichkeit. Die menschliche Ausrichtung auf den Werkzeuggebrauch hat Rückwirkungen auf die körperliche Konstitution: einerseits in der differenzierten Weiterentfaltung besonders der Hand, die als Scharnier zum externen Werkzeug fungiert, andererseits im Rückbau der evolutionär angelegten körperlichen Ressourcen. Erst dieser Rückbau der körperlichen Ressourcen macht den Menschen im Vergleich mit Tieren zum „Mängelwesen“,[7] das sich nur durch den Gebrauch dieser Werkzeuge reproduziert.

Eine solche Betrachtungsweise macht den gängigen evolutionären Vergleich mit den Affen problematisch. Auch diese sind so, wie sie sich der Beobachtung zeigen, Produkte einer Weiterentwicklung, aus der der Mensch nicht ableitbar ist - der Mensch stammt nicht vom Affen ab.[8]  Daher postulierte A. ein genetisches missing link, den Metapithecus, für den er recht differenzierte Überlegungen anstellte. Auszugehen ist von einem schwanzlosen Wesen, das nicht (mehr) aufs Klettern ausgerichtet ist: seine Hand dient nicht dem Klettergreifen (150), und der aufrechte Gang ist nicht nur eine Möglichkeit wie bei Affen sondern der Default bei der Fortbewegung. Dem folgen die anatomischen Veränderungen, z.B. auch in der Kopfform: die Lage der Augen im Schädel ist auf den Blick nach vorne ausgerichtet u. dgl.

Die spezifisch menschliche Entwicklung erweist sich als zunehmende Befreiung von der Körperbindung, wobei die Werkzeuge bzw. der Werkzeuggebrauch eine Schlüsselrolle hat. Das Werkzeug Sprache maximiert diese Befreiung. In ihrer körperlich (sinnlich) zugänglichen materialen Form (lautlich nicht anders als auch schriftlich, S. 65) bildet sie das Scharnier für das, was den Menschen auszeichnet: der Gebrauch der Vernunft (in vom Verstand kontrollierten symbolischen Aktivitäten), explizit so S. 107.[9] Der Schlußstein im Sprachbau, der dessen differenzierten Ausbau ermöglicht, ist die Freisetzung von Referenzialität als Bezeichnungsgrundlage, die durch ein Gegenstandskonzept möglich wird, das referenzielle Bezüge frei von deiktischen Bindungen macht (so z.B. S. 91 als Grundstruktur von „Wortsprachen“). Diese kognitiv ausgerichtete Modellierung von Sprache richtete sich gegen einen reduktiven Monismus mit Ausdrucksformen als analytischer Grundfigur wie bei W. Wundt (S. 89).

Die Habitualisierung des Rückgriffs auf die Sprache macht aus dieser einen konstitutiven Faktor des Menschseins: das Werkzeug Sprache ist nicht nur eine instrumentalisierte Ressource in dem Sinne, in dem auch Tiere gelegentlich den Gebrauch von Gegenständen machen (S. 83-88). Die Konsequenzen davon zeigen sich auch in der körperlichen Ausstattung, die im Vergleich mit den höheren Primaten offensichtlich die Folge eines Rückbaus ist: zwar hat die menschliche Form der Reproduktion positive organische Konsequenzen wie in der differenzierten Gliederung der Hand, aber der Rückbau der animalisch erreichten Ausstattung überwiegt.[10]

Die Nutzung des Werkzeugs Sprache ist skalar. In der kommunikativen Interaktion von Angesicht zu Angesicht bleibt die körperlich-sinnliche Bindung noch bestimmend, bei der schriftlichen Fixierung ist das nur noch in geringerem Maße der Fall. Vor allem aber erlaubt die sprachliche Form die Tradierung der damit artikulierten Erfahrungen, deren Verständnis nicht mehr daran gebunden ist, daß sie selbst gemacht worden sind (S. 106). Das ist offensichtlich die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit den Ausbau von Formen der Vergesellschaftung. Diese wirkt wiederum auf den Sprachbau zurück, bei dem sie sich in der typologischen Vielfalt zeigt, die in unterschiedlichen Lebensformen verankert ist. Der Sprachausbau drückt sich in den mit ihm möglich gewordenen kulturellen Praktiken aus (Kunst nicht anders als Wissenschaft, S. 79-82), die als Potential im Werkzeug Sprache angelegt sind.

Dabei unterliegt der Argumentation von A. ein ethischer Subtext. Die evolutionär aufgewiesene Kontinuität darf nicht verdecken, daß der Mensch bei ihr eine kritische Schwelle überschritten hat. Die Befreiung von der Körperbindung macht den Menschen verantwortlich für das, was er aus seiner Natur macht. Und so beendet A. sein Buch mit einem Verweis auf Pindars 2. Pythische Ode.[11] Zu dieser ethischen Ausrichtung gehört auch die implizite Abgrenzung von Rassentheorien. A. zeigt, daß die Rekonstruktion der beobachtbaren Verschiedenheiten monogenetisch erfolgen muß, mit der Rekonstruktion der Umgebungsfaktoren, die epigenetisch zur Rassendifferenzierung geführt haben, darunter auch Rückbildungen wie bei den Pygmäen.

Wie er es selbst herausstellte, folgte A. mit seinem genetischen Aufriß der Linie monistischer Entwürfe, die am Ende des 19. Jhd. im großen Stil ins Werk gesetzt wurden, allen voran von dem Mediziner und Zoologen Ernst Haeckel (1834-1919) und dem Soziologen Herbert Spencer (1820-1903). Dabei wurde das Leben als Selbstorganisation bestimmt, mit der endemischen Dynamik der Steigerung an Komplexität. Monistisch bedeutet hier, daß das, was sich so entfaltet, die Natur auf immer höher geschraubten Stufen ist. Insofern gibt es nicht den in der Tradition herausgestellten Gegensatz von Natur und Kultur, sondern die Kultur (mit ihren kulturellen Leistungen) wird als weiter entfaltete Natur bestimmt. A.s besondere Leistung, die ihm eine Schlüsselstellung im Feld der Sprachforschung zuweist, war es, die spezifische Rolle der Sprache in diesem Zusammenhang herauszuarbeiten. Eine weitergehende forschungsgeschichtliche Einordnung müßte den bei ihm nur angedeuteten „vitalistischen“ Konzeptualisierungen Rechnung tragen, die in den 1920e Jahren in den Vordergrund gerückt waren.[12]

A.s anthropologischer Aufriß (1922) war in den 1920er Jahren ein Standardverweis in den einschlägigen Diskursen. So verwies z.B. Max Scheler (1874-1928) bei seinen damals viel gelesenen synoptischen Darstellungen auf ihn, ohne das noch bibliographisch belegen zu müssen, so z.B. in „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (zuerst Berlin: Reichl 1927, danach vielfach neu aufgelegt, im Neudruck Bonn: Bouvier 1995: 42). 1933 verfiel die Schrift in Deutschland dem rassistischen Verdikt gegenüber dem Autor; sie wurde 1937 nur noch in Wien nachgedruckt. Unterdrückt wurde allerdings nur der Verweis auf den Autor; dagegen wurde dessen analytische Modellierung der anthropologischen Grundfragen „arisiert“.[13] Das war insbesondere das Werk von Arnold Gehlen (1904-1976) in seinem anthropologischen Aufriß Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (zuerst Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1940). Auch in den zahlreichen Neuauflagen dieses Buchs nach dem Krieg wurde diese Enteignung nicht transparent gemacht.[14]

 Q: Vita.

[1] Ueber Lues hereditaria tarda. Leipzig: B. Georgi 1907 (nicht gesehen, da in Österreich nicht verfügbar; biogr. Angaben daraus verdanke ich Clemens Knobloch); zu seinen ärztlichen Schriften s. die Angaben in https://www.worldcat.org/.

[2] Zur Therapie der puerperalen Uterusinversion, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 39 (23)/ 1913:1102-1102 (nicht gesehen).

[3] Zu gr. πίθηκος „Affe“. Der Terminus ist heute in der einschlägigen Forschung nicht mehr gebräuchlich.

[4] ‚Pithecanthropus erectus — Homo Trinilis‘ in: Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 25 / 1925: 165-170.

[5] ‚Homunkulus in Goethes "Faust"‘, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 1918: 115-134 – vorausgesetzt, er ist der Autor, was aber anzunehmen ist.

[6] Dresden: Sybillen-Verlag 1922. Eine überarbeitete Ausgabe erschien in Wien: Sensen Verlag. Seitenverweise im Folgenden beziehen sich auf deren Nachdruck (Gießen: Focus 1975) mit dem irritierenden Titel “Der Ausbruch aus dem Gefängnis – zu den Entstehungsbedingungen des Menschen“ (hg. von D. Claessens).

[7] Zu diesem Topos der anthropologischen Diskussion seit Herder, s.u.

[8] Ironisch ist das im übrigen auch in dem für die Terminologie grundlegenden gr. πίθηκος schon angelegt: dieses dient zwar als Bezeichnung für den Affen, hat aber die Grundbedeutung „häßlich“, mit der es auch die Basis für Beschimpfungen abgibt. Solche Diese können wortgeschichtlich eine große Festigkeit haben, wie z.B. im rheinischem („kölschen“) Deutsch [du Aap!], ohne die dort sonst erfolgte Konsonantenverschiebung (auch dort besucht man im Zoo die Affen).

[9] Die Klärung der Begrifflichkeit nimmt in dem Band einen relativ großen Raum ein, weil A. damit den Bruch mit dem reduktiven Diskurs herausstellt, der im Kielwasser von Wilhelm Wundt (1832-1920) gängig war. Dieser hatte den Versuch unternommen, mit der Figur von Ausdrucksformen die Besonderheit des Menschen in einem monistischen System zu eskamotieren, s. seine synoptische Darstellung Die Sprache in seiner zehnbändigen Völkerpsychologie (1900-1920, dort Bd. 2 in 2 Teilen Leipzig: Engelmann 1911).

[10] Diese Argumentation war vorher schon sehr systematisch im der marxistischen Reflexionstradition entfaltet worden, auf der Grundlage des von Hegel übernommenen umfassenden Begriffs der Arbeit als Entäußerung und Selbstverwirklichung des Menschen, z.B. von Friedrich Engels (1820-1895) in seinem Aufsatz „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ (1876) (in MEW 20: 444-455). Das dürfte auch als Grundlage für Weiterbildungsveranstaltungen im Umfeld der damaligen sozialdemokratischen Vereine gedient haben.  Offensichtlich hat sich A. damit aber nicht auseinandergesetzt.

[11] γένοι᾽ οἷος ἐσσὶ μαθών „Werde (sei) was du bist, <wie du es> erfahren (gelernt) <hast>“.

[12] Wie sie einflußreich z.B. von Hans Driesch (1867-1941) vertreten wurden. Dieser war zunächst Zoologe, seit seiner Habilitation (Heidelberg 1909) philosophisch ausgerichtet: mit einer Professur seit 1911 in Köln (seit 1920 o. Prof.). Er definierte Leben als selbstorganisierend (bei ihm: „Entelechie“). Bei ihm hörten und führten diesen Ansatz sprachanalytisch weiter Helmuth Pleßner (1892-1985), s. den Eintrag zu ihm, und sein Widerpart Arnold Gehlen (1904-1976), der die Arbeit des rassistisch verfolgten A. arisierte, s.u.

[13] Posthum ist noch in England eine gekürzte Fassung unter dem Titel In quest of man (Oxford: Pergamon 1970) erschienen.

[14] Das spiegelt sich in Gehlens Beziehung zu Wolfgang Harich (1923-1995), der als quasi offizieller marxistischer Philosoph in der DDR bereit war, sich über den zwischen ihnen bestehenden politischen Abgrund hinwegzusetzen, und eine nahezu freundschaftliche kollegiale Beziehung zu Gehlen aufbaute. Diese bekam erst nach dessen Tod einen Bruch, als Harich entdeckte, was er Gehlens "Plagiat" von Alsberg nannte, s. dazu jetzt in seiner Werkausgabe  (Baden Baden: Tectum) Band 11: Arnold Gehlen. Eine marxistische Anthropologie? (2019).

Zugriffe: 1515