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Kraus, Paul Eliezer

Geb. 11.4.1904 in Prag, gest. 12.10.1944 in Kairo (Freitod).

 

K. kam aus einer (deutschsprachigen) jüdischen Familie in Prag.[1] Nach dem Abitur 1923 in Prag ging er zunächst in ein Kibbuz in Palästina und hörte auch schon orientalistische Veranstaltungen an der Hebräischen Universität. Danach (1923) begann er in Prag das orientalistische Studium mit dem Schwerpunkt bei der Semitistik: Altsemitistik, insbesondere auch Hebräisch und vor allem Arabisch. Von 1925 bis 1927 war er wieder im Vorderen Orient, wo er in Jerusalem das Studium fortsetzte und Reisen nach Syrien und Ägypten unternahm (und dort auch Lehrveranstaltungen besuchte). 1927 setzte er das Studium in Berlin fort, wo er 1931 mit »Altbabylonische Briefe aus der Vorderasiatischen Abteilung der Preußischen Staatsmuseen zu Berlin« promovierte.[2] Die Dissertation liefert eine Edition von 130 keilschriftlichen Briefen mit ausführlichen sprachlichen (etymologischen aber auch syntaktischen) und sachgeschichtlichen Erläuterungen, in Bd. 2 (S. 107-212) ein vollständiges Glossar mit allen Belegen der Formen und einer schriftgeschichtlichen Analyse mit einem vollständigen Verzeichnis der Ideogramme.

Im Anschluß an die Promotion war er Assistent am Institut für Forschungsgeschichte für die Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften in Berlin, wo er vor allem zu älteren arabischen chemischen Traktaten und ihren Quellen im Griechischen arbeitete, im Kontakt mit Fachkollegen, wie vor allem mit Massignon in Paris. 1932 habilitierte er in Berlin mit einer Untersuchung zu einem der Hauptwerke der arabischen Alchemielehre (als Rezeption hermetischer griechischer Quellen), das unter dem Pseudonym Ğabir ibn Ḥajjân überliefert ist.

Angesichts der rassistischen Verfolgung ließ er sich aus der Liste der Berliner Privatdozenten streichen[3] und emigrierte nach seiner Entlassung am Institut nach Paris, wo er auf der Grundlage seiner früheren Kontakte vor allem mit dem Islamwissenschaftler Massignon zusammenarbeitete und seine Forschungen zu den chemischen arabischen Traktaten fortsetzte, denen seine Habilitationsschrift gegolten hatte. In diesen hatte er Tarnschriften einer ismailitischen Sekte entdeckt, die im 11. Jhd. verfaßt und nur auf die islamische Frühzeit rückdatiert worden waren. Ausgehend von dieser Entdeckung arbeitete er jetzt weiter zu den häretischen und mystischen Strömungen im Islam. Seine wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten brachten ihm einen Lehrauftrag an der Sorbonne und auch an der École pratique des Hautes-Études ein.

Durch französische Vermittlung (von Massignon) erhielt er 1936 eine Dozentur an der Fouad Ier-Universität in Kairo, neben der er aber auch noch an der Universität in Alexandria lehrte. Hier führte er seine Forschungen zu den altarabischen chemischen Traktaten fort und publizierte 1942-1943 sein Hauptwerk als Überarbeitung der Habilitationsschrift »Jābir Ibn Ḥayyān. Contribution à l’histoire des idées scientifiques dans l’Islam«.[4] Die Ausgabe enthält neben einer genauen philologischen Analyse der Überlieferungsstränge und einer Rekonstruktion der griechischen Quellen vor allem auch eine systematische Darstellung des »alchemistisch« verpackten Denksystems, zu dem auch eine sprachtheoretische bzw. grammatische Theorie gehörte, die in der gleichen Weise alchemistisch modelliert war (s. Bd. II: 236-270).

