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Doegen, Wilhelm

 

Geb. 17.3.1877 in Berlin, gest. 3.11.1967 in Berlin.

D. ist ein problematischer Fall in diesem Katalog: er ist hier aufