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Goshen-Gottstein, Moshe Henry

Geb. 6.9.1925 in Berlin, gest. 14.9.1991 in Jerusalem.

 

G.-G. besuchte eine jüdische Schule in Berlin, bis die Familie 1939 nach Palästina emigrierte, nachdem der Vater als Repräsentant der jüdischen Gemeinde in einem Konzentrationslager in­terniert wurde. 1942-1951 besuchte er die Hebräische Univ. in Jerusalem (1947 M.A., 1951 Ph.D., seit 1944 in Verbindung mit seiner Tätig­keit als Lehrer). In dieser Zeit war er aktiv in der jüdischen Mi­liz (Haganah). Zeitweise (später?) arbeitete er auch bei der is­raelischen Tageszeitung Hacaretz.

In seiner Dissertation (1951 in Jerusalem auf Hebräisch publi­ziert; Betreuer war Tur-Sinai) untersuchte er arabische Einflüsse auf das mittelalterliche Hebräisch, besonders in der Syntax. Seitdem arbeitete er sowohl über das biblische Hebräische wie über das Neuhebräische (Ivrit). Seit 1950 lehrte er an der Univ. in Jerusalem, zeitweilig (seit 1969) gleichzeitig in Tel Aviv (Bar Ilan Univ., Ramat Gan). In Jerusalem hatte er bei Polotsky studiert und gehörte zu der Gruppe Sprachwissenschaftler, die an dem von diesem gegründeten sprachwissenschaftlichen Institut lehrten. Zum gegenwärtigen Ivrit hat er eine Reihe von grammatischen und lexikalischen Standardwer­ken verfaßt. Dabei war G.-G. methodisch am amerikanischen Strukturalismus orientiert und arbeitete strikt deskriptiv – bemüht, das Ivrit als eine lebendige Sprache nachzuweisen. Andererseits hat er aber in Verbindung mit seinen sprachgeschichtlichen Studien das Programm einer strukturellen Darstellung des Hebräischen entwor­fen, das dessen Identität über den Zeitraum seiner ganzen Entwick­lung hin herausstellt (und so gewissermaßen auch die Position von Tur-Sinai aufgenommen, als Gegenposition zu dem Ansatz, den H. B. Rosén vertrat), s. etwa »Semitic morphologi­cal structures. The basic morphological structure of Biblical He­brew«[1] – mit einer systemati­schen Auseinandersetzung vor allem mit den Analysen von Z. Harris.

Eine besondere Rolle spielte für ihn dabei wie schon in seiner Dis­sertation die Auseinandersetzung mit dem Arabischen: seit 1972 er­schien unter seiner Leitung in Tel Aviv ein Wörterbuch Ivrit-(Neu-)Arabisch.

Während er die kontrastive Arbeit mit dem Arabischen für zentral hielt, da sie im Sinne einer charakterisierenden Typologie die Besonderheiten des Hebräischen umso deutlicher zeigen kann (besonders durch die Analyse von Übersetzungsäquivalenzen), sah er in der traditionellen Orientierung am Arabischen als einer konservativen Form des Semitischen, die für die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft seit dem 19. Jhd. gewissermaßen axiomatisch ist, ein Forschungshindernis, das sich nicht zuletzt auch in der dominanten Orientierung an der Laut- und Formenlehre zeigt, der gegenüber eine systematische Lexikologie oder auch Syntax nicht in Angriff genommen wird, s. »The present state of comparative Semitic Linguistics«[2] – was ihn nicht gehindert hat, gerade auch die arabische Grammatographie systematisch für die hebräische Sprachwissenschaft zu nutzen.

Sein dominanter Arbeitsschwerpunkt war wohl die Bibelphilologie, in deren Rahmen er ein Projekt zur systematischen Rezension der verschiedenen Überlieferungen geleitet hat, gerade auch der nicht-hebräischen Versionen als Grundlage für eine neue Edition der hebräischen Bibel, die seit 1973 erscheint, vorher schon als Teilausgabe 1965 den Prophet Isaiah.[3] Die einzelnen Targumim hat er ebenfalls publiziert, nicht nur die aramäischen,[4] sondern z.B. auch die syrisch-palästinensischen (publiziert 1973). Die methodischen Prämissen dieses Unternehmens hat er in einer ganzen Reihe von Aufsätzen entwickelt, seit er es 1955 als Projekt lancierte. Eine Darstellung des sog. »Bibelprojekts der Hebräischen Universität in Jerusalem« hat er dort 1968 (auf Hebräisch) veröffentlicht. In dieses Projekt hat er auch den neu entdeckten Überlieferungsstrang der Schriftrollen von Qumran einbezogen (diese Schriftrollen waren 1947 entdeckt worden).[5] Die für ihn wichtigsten Arbeiten aus diesem Kontext hat er 1960 zu einem Sammelband zusammengefaßt,[6] in dem er sich explizit mit der deutschen Bezeichnung der Textwissenschaft und Textgeschichte zuordnet (s. S. VIII, Anm. 6). Nicht nur sind einige der dort reproduzierten Arbeiten ohnehin auf Deutsch verfaßt, er rekurriert durchweg auch in englischen Texten auf deutsche Termini (z.B. the Hebrew Vorlage... S. 143). Zu seinem Verhältnis zum Deutschen schreibt er: »I cannot withstand the temptation to use a language (d.h. Deutsch, U. M.) in which I can express myself with some dexterity« (S. VIII, Anm. 4).

Durchweg wird deutlich, daß er Textwissenschaft als eine Anwendung der Sprachwissenschaft verstand (vgl. etwa Kap. 8 dort: »Die Qumran-Rollen und die Hebräische Sprachwissenschaft«). Entsprechend heftig kritisierte er sprachwissenschaftlich nicht kontrollierte editorische Bearbeitungen des Bibeltextes, wobei Sprachwissenschaft für ihn hier notwendig vergleichende semitische Sprachwissenschaft impliziert (s. etwa Kap. 10 »The history of the Bible-Text and Comparative Semitics«). Zwar stand auch für ihn das Bemühen um die Rekonstruktion des religiös autoritativen »Urtextes« im Vordergrund, der nicht in einer Dokumentation der vielfältigen Überlieferung verdeckt werden darf, aber dieser ist eben nicht in jedem Fall eindeutig als Archetyp aus der Überlieferung extrapolierbar; die Edition hat die interpretatorischen Schwierigkeiten für den Benutzer transparent zu machen.

Seine Beziehung zur deutschen wissenschaftlichen Tradition blieb für ihn offensichtlich immer bestimmend (immer wieder führt er z.B. Kahle als Autorität an), wie er auch enge Beziehungen zu Mit-Emigranten unterhielt (vor allem zu dem in Anmerkungen gelegentlich ausdrücklich als »Freund« angesprochenen C. Rabin). Sein wissenschaftlicher Rang wird durch regelmäßige Gastprofessuren vor allem auch an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten bestätigt (jüdischen Universitätseinrichtungen, aber z.B. auch in Harvard). 1989 nahm er die Martin-Buber-Stiftungsprofessur an der Universität Frankfurt/M. wahr.

1985 war er infolge einer Komplikation bei einer Bypass-Operation bereits im Koma, hat sich dann aber soweit rehabilitieren können, daß er seine wissenschaftliche Produktion und auch die Lehrtätigkeit und Kongreßaktivitäten bis zu seinem Tod 1991 fortsetzen konnte. Sein Fall gilt als ein klinisches Wunder, das daher auch außerhalb der engeren Fachöffentlichkeit breiter diskutiert worden ist, vor allen Dingen auf der Grundlage der ausführlichen Darstellung seiner Frau Esther: »Recalled to life: the story of a coma«.[7]

Q: BHE; Nachruf in der New York Times v. 25.10.1991; E/J 2006.



[1] In: »Studies in egyptology and linguistics« (FS H. J. Polotsky), Jerusalem: Isr. Exploration Soc. 1964: 104-116. Zu G.-G.s vermittelnder Position in den sprachpolitischen Auseinandersetzungen in Israel, s. Kuzar 2001: 178-184.

[2] In: »Semitic studies in honor of W. Leslau« (FS W. Leslau), Wiesbaden: Harrassowitz 1991, I: 558-569.

[3] Zugleich in Leiden: Brill.

[4] Im engeren technischen Sinne werden nur die aramäischen Überlieferungen als Targumim bezeichnet, zu aramäisch targem (»übersetzen«).

[5] Ebenfalls von ihm ediert.

[6] »Text and Language in Bible Qumran«, Jerusalem: Orient Publishing 1960.

[7] New Haven: Yale UP 1990 (zuerst wohl Tel Aviv 1988); auch auf Deutsch »Rufe ins Schweigen«, Bergisch Glattbach: Bastei-Lübben 1993.

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