In Verbindung mit diesen Arbeiten führte er auch seine Untersuchungen und Editionen anderer früher arabischer wissenschaftlicher Übersetzungen aus dem Griechischen weiter (die Editionen und Kommentare dieser Ausgaben redigierte er auf Latein), immer begleitet von ausführlichen Glossaren und insofern auch mit eigenständigen lexikographischen Anteilen. Seine kritische Kommentierung enthält detaillierte Anmerkungen zu Schwierigkeiten der Übersetzung aus der griechischen Vorlage ins Arabische, so z.B. in seiner Edition von Auszügen einer Plotin-Übersetzung: »Plotin chez les arabes«[5] – mit philosophischen (und zugleich sozialgeschichtlichen) Einordnungen dieses Textes in die mystische/sektiererische Tradition im Arabischen. Postum ist so noch gemeinsam mit R. Walzer eine Ausgabe in der von ihm herausgegebenen Reihe von Plato-Übersetzungen erschienen: »Galeni compendium Timaei Platonis«[6] – die Ausgabe war wohl schon 1939 in Beirut für den Druck fertig gemacht worden. Eine Reihe von Aufsätzen aus diesem Feld liegt jetzt im Nachdruck vor.[7]

Daneben betrieb er seine altsemitischen bzw. sprachvergleichenden Studien weiter, wobei er sich vor allem um die Rekonstruktion einer spezifisch semitischen Metrik bemühte. Auf dieser Grundlage rekonstruierte er auch die phonetische Form bei poetisch gebundenen assyrischen Keilschrifttafeln, »La forme littéraire des tablettes de Tel El-Amarna«.[8] Auch zu grammatischen Erscheinungen der vergleichenden semitischen Sprachwissenschaft lieferte er Beiträge, so zur Rekonstruktion der gemeinsemitischen Dual-Form, »Duels sémitiques méconnus«.[9]

K. litt unter seiner Exilsituation (zu seiner persönlichen Situation s. den Nachruf von Kuentz, Q). Er hatte enge Beziehungen zu weiteren Exilanten, zu dem schon genannten Walzer[10] und z.B. auch zu Reich (Rice) und Ritter, denen er für die Mithilfe an der J‚ābir-Arbeit dankt. Nachdem seine Frau 1942 bei der Geburt ihrer Tochter gestorben war, nahm er sich 1944 in Kairo das Leben, weil er seine Situation als aussichtslos sah: in Ägypten war er an diesem Tag entlassen worden und in Jerusalem war vorher ein Versuch, dort eine Anstellung zu erhalten, gescheitert.[11]

Q: LdS: temporary; E/J; B/J; Notgemeinschaft 1936; Lebenslauf und weitere Habilitationsakten im Archiv der Humboldt-Universität Berlin; Weibel/Stadler 1993. Nachrufe von G. Urdang, in: Aufbau (N.Y.) 44 vom 3.11.1944; H. J. Lewy, in: Mo’znayim 5/1945: 119-122 (auf hebräisch); Ch. Kuentz, in: Bull. de l‘Institut d‘Égypte 27/1946: 431-441 (mit teilweise abweichenden Angaben, z.B. anderes Geburtsdatum); R. Braque (Hg.), »P. K. Alchemie, Ketzerei, Apokryphen im frühen Islam«, Hildesheim usw.: Olms 1994 (mit einer Würdigung S. VII-XIII); Hanisch 2001: 49.



[1] Er hatte auch noch bei seiner Habilitation 1932 in Berlin die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit.

[2] Publiziert in 2 Bänden in den Mitteilungen der Vorderasiatisch-ägyptischen Gesellschaft (Bd. 35/2 und 36/1, Leipzig: Hinrich 1931-1932).

[3] Hanisch 1995: 224, FN 18.

[4] Kairo als Band 45/46 der Mémoires des Institutes. Das Werk gilt auch heute noch als grundlegend, s. G. Endress, »Die wissenschaftliche Literatur«, in: W. Fischer/H. Gätje (Hgg.), »Grundriß der arabischen Philologie«, Bd. 3/1992: 3-152, hier: 144-145.

[5] Bull. Inst. Égypte 23/1940: 263-295.

[6] London: Warburg Institut 1951.

[7] R. Braque (Hg.) 1994 (Q).

[8] Bull. Inst. Égypte 24/1942: 123-131.

[9] Bull. Inst. Égypte 26/1944: 264.

[10] Richard Rudolf Walzer (1900-1975), Philosoph mit dem Schwerpunkt bei der griechischen und arabischen Philosophie. Seit 1932 Privatdozent an der Berliner Universität, 1933 aus rassistischen Gründen entlassen, Emigration nach Italien, 1938 nach England, Professur in Oxford.

[11] Früher hatte er wohl auch schon vergeblich versucht, eine Stelle an einer indischen Universität zu erhalten (s. Braque, Q).

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