Künstlichkeit Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/kuenstlichkeit/ Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin Mon, 19 May 2025 09:44:09 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.8.3 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/wp-content/uploads/2019/01/cropped-ZfL_Bildmarke_RGB_rot-32x32.png Künstlichkeit Archive – ZfL BLOG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/tag/kuenstlichkeit/ 32 32 Aurore Peyroles: KÜNSTLICHKEIT UND KUNSTERFAHRUNG https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/19/aurore-peyroles-kuenstlichkeit-und-kunsterfahrung/ Mon, 19 May 2025 08:47:06 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3774 I. In der Haupthalle des Pariser Musée d’Orsay schwebte 2021 ein riesiger Bildschirm, auf dem rätselhafte Bilder zu sehen waren: Eis­schollen, aus denen Feuersäulen aufsteigen, Mondlandschaften mit Pfützen in bizarren Farben, Geisterschiffe, die über Packeis gleiten, aber auch Blumen mit doppelten Stempeln, die wie geklont aussehen und eine Art postapokalyptisches Herbarium bilden. Im Kontext der Weiterlesen

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I.

In der Haupthalle des Pariser Musée d’Orsay schwebte 2021 ein riesiger Bildschirm, auf dem rätselhafte Bilder zu sehen waren: Eis­schollen, aus denen Feuersäulen aufsteigen, Mondlandschaften mit Pfützen in bizarren Farben, Geisterschiffe, die über Packeis gleiten, aber auch Blumen mit doppelten Stempeln, die wie geklont aussehen und eine Art postapokalyptisches Herbarium bilden. Im Kontext der Ausstellung Les ori­gines du monde. L’invention de la nature au XIXe siècle (Die Ur­sprünge der Welt. Die Erfindung der Natur im 19. Jahrhundert) er­öffnete Artificialis, eine eigens für das Museum entworfene Präsentation des Films von Laurent Grasso, neue Perspektiven auf unsere heutige Welt – eine Welt, in der die Idee einer eigenständigen Natur, wie sie im 19. Jahrhundert Konjunktur hatte, nicht mehr gültig ist, eine Welt, in der nichts mehr ursprünglich und in der es nicht nur sinnlos, sondern praktisch unmöglich geworden ist, das Natürliche vom Künstlichen zu trennen.

Mit der Absicht, sie zu verkehren, greift der französische Künstler Darstellungs­verfahren der Naturforschung auf, die in Darwins Jahrhundert so folgenreich vorangetrieben wurde: als sei die Zone der titelgebenden Artifizialität, in der die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Realität und Virtualität, zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem hinfällig geworden sind, der letzte Konti­nent, der der menschlichen Erforschung noch offensteht.

»Ich habe versucht, Mo­men­te einzufangen, in denen man nicht mehr weiß, wo man sich befindet, zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen. ARTI­FI­CIALIS ist der Name für dieses hybride, postanthropozäne Territorium, in dem sich die Orientierungspunkte völlig aufgelöst haben«,[1]

erklärt Grasso. Zu erforschen ist nicht mehr die geographische Welt als Reservoir des Exotischen, terrae incognitae, sondern dieses gespenstische, vieldeutige und sich ständig verändernde Gebiet.

Die Erkundung dieses Territoriums vollzieht sich allerdings unter künstlichen Bedingungen. Grasso hatte ursprünglich geplant, in der ganzen Welt zu filmen und diese Bilder dann mit entstellenden Effekten zu versehen. Doch die Restriktionen der Covid-­19-Pandemie machten dies unmöglich. So verwendete er ausschließlich computergenerierte und im Internet zugängliche Bilder, die von ihm zusätzlich bearbeitet wurden. In einem hypervernetzten Universum sei es möglich, so Grasso, »aus der Welt wie aus einer Datenbank zu schöpfen und Spektren von Orten abzurufen, die symptomatisch für die Auswirkungen des Menschen oder der Technologie auf die Umwelt sind«.[2] Das Material des Films ist somit ein Amalgam aus Realität und Virtualität: Die meisten Bilder basieren auf Drohnenaufnahmen, die ›reale‹ Landschaften einfangen, aber durch die Vermittlung des Geräts und die Online-­Veröffentlichung zu technischen Bildern werden. Artificialis lädt zu einer Reise durch zahlreiche, potentiell unend­liche Darstellungen der Welt ein. Die Suche nach Authentizität scheitert zweifach: an der Künstlichkeit des Rohmaterials und an der Künstlichkeit der Spezialeffekte, der Vervielfältigungen und Überlagerungen, der Filter und Farben, mit denen Grasso das Material bearbeitet hat.

Der Einsatz von avancierten Technologien wie dem LIDAR-Scanner und von Spezial­effekten führe laut Grasso nicht zu einer verfremdeten und entwirklichten Realität, sondern ermögliche es im Gegenteil, in sie einzutauchen:

»So wie die Erfindung der Perspektive den Blick und das Sehen neu organisiert hat, […] führt die durch diese neuen Werkzeuge erzeugte Abbildung zur Entwicklung einer neuen Dimension, die die Gesetze der Schwerkraft und der Materie infrage stellt«.[3]

Anders als Baudelaires ›künstliche Paradiese‹ erlaubt Artificialis keine Flucht aus der Realität, sondern bietet sich der menschlichen Neugierde als neuartiges Erkundungsfeld dar. ›Artificialis‹ meint also weniger ein neues Land als vielmehr eine Vertiefung unserer Beziehung zur Welt dank neuer technologischer Mittel. Unbestimmtheit und Unentschiedenheit prägen Artificialis derart, dass Artifizialität kein »Konzept«, keine »abstrakte Idee« ist, sondern ein »intuitives Wissen mit unbestimmten Konturen, die in diesem Fall besonders unbestimmt sind«.[4] Doch weit davon entfernt, diese konstitutive Unbestimmtheit als Mangel oder Unzulänglichkeit zu betrachten, verwandelt Grasso sie in die Einladung zu einer Reise. Auf diese Weise bricht er mit der jahrhundertealten Tradition, die der Künstlichkeit stets einen Mangel – an Authentizität, Einfachheit, Spontaneität, Aufrichtigkeit, kurz: an Natürlichkeit – oder einen Überschuss – an protziger Virtuosität, überflüssigen Details, Kitsch, aber auch an Konvention – zugeschrieben hat. Stattdessen verwandelt er sie in ein faszinierendes und begehrenswertes Objekt, das uns er­mög­licht, unser Verständnis der Welt zu erwei­tern, anstatt uns von ihr zu entfremden.

Der Kontinent der Artifizialität öffnet sich also erst durch die kreative Geste des Künstlers. In seinem Atelier, das er als Labor bezeichnet, arbeitet Grasso mit seinen Assistent*innen an künstlichen Darstellungen natürlicher Umgebungen. Er setzt zwar modernste Technologien und technische Bilder ein, überlässt die Produktion seiner Kunst aber nicht einer künstlichen Intelligenz. Selbst wenn sich die Bilder in den vier Minuten von Artificialis in einer Endlosschleife wiederholen, erinnert ihr hypnotisierender Effekt, zu dem die von Warren Ellis komponierte Musik erheblich beiträgt, an die Aura des Kunstwerks. Unabhängig davon, ob die Kunst darauf abzielt, Natur abzubilden oder sich von ihr zu befreien, bleibt sie eine menschliche Tätigkeit, die es der Gattung unter anderem ermöglicht, »ihr kognitives Feld zu bereichern, indem sie ihren Wahrnehmungshabitus durchbricht und erneuert«.[5]

Aber gilt das noch, wenn Technologien nicht mehr nur wie bei Grasso Werkzeuge der menschlichen Kunstproduktion sind, sondern selbst ästhetische Gegenstände produzieren, die auf den Kunstmarkt gelangen und den Status des Künstlers und die schöpferische Absicht des Kunstschaffens auf neue Weise infrage stellen?

II.

Am 25. Oktober 2018 wurde das Bildnis Edmond de Belamy bei Christie’s in New York für 432.500 US-Dollar versteigert – zum 45-Fachen des Schätzpreises. Der erste Verkauf eines mit KI-Software hergestellten Kunstwerks bei einer Auktion warf einige grundlegende Fragen auf, so zum Status des Künstlers, zum Urheberrecht und zu seiner Bewertung durch den Kunsthandel. Das Werk des französischen Kollektivs Obvious wurde mithilfe eines Algorithmus hergestellt, der mit mehr als 15.000 zwischen dem 14. und 20. Jahrhundert ent­standenen Porträts trainiert worden war. Die von diesem ersten Generator-Algorithmus erzeugten Bilder wurden anschließend von einem zweiten, dem Discri­minator-­Algorithmus bearbeitet, und zwar mit dem Ziel, jene Porträts auszusortieren, die mutmaßlich von einer Maschine stammen.

Die fiktive Person wurde schließlich in ex­pressionistischen, groben Zügen als Halb­figur dargestellt, der schwarze Gehrock und der weiße Kragen evozieren ein westliches, bürgerliches Milieu. In der unteren rechten Ecke wurde das Porträt mit einer mathe­matischen Formel signiert und am Ende in einen 70 × 70 cm großen, gediegen anmutenden Gold­rahmen gesteckt. Diesem Bild war es also gelungen, den Dis­cri­minator-Algorithmus zu überlisten: Es wurde nicht mehr als maschinell hergestellt erkannt. So unterstreicht der erfolgreiche Ein­satz des zweiten Algorithmus die Erkennt­nis, dass der Zweck der künstlichen Intelligenz darin besteht, künstliche Artefakte so aussehen zu lassen, als wären sie von Menschenhand geschaffen worden, und das heißt in letzter Konsequenz: die Öffentlichkeit zu täuschen.

Doch obwohl Edmond de Belamy als bahn­brechende Neuerung beworben wurde, hat es das Genre der Porträtmalerei keineswegs revolutioniert. Radikale künstlerische Innovation ist ohnehin unmöglich, da jeder Kunst jahrhundertealte Praktiken und Tradi­tionen vorausgehen. Der Algorithmus kann nicht anders als wiederholend und kompilierend vorgehen. Er ist nicht dazu geschaffen, Brüche und Dissonanzen zu kreieren und darüber das Wesen menschlicher Er­fahrung in ihre Produktion zu integrieren. Diese Fähigkeit ist bislang dem Menschen selbst vorbehalten.

III.

Artificialis und Edmond de Belamy doku­mentieren unterschiedliche Auffassungen von Künstlichkeit und deren Verhältnis zur Kunst. Das Porträt, das aus den Experi­menten des Kollektivs Obvious hervorgegangen ist, ist Produkt einer Künstlichkeit, die in einem geschlossenen Kreislauf ver­bleibt: Diese Künstlichkeit verarbeitet vorhandene Werke und schafft daraus eine Art Schema, das auf Familienähnlichkeit basiert. Allerdings versucht Edmond de Belamy, seine künstliche Herkunft zu kaschieren und als menschliche Kunstschöpfung durchzugehen. Artificialis hingegen steigert seine Künstlichkeit noch durch die Bearbeitung digitaler Bilder mit Spezialeffekten. Hier gibt es keine Täuschung.

Grassos Kompositionen in Bewegung zeigen eine Welt, die von bizarren Wesenheiten durchdrungen ist, in denen Natürliches und Künstliches miteinander verwoben ist. Man könnte sagen, es handelt sich dabei um eine Neudefinition des Baudelaire’schen Schönen, das erst durch die Aufhebung oder Kombination von Gegensätzen zwischen Schönheit und Hässlichkeit, Vorläufigkeit und Unveränderlichkeit, Kontingenz und Absolutheit entsteht. Auch in Grassos Film werden überkommene Gegensätze aufgehoben; hier entsteht eine in sich hybride und bizarre Realität, ohne dass sie unheimlich wird. So verleiht Kunst der Künstlichkeit die Dimensionen eines zu erforschenden Kontinents – zumal, wenn die künstliche, hybride Kunstwelt in Beziehung gesetzt wird zu der Welt, die wir bewohnen, und zu der Art und Weise, wie wir sie erfahren. Künstlichkeit wird so nicht mehr nur als Gegensatz zur Natur oder zum Menschlichen verstanden, sondern als eine Möglichkeit, das Bestehende zu erfassen.

Die Literaturwissenschaftlerin Aurore Peyroles arbeitet am ZfL in dem Projekt »Kartographie des politischen Romans in Europa«. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2024/25, »Abschied von der Künstlichkeit«.

[1] Laurent Grasso: »Questions à Laurent Grasso, artiste contemporain«. Alle Zitate wurden von mir aus dem Französischen übersetzt.

[2] Ebd.

[3] Laurent Grasso: »Spectral Orsay«.

[4] Élisabeth Lavezzi /Thimothée Picard: »Artifice: le mot, la notion et le concept«, in: dies. (Hg.): L’artifice dans les lettres et les arts, Rennes 2019, S. 7–38, hier S. 10.

[5] Xavier Lambert: »Art et technologies: la création artistique à l’épreuve des artefacts naturels«, in: ebd., S. 336–344, hier S. 340.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Aurore Peyroles: Künstlichkeit und Kunsterfahrung, in: ZfL Blog, 19.5.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/19/aurore-peyroles-kuenstlichkeit-und-kunsterfahrung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250519-01

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Claude Haas: ZUR LAGE DER LITERATUR NACH DEM UNTERGANG IHRER KÜNSTLICHKEIT IN DER KÜNSTLICHKEIT https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/12/claude-haas-zur-lage-der-literatur-nach-dem-untergang-ihrer-kuenstlichkeit-in-der-kuenstlichkeit/ Mon, 12 May 2025 10:14:53 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3771 I. Bekenntnisse zur Künstlichkeit waren in der Literatur der Moderne lange Zeit an der Tagesordnung. Wie in der bildenden Kunst sind es in der literarischen Tradition vor allem Natur und Wirklichkeit, gegen die Künstlichkeit in Stellung gebracht wird.[1] »In meinen Büchern ist alles künstlich«, befand einst der selbsterklärte Naturhasser Thomas Bernhard.[2] Der Betonmarxist Peter Hacks Weiterlesen

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I.

Bekenntnisse zur Künstlichkeit waren in der Literatur der Moderne lange Zeit an der Tagesordnung. Wie in der bildenden Kunst sind es in der literarischen Tradition vor allem Natur und Wirklichkeit, gegen die Künstlichkeit in Stellung gebracht wird.[1] »In meinen Büchern ist alles künstlich«, befand einst der selbsterklärte Naturhasser Thomas Bernhard.[2] Der Betonmarxist Peter Hacks legte in seinen Überlegungen zum »Poetischen« die »Nichtidentität mit der Wirklichkeit« als »Merkmal jeglicher Kunst« fest, »auch der gegenständlichsten«.[3] In der bürgerlichen Kunst des 18. Jahrhunderts hatte man dies noch ganz anders gesehen. Dem Rousseauismus, der Empfind­samkeit und dem Sturm und Drang war Künstlichkeit ästhetisch und moralisch zuwider. Historisch betrachtet erweisen sich Künstlichkeit und Natürlichkeit als äußerst variable Zuschreibungen. Während Shakespeares Dramen Johann Gottfried Herder und dem jungen Goethe etwa als »Natur« galten,[4] wird ihre weltliterarische Geltung heute umgekehrt in ihrer Theatralität und Künstlichkeit erblickt. Auch weil es um Werturteile ging, waren die Debatten um Künstlichkeit in der Literatur lange Zeit von Animositäten und Polemik geprägt.

Die modernen Naturwissenschaften und die industrielle Revolution hatten seit dem späteren 19. Jahrhundert maßgeblichen Einfluss auf ein neues Verständnis von Künstlichkeit in der Literatur. Das zeigt sich vor allem am Ästhetizismus der Jahrhundertwende und an der décadence, den bis dato vielleicht künstlichsten literarischen Strömungen überhaupt. Ihnen gelang es, die Grenze zwischen Natur und Künstlich­keit neu zu dynamisieren. Jean Des Esseintes, die Hauptfigur von Joris-Karl Huysmans’ Roman Gegen den Strich (1884), schottet sich von Natur und Wirklichkeit in einer hochartifiziellen Welt ab. Er lässt den Panzer seiner Schildkröte mit Diamanten besetzen und duldet ausschließlich solche Pflanzen in seiner Umgebung, die den »Anschein einer künstlichen Haut«[5] erwecken. Zum einen flieht Des Esseintes die bereits alltäglich gewordenen medialen, wissenschaft­lichen und industriellen Entwicklungen seiner Zeit, indem er sie maßlos überreizt. Zum anderen versteht er es, künstlichen Pro­dukten exklusive Authentizitäts- und Natür­lichkeitsversprechen abzujagen. Über die neue Mode pasteurisierter Weine etwa heißt es:

»Folglich ist das Vergnügen, das man beim Kosten dieser verfälschten und künstlichen Getränke hat, ganz genau das gleiche wie das, das man empfände, ließe man sich den natürlichen und reinen Wein auf der Zunge zergehen, der übrigens auch für Gold nicht aufzutreiben wäre.«[6]

Künstlichkeit und Verfälschung zu letzten Garanten einer authentischen Natur­wahr­nehmung zu erheben, setzt eine Unter­scheid­barkeit der beiden Kategorien frei­lich voraus.

II.

Diese Unterscheidbarkeit ist es, die heute zum Problem wird. Jüngeren Autor*innen scheint es nicht mehr um eine Umdeutung des alten Gegensatzes zu gehen. Angesichts einer umfassenden industriellen Zerstörung der Natur, angesichts der Digitalisierung und einer rasant sich entwickelnden KI, angesichts von Deepfakes und Fake News und angesichts auch der Biotechnologien sind kaum noch ›natürliche‹ oder gesellschaftliche Bereiche identifizierbar, die sich der Künstlichkeit verlässlich entziehen oder sich gar als deren Widerpart ins Feld führen lassen könnten.

Diese Entwicklung hatte Donna Haraway in ihrem viel zitierten und aus heutiger Sicht tatsächlich visionären Cyborg-Manifest von 1985 bereits vorhergesehen, als sie meinte, die »Grenze, die die gesellschaftliche Reali­tät von Science-Fiction trennt«, entpuppe sich zusehends als »eine optische Täuschung«.[7] Mit dem Verschwinden der alten Dualismen von Geist und Körper oder Natur und Kultur scheinen auch der Künstlichkeit ihre traditionellen Gegner abhandengekommen zu sein.

Vergleichbare Diagnosen stellen weite Teile der Gegenwartsliteratur. So erbt der zeitgenössische Poproman von der décadence eine gewisse Vorliebe für das Dandytum und eine Hochschätzung alles Artifiziellen. Autoren wie Christian Kracht oder Leif Randt interessiert Künstlichkeit dabei vor allem in ihren als universell empfundenen gesellschaftlichen Konventionen, denen die Literatur idealerweise ohne Transgressionsbegehren nur noch nachspricht.[8]

Ähnliches gilt für Joshua Groß. In seinem Roman Plasmatropfen (2024) lässt der Er­zähler einen Protagonisten zeitweise mit seinem Exoskelett verwachsen und ihn Sex mit einem »Spechtmenschen« haben, ohne diese Momente als Science-Fiction oder phantastisch, geschweige denn als ›animalische‹ oder ›bestialische‹ Verheißungen irgendwelcher Utopien oder Dystopien zu präsentieren. Künstlichkeit erscheint bei Groß als eine allumfassende Normalität, mit der sich alle Figuren seines Romans vollständig abgefunden haben.

Mit Helen wählt er sich eine erfolgreiche Malerin zur Hauptfigur und zitiert damit den altehrwürdigen Künstlerroman an. Wie es sich für das Genre gehört, leidet Helen körperlich an ihrer Kunst, sie muss sich unablässig sogenannte Plasmatropfen in die Augen träufeln: »Plasmatropfen, Placebotropfen, Schmelzwasser, um ihre schwindenden Augenhöhlen zu befestigen.«[9] Allzu existentiell darf man sich diese Manie allerdings nicht vorstellen. Als in einer Galerie ihre Bilder gestohlen werden, nimmt Helen dies mit großer Indifferenz zur Kenntnis. Kunst und Künstlichkeit verlieren jede Anmutung von Tiefe, Originalität und Authentizität. Helens Bilder sind selbst lediglich eine Art Placebo. Ihre gesellschaftliche Wirkung steht in keinem zwingenden Verhältnis zu den von der Malerin angewandten ästhetischen Verfahren oder den eingesetzten Stimulanzien. Das »Schmelzwasser« verweist zwar auf das im Roman bedeutende Motiv des auftauenden Permafrosts, legt damit aber nur den Schwund einer Natur offen, der weder aufgehalten noch in eine neue ästhetische Erfahrung umgemünzt werden kann. An deren Stelle tritt bestenfalls noch eine Art körperlicher Tick.

Wenn sich die künstlichen Welten der Gegen­wart dadurch auszeichnen, dass sie sich alles gleichmachen, stellt das die Literatur vor gewisse Herausforderungen. Zwar ist Literatur aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit selbst unweigerlich künstlich. Doch ihr Potential lag in den verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit diesem oft als Bürde, Aporie oder umgekehrt auch als Segen empfundenen Umstand, der ihr bedeutende Spielräume der Darstellung, der Kreativität oder auch der Autorschaft verlieh. Bedeutet es den Untergang der Literatur, wenn ihre eigene Künstlichkeit jene Exklusivität oder auch nur Spezifik verliert, die sich ein Thomas Bernhard oder ein Peter Hacks noch zugute­halten durften? Zumal angesichts der Tatsache, dass es längst vollständig KI-gene­rierte literarische Texte gibt und eine »Unterscheidung zwischen natürlichen und artifiziellen Texten zusehends hinfällig« wird, die literarische Autorschaft also einmal mehr und viel grund­sätzlicher am Abgrund stehen könnte als jemals zuvor.[10]

Solche Probleme schneidet der Bestseller Die Anomalie (2020) von Hervé Le Tellier immerhin an. Mit einem Abstand von weni­gen Monaten landet in diesem Roman zweimal das gleiche (kaum aber dasselbe) Flugzeug, aus Paris kommend, in New York. Alle Passagiere gibt es nunmehr doppelt, ohne dass Original und Kopie noch unter­schieden werden könnten. Wer und ob hier jemand künstlich ist oder nicht, lässt sich nicht klären. Politik, Wissenschaft und Religion geraten in hellen Aufruhr.  Diskutiert wird zeitweilig, ob die gesamte Welt womöglich eine KI-generierte Simulation ist. Der Reiz der Lektüre verdankt sich wesentlich der Darstellung der Hilflosigkeit aller gesellschaftlichen Instanzen angesichts einer basalen Erschütterung, die der Roman seinen Leser*innen ausnehmend entspannt vor Augen führt. Sinnigerweise gibt es unter den doppelten Passagieren jedoch eine große Ausnahme: den Schriftsteller Victor Miesel, der sich zwischenzeitlich umgebracht hatte und der dank seines Suizids jetzt als einziger Fluggast singulär geblieben ist. Eine fröhlichere Allegorie auf die Selbstbehauptung der Literatur im Zeitalter ubiquitär gewordener Künstlichkeiten ist kaum denkbar. Die Literatur muss sich nur auf ihre Abgründe besinnen und zur Not auch zu ihrem Untergang bereit sein, dann wird ihr ihre Einzigartigkeit förmlich in den Schoß fallen. Woher auch immer.

Wenn irgendwann KI-generierte Romane solche Witze reißen können, ließe sich mit der Gelassenheit Michel Foucaults fragen: »Wen kümmert’s, wer spricht?«[11] Aber wahrscheinlich auch wirklich erst dann.

Der Literaturwissenschaftler Claude Haas leitet am ZfL gemeinsam mit Matthias Schwartz den Programmbereich Weltliteratur. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2024/25, »Abschied von der Künstlichkeit«.

[1]  Vgl. Étienne Souriau: [Art.] »artificiel«, in: Vocabulaire d’esthétique, Paris 1990, S. 173–175.

[2] Thomas Bernhard: »Drei Tage«, in: ders.: Der Italiener, Frankfurt a. M. 1989 [1971], S. 78–90, hier S. 82.

[3] Peter Hacks: »Das Poetische«, in: ders.: Die Maßgaben der Kunst [1966], mit einem Nachwort von Dietmar Dath, Berlin 2010, S. 9–115, hier S. 99.

[4] Johann Wolfgang Goethe: »Zum Shäkespeares Tag«, in: ders.: Werke, hg. im Auftrag der Herzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe], Weimar 1854 [1771],1. Abt., 37.Bd, S. 129–135, hier S. 133

[5] Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, übers. v. Brigitta Restorff, München 2022, S. 110.

[6] Ebd., S. 31.

[7] Donna Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs«, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 33–52, hier S. 33.

[8] Vgl. hierzu Claude Haas: »Kontrollierte Literatur. Überlegungen zur Gestik und Stilistik Leif Randts«, in: DVjs 97 (2023), S. 995–1002.

[9] Joshua Groß: Plasmatropfen, Berlin 2024, S. 50.

[10] Hannes Bajohr: »Artifizielle und postartifizielle Texte. Über die Auswirkungen Künstlicher Intelligenz auf die Erwartungen an literarisches und nichtliterarisches Schreiben«, in: Sprache im technischen Zeitalter 61 (2023), S. 37–61, hier S. 50.

