Collitz, Hermann
Nach dem Abitur 1875 in Lüneburg Studium der klassischen und germanischen Philologie sowie der vergleichenden Sprachwissenschaft (bei Fick, Bezzenberger u.a.) in Göttingen (nur von einem Semester in Berlin unterbrochen). 1879 Promotion in Göttingen mit einer vergleichenden indogermanistischen Untersuchung zum Altiranischen. Schon vor der Dissertation Mitarbeit in Berlin an der Herausgabe der griechischen Dialektinschriften (mit F. Bechtel, A. Bezzenberger, F. Blaß, A. Fick u.a.), von ihm bis auf die Hefte 3/4 des 4. Bandes redigiert.[1] Seit 1883 hatte er eine Vertretung der Bibliothekarsstelle von K. Verner in Halle; dort auch 1885 Habilitation mit einer vergleichenden Untersuchung zur Nominalflexion im Altgriechischen und im Sanskrit.1886 folgte er einem Ruf nach Bryn Mawr für eine Professur für Deutsch (zunächst »Associate«, seit 1887 regulär),[2] von wo er 1907 auf einen Lehrstuhl für Germanische Philologie an die Johns Hopkins Universität wechselte; dort wurde er 1927 emeritiert.
C. war zunächst vergleichender indoeuropäischer Sprachwissenschaftler, der schon mit seiner Dissertation einen wichtigen Beitrag zur strengen »lautgesetzlichen« Rekonstruktion der disziplinären Grundlagen in der Nach-Schleicherschen-Periode geleistet hatte.[3] Er publizierte außer zum Indo-Iranischen, Griechischen und Germanischen auch zum Lateinischen, Slawischen und Keltischen. Im Sinne der aufkommenden Mundartforschung bemühte er sich, die (alt-)griechischen Dialekte von den textlichen Befunden her zu beschreiben, statt mit ethnischen Formationen (»Stämmen«) und ihren stereotypen Charakterisierungen zu operieren. Trotz Avancen von Sievers u.a. stand er der junggrammatischen Programmatik ablehnend gegenüber – was er bes. in seinen Rezensionen und Nebenbemerkungen über das seiner Meinung nach die methodischen Grundlagen auflösende Analogieprinzip (und den die Fachgrenzen auflösenden Psychologismus) ausdrückte; seine philologisch-positivistische Arbeitshaltung stand dem entgegen (bes. in den editorischen Arbeiten zum Griechischen deutlich). Die Kontroverse mit der Leipziger Gruppe spitzte sich schließlich zu einer publizistischen Fehde zu, bei der C. seine »Urheberrechte« für junggrammatisch vereinnahmte »Entdeckungen« einforderte. Nicht ohne Grund insistierte er darauf, über der junggrammatischen Programmatik nicht zu übersehen, daß diese zumeist in der Sache schon gesehene Zusammenhänge reformuliert;[4] er erwies sich aber, jenseits aller Fragen persönlicher Eitelkeit, als Positivist, der nur einen sehr bedingten Zugang zu theoretischen Fragestellungen hatte – was seine Beiträge etwa zur Herausbildung der indo-iranischen Palatale (so schon in der Dissertation), der Nasalis sonans u. dgl. nicht schmälert.[5]
Eine besondere Vorliebe hatte er für das heimatliche Niederdeutsche: Er war aktiv im Verein für Niederdeutsche Sprachforschung und gab neben mehreren Artikeln zum Alt- und Neuniederdeutschen insbes. das Waldeckische Dialektwörterbuch auf der Grundlage des nachgelassenen Manuskripts von K. Bauer im Autrag des Vereins heraus.[6] Übungen zum Niederdeutschen gehörten auch in den USA zu seinem festen Lehrprogramm, was er u.a. mit der kontrastiv-vergleichend größeren Nähe zum Englischen für US-amerikanische Deutschstudenten begründete. Seine intime (auch ins Personalgeschichtliche reichende) Kenntnis dieses Feldes zeigt sich u.a. in der detaillierten (sehr positiven!) Besprechung von F. Brauns Arbeiten.[7]
Seine Schwerpunktverlagerung zur germanischen Sprachwissenschaft, die er in der Lehre wie in seinen Publikationen in ihrer ganzen Breite von Hoch- und Niederdeutschem, Niederländischem, Gotischem, Englischem und den skandinavischen Sprachen vertrat, war erst eine Folge seiner anders geschnittenen Arbeitsaufgaben in den USA. Sein Arbeitsfeld lag hier bei (historischer) Phonologie und Morphologie sowie etymologischen Studien; bis heute wichtig ist insbes. seine Untersuchung »Das schwache Präteritum und seine Vorgeschichte«,[8] in der er die Herausbildung dieser germanischen Neuerung systematisch in Hinblick auf ihre etymologische Grundlage im indo-europäischen Horizont untersucht.
Aber er war keineswegs ausschließlich Sprachwissenschaftler im engen Sinne: Sowohl in seinen Lehrveranstaltungen wie in gelegentlichen Aufsätzen behandelte er auch literaturwissenschaftliche Themen (insbes. Goethes »Faust«).[9] Und auch auf seinem spezielleren Arbeitsgebiet zeigte er sich als Philologe, so wenn er gegen dialektologische Argumente von Wrede u.a. zur Heliandfrage literaturgeschichtliche Überlegungen ins Feld führte, Friesismen im Altsächsischen als Gattungscharakteristika der Epik betrachtete und so nach dem Modell der altgriechischen Literaturdialekte die Heimatfrage für gegenstandslos erklärte.[10] In den späteren Jahren (1924-1930) veröffentlichte er darüber hinaus eine Reihe von Studien zur vergleichenden indoeuropäischen Mythologie.