[11] Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« [1969], in: Dorothee Kimmich/Rolf Günter Renner/Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 233–247, hier S. 247

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Claude Haas: Zur Lage der Literatur nach dem Untergang ihrer Künstlichkeit in der Künstlichkeit, in: ZfL Blog, 12.5.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/12/claude-haas-zur-lage-der-literatur-nach-dem-untergang-ihrer-kuenstlichkeit-in-der-kuenstlichkeit/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250512-01

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Georg Toepfer: KÜNSTLICHKEIT UND NATÜRLICHKEIT. Das Ende einer Entzweiung https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/05/georg-toepfer-kuenstlichkeit-und-natuerlichkeit-das-ende-einer-entzweiung/ Mon, 05 May 2025 08:49:17 +0000 https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/?p=3768 I. In Zeiten des Anthropozäns ist die Künstlichkeit überall. Ihr Gegenteil, die einstmals als Gegenwelt inszenierte Natürlichkeit, gibt es nicht mehr – weder materiell geschieden als ein menschenfreier Raum, noch ideell als eine Vorstellung frei von kulturellen Voraussetzungen und Sehnsüchten. Die gegenwärtige Anrufung und Beschwörung der Natur ist offenbar nur ein Ausdruck dieses Verlusts. Auch Weiterlesen

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I.

In Zeiten des Anthropozäns ist die Künstlichkeit überall. Ihr Gegenteil, die einstmals als Gegenwelt inszenierte Natürlichkeit, gibt es nicht mehr – weder materiell geschieden als ein menschenfreier Raum, noch ideell als eine Vorstellung frei von kulturellen Voraussetzungen und Sehnsüchten. Die gegenwärtige Anrufung und Beschwörung der Natur ist offenbar nur ein Ausdruck dieses Verlusts. Auch im Anderen der Natur finden wir doch vor allem uns selbst: »Das Draußen ist zu einem einzigen Drinnen geworden.«[1] Wenn unser Drinnen aber universal geworden ist, wir als Menschen in allem stecken, sind mit der Aufhebung der polaren Gegenüberstellung von Kunst und Natur auch diese Pole selbst verschwunden.

Realisiert haben diesen Verlust (von etwas, das vielleicht nie existierte) selbst die professionellen Advokaten und Administratoren der Natur, die Vertreterinnen und Vertreter des ›Naturschutzes‹. Es ist in der Restoration Eco­logy längst gängige Praxis, die Schutzobjekte künstlich zu erzeugen – als ›renaturierte‹ Flüsse, wieder­vernässte Moore oder in Richtung einer poten­ziellen natürlichen Vegetation umgebaute Wälder. Mithilfe der Gentechnologie können Arten vor Krankheitserregern geschützt und so als naturkulturelle Hybri­de vor dem Aussterben bewahrt werden. Zum Schutz des Feuersalamanders wird beispielsweise diskutiert, ihn durch genetische Manipulation vor der Pilzerkrankung zu bewahren, die sein baldiges Aussterben bewirken könnte.

Diese technologischen Verfahren stellen nicht nur eine verbesserte, resistentere Natur her, sie treiben auch einen Keil in den Naturbegriff, weil die bisher miteinander verbundenen Aspekte der Eingriffsfreiheit und Ursprünglichkeit der Natur getrennt werden: In einem quasi vormenschlichen Zustand zu bewahren sind viele Teile der Natur nur, wenn wir sie gezielt verändern.[2] So gelangen wir zu einer neuen Einheit von Mensch und Natur, dem viel gepriesenen »konvivialen Naturschutz«,[3] für den die Natur auch als ein »ungestümer Garten« akzeptabel ist. In ihm kommt es nicht auf ›Natürlichkeit‹ im Sinne der Menschenfreiheit an, sondern auf die mit der Natur verbundenen Werte der Wildheit, Vielfalt und Eigengesetzlichkeit.[4]

II.

Jenseits der Praxis des Naturschutzes hat das 20. Jahrhundert die Künstlichkeit in drei große Wirklichkeitsdomänen hinein­getragen: ›Kunststoff‹, ›künstliches Leben‹, ›künstliche Intelligenz‹. Die Begriffe waren als technologische Verheißungen schon lange bevor die bezeichnete Sache Wirklichkeit wurde, in Gebrauch – mit einer zeit­lichen Kluft, die sich im Falle des »künst­lichen Lebens« über Jahrtausende erstreckt.[5] Es gehört auch zur Geschichte der Künstlichkeit, dass auf anfängliche techno­logische Euphorie regelmäßig eine begriffliche Scham folgte, die das Künstliche lieber versteckt als ausstellt. So nahm Theodor Heuss 1955 angesichts der Nachbarschaft der ›Kunst‹ zum ›Künstlichen‹ im Wort ›Kunststoff‹ ein »pein­liches Aroma« wahr.[6] Seit 1972 werden die Kunststoffe denn auch lieber ›natur­identisch‹ genannt, um sie so besser zu ver­markten.[7] Beim ›künstlichen Leben‹ wird die Künstlichkeit inzwischen verschwiegen; die Protagonisten des Feldes bevorzugen die christliche Rhetorik von Kreation und Genesis.[8]

Am hartnäckigsten hält sich Künstlichkeit bis heute in Bezug auf die Intelligenz. Ein Grund dafür mag sein, dass Intelligenz oder Geist, anders als Stoff und Leben, schon lange im Gegensatz zur Natur gedacht wurde. Weil Ausgrenzung und Abwertung in der Rede von der Künstlichkeit[9] aber auch vor der Intelligenz nicht Halt macht – und die »künstliche Intelligenz« begriffsgeschichtlich tatsächlich schon früh (1830), lange vor dem technologischen Optimismus der Dartmouth Conference (1956), in abwertender Bedeutung, nämlich angesichts der Maschinenwelt der englischen Industriereviere als »traurige« und wüstenhafte Verstellung der »Gegenwart des wirklichen Lebens« auftaucht[10] –, ist davon auszugehen, dass auch die KI begrifflich irgendwann zugunsten einer ›integrierten‹, ›konvivialen‹ oder ›konmentalen Intelligenz‹ verschwinden wird.

Dass diese technologischen Transforma­tionen des natürlich Gegebenen zu weit­reichenden epistemischen Verschiebungen führen werden, wird seit über 30 Jahren umfassend reflektiert. Die neue Welt der gentechnischen Veränderung von Menschen und anderen Lebewesen werde eine neue Einheit der »Biosozialität« produzieren und die Natur-Kultur-Spaltung aufheben, mutmaßte Paul Rabinow 1992.[11] Mit der Natürlichkeit wäre damit auch die Künstlichkeit an ihr Ende gekommen, und wir müssten nur noch anerkennen, dass unsere Verfassung und die der von uns geprägten Welt die »natürliche Künstlichkeit« ist, wie es die philosophische Anthropologie der 1920er Jahre behauptete.[12] Der mit der Rede von der Künstlichkeit transportierte metaphysische Dualismus wäre damit überwunden und wir bedürften des Wortes nicht mehr. Damit wären allerdings noch nicht alle Unterscheidungen aufgehoben: Wie sehr unser Mikroplastik und unsere radioaktiven Isotope in die ent­legensten Weltregionen gelangen und wie sehr wir uns selbst und unsere Mitlebewesen pharmakologisch und genetisch auch präparieren, so sehr bleiben ›wir‹ (einschließlich unserer künstlichen Intelligenz) als Spezies der Überlegensfähigen und Andershandelnkönnenden doch unterschieden von einem Gegenüber, das aufgrund des Mangels an diesen Fähigkeiten Gegenwelt bleibt und unsere Transformationen nur er­tragen kann oder verschwindet – während ›wir‹ diese zu verantworten haben.

III.

Die neue Verschränkung von Natürlichkeit und Künstlichkeit beendet also nicht alle Dua­lismen und vielleicht nicht den entscheidenden, aber doch einen zweihundertjährigen, tief verwurzelten. Dieser konstituierte sich im frühen 19. Jahrhundert sowohl land­schafts­geographisch-real in der Auseinanderentwicklung von urban-industriellen Zentren und ruralen Peripherien als auch sprachlich-begrifflich in der deutlichen ästhetischen Abwertung der ›Künstlichkeit‹ im Kontrast zur aufstrebenden ›Natürlichkeit‹. Die im 21. Jahr­hundert entstehende neue Konzeption einer Natur-Kultur-Einheit muss dahinter zurückgehen und kann an den Sprachgebrauch der Frühen Neuzeit anschließen, in dem die höchste Künstlichkeit (artificialitas) in den Gestaltungen der Natur verortet wurde: Der »künstliche Bau des menschlichen Körpers« (Corporis humani fabricam) übertreffe an »Künstlichkeit« (artificio) bei Weitem alles das, was von menschlicher Kunst (ars) gebaut worden sei, so Spinoza 1677.[13] Und noch Herder konnte ein Jahrhundert später fragen: »Gehet etwas über die Künstlichkeit eines Schneckenhauses?«[14]

Die Künstlichkeit steckte damals aber nicht nur in der Natur. Die Natur war auch umgekehrt überhaupt nur zugänglich über die Künstlichkeit. In der beschreibenden Naturkunde des 18. Jahrhunderts war künstlerische Könnerschaft vonseiten der Wissenschaft vielfältig nachgefragt. Die »Kunst-Regeln« wurden dabei von den Wissenschaftlern vorgegeben: Sie unterrichteten die Künstler genau darin, wie das Natürliche der Formen abzubilden sei, nämlich indem sie das individuell Variable, Zufällige, bloß den Umständen Geschuldete wegzulassen hätten, um die natürlichen Objekte in ihrer wahren Natur zur Darstellung zu bringen.[15] Künstlichkeit wurde hier zu dem Medium, in dem das Natürliche überhaupt erst erkannt, festgehalten und bestimmt werden konnte. Diese Inanspruchnahme des Künstlichen für die Naturerkenntnis galt für die beschreibende Naturgeschichte wie auch für die erklärenden Naturwissenschaften: Als wahr erkannt sei nur das, was zuvor (künstlich) hergestellt worden sei – verum factum –, wie das auf Vico zurückgeführte Diktum lautet. Zudem gilt gerade für die Naturwissenschaften, dass alle ihre zentralen erklärenden Konzepte – von den ausdehnungslosen Masse­punkten über die idealen Gase bis zu den ökologischen Kreisläufen – keine Naturnachbildungen darstellen, sondern Idealisierungen, und sie andere künstlich-fiktionale Elemente enthalten und insofern »lügen«.[16]