In den USA war C. eine der sprachwissenschaftlichen Schlüsselfiguren, der dort auch zum ersten Präsidenten der neu gegründeten Linguistic Society gewählt wurde (1925 gleichzeitig mit seiner Präsidentschaft in der Modern Language Association [MLA]). Für sein umfassendes Engagement in Sachen Sprachwissenschaft zeugte auch seine Aktivität in einem US-amerikanischen Komitee (eingesetzt von der MLA) zu den »Hilfssprachen« (Esperanto u.a.), die damals eine beträchtliche fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zogen. In seiner gemeinsamen »Presidential Adress« für die MLA und die LSA (»World Languages«)[11] gab er einen historischen Überblick über internationale Verkehrssprachen und Schriftsysteme. Die Selbstverständlichkeit, mit der er beide Gegenstandsbereiche verknüpfte, zeigt seine philologische Herkunft (der Horizont seiner Beispiele ist umfassend indoeuropäisch und semitisch).[12] Sehr systematisch differenzierte er zwischen funktionalen Gesichtspunkten der Konventionalisierung bei Kommunikationssystemen, ihrer Fundierung (Motiviertheit) in der Spontansprache ihrer Benutzer und zugleich den damit eröffneten Zugängen zu einer kulturellen Überlieferungstradition (bei ihm: explizit die jeweilige Literatur). In Hinblick auf das letztere, aber auch (durchaus aktuell!), um einer Haltung, die kein Interesse an sprachlicher Verschiedenheit mehr hat (in dem für ihn aber die Grundmotivation für das sprachwissenschaftliche Studium liegt), keinen Vorschub zu leisten, war er gegen die Einführung des Unterrichts in einer der artifiziellen Hilfssprachen in den öffentlichen Schulen.[13] Für die Strukturerfordernisse solcher Hilfssprachen (deutlich bei O. Jespersens Revision des Esperanto im Ido) hatte er dagegen sehr wohl ein Interesse.
C. blieb immer »Europäer«: er veröffentlichte (außer auf Englisch) weiterhin auf Deutsch, und die von ihm herausgegebene und bewußt gegen die dominanten deutschen philologischen Reihen gestellte Publikationsreihe Hesperia der Johns Hopkins Universität erschien in Göttingen bei seinem »Hausverlag« Vandenhoeck und Ruprecht. Sein Rang als Sprachwissenschaftler in den USA wird durch die Beiträge in seiner Festschrift 1930 dokumentiert: Von Bloomfield über Edgerton bis Sturtevant sind die großen Namen der vergl. Sprachwissenschaft (neben den Germanisten auch Literaturwissenschaftler) versammelt – von den deutschen Kollegen ist nur E. Sievers dabei!
Q: Kürschner 1931; Stammerjohann (1996) (D. Gambarara); IGL (Th. P. Thornton); FS »Studies in Honor of Hermann Collitz«, Baltimore: Johns Hopkins Press 1930 (dort S. 1-6 seine Vita, verfaßt von seiner Frau, S. 7-15 Bibliographie). Nachrufe: von E. H. Sehrt in: Mod. Lg. N. 51/1936: 69-80 (mit Bibliographie); K. Malone in: Amer. J. of Ph. 56/1935: 289-290; E. Prokosch in: J. of Engl. and Germ. Ph. 35/1936: 454-457; Bronstein u.a. 1977; Homepage des Johanneum Lüneburg (http://www.johanneum-lueneburg.de/homepage/chronik/collitz/collitz.htm, Aug. 2012).
[1] In 4 Bänden 1883-1915 in Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.
[2] Bis 1904 behielt er formal seine Stelle in Halle bei und war von dort beurlaubt.
[3] So schon in der Dissertation zu den indo-iranischen Palatalisierungen.
[4] Auch in späteren Arbeiten spiegelt sich diese Position in fachgeschichtlichen Abrissen, etwa »A century of Grimm’s Law«, in: Lg. 2/1926: 174-183.
[5] S. Theo Vennemann/Terence A. Wilbur (Hgg.), »Schuchardt, the neogrammarians, and the transformational theory of phonological change«, Frankfurt/ M.: Athenäum 1972, mit der Reproduktion zweier Artikel von 1886-1887 aus dieser Kontroverse.
[6] Norden: Soltau 1902. Die Arbeit daran war nicht zuletzt in Hinblick auf das an C. dafür gezahlte Honorar konfliktbeladen. Hinweise dazu verdanke ich F. Gutendorf, der sie in seiner Darstellung der Geschichte des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung (in Vorbereitung) dokumentieren wird.
[7] In: Lg. 5/1929: 195-201.
[8] = Hesperia 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1912.
[9] Er war auch Mitglied der Goethe-Gesellschaft in Weimar.
[10] »The Home of the Heliand«, in: Publ. Mod. Lang. Ass. America 16/1901: 123-140.
[11] In: Lg. 2/1926: 1-13.
[12] Er war auch Mitglied in der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.
[13] Diese Position vertrat er in einem Komitee der MLA, das die Einführung einer Kunstsprache in den Schulunterricht der USA prüfen sollte.