Die Opposition von Natürlichkeit und Künstlichkeit machte also lange keinen Sinn und ihre Verschlingung musste nicht behauptet werden. Dies erfolgte erst in dem historischen Moment, in dem das Zerwürfnis nicht mehr zu übersehen war, als die Natur nicht mehr als eine vom Menschlichen und Nichtmenschlichen geteilte, gemeinsame, aus einer Hand geschaffene Welt verstanden wurde, sondern als ›Gegenwelt‹ erschien, als niedrigere oder auch höhere, bessere, vielfältigere und freiere Welt als die Zivilisation – wie bei Rousseau.[17] Die Einheit konnte dann nur noch beschworen und für das eigene Schaffen reklamiert werden, wie von Novalis um 1800, der zum Vorwurf der »Künstlichkeit der Shakespearschen Werke« vollmundig konstatierte, »daß die Kunst zur Natur gehört, und gleichsam die sich selbst beschauende, sich selbst nachahmende, sich selbst bildende Natur ist«.[18] Erst jetzt, nach einem Umweg der zweihundertjährigen Spaltung, sind wir dort wieder angekommen, allerdings wohl unter umgekehrtem Vorzeichen: Nicht die Kunst gehört zur Natur, sondern die Natur zur Kunst. Vorstellungen, Bilder, Sehnsüchte gibt es von der Natur nur in einer jeweiligen Kultur, vermittelt durch deren Künstlichkeit.

Der Philosoph Georg Toepfer leitet am ZfL gemeinsam mit Eva Axer den Programmbereich Lebenswissen. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2024/25, »Abschied von der Künstlichkeit«.

[1] Godela Unseld: »Naturliebe – und was sonst noch alles so darunter zum Vorschein kommt«, in: Scheidewege 33 (2003/04), S. 206–224, hier S. 214.

[2] Gregory H. Aplet / David N. Cole (Hg.): Beyond Naturalness. Re­thinking Park and Wilderness Stewardship in an Era of Rapid Change, Washington, D.C. 2010; vgl. auch Georg Toepfer: »Artenschutz durch Gentechnik? Vom Dilemma zur Tragik des Naturschutzes im Anthropozän«, in: Natur und Landschaft 95 (2020), S. 220–225.

[3] Bram Büscher / Robert Fletcher: The Conservation Revolution. Radical Ideas for Saving Nature Beyond the Anthropocene, London 2020.

[4] Vgl. Emma Marris: Rambunctious Garden. Saving Nature in a Post-Wild World, London 2011.

[5] Vgl. Georg Toepfer: »Künstliches Leben«, in: Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 399–408.

[6] Theodor Heuss: [Rede anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Fonds der Chemischen Industrie], in: Chemische Industrie 7 (1955), S. 386.

[7] Edy Stucki: »Kreation von Aromen«, in: DRAGOCO-Bericht für Geschmackstoffe verarbeitende Industrien 17 (1972), S. 27–30, hier S. 28.

[8] George M. Church: Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2012.

[9] »l’épithète d’artificiel est souvent péjorative«; Étienne Souriau: [Art.] »artificiel«, in: Vocabulaire d’esthétique, Paris 1990, S. 173–175, hier S. 174.

[10] Cüstine: »Ueber die Wirkungen des Maschinenwesens und der Dämpfe in England«, in: Der Aufmerksame 19.111 (1830), S. 3–4, hier S. 3.

[11] Paul Rabinow: »Artificiality and enlightenment. From sociobiology to biosociality« (1992), in: Essays on the Anthropology of Reason, Princeton, NJ 1996, S. 91–111, hier S. 99.

[12] Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1928, S. 309.

[13] Baruch de Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata, [Amsterdam] 1677, S. 99.

[14] Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Riga 1784, S. 137.

[15] Vgl. Lorraine Daston: »Epistemic images«, in: Alina Payne (Hg.): Vision and Its Instruments. Art, Science, and Technology in Early Modern Europe, University Park, PA 2015, S. 13–35.

[16] Nancy Cartwright: How the Laws of Physics Lie, Oxford 1983.

[17] Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation, Bd. 3, Paris 1762, S. 67.

[18] Novalis: [Fragment], in: Novalis Schriften, hg. von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck, Berlin 1802, S. 373.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Georg Toepfer: Künstlichkeit und Natürlichkeit. Das Ende einer Entzweiung, in: ZfL Blog, 5.5.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/05/georg-toepfer-kuenstlichkeit-und-natuerlichkeit-das-ende-einer-entzweiung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250505-01

Der Beitrag Georg Toepfer: KÜNSTLICHKEIT UND NATÜRLICHKEIT. Das Ende einer Entzweiung erschien zuerst auf ZfL BLOG.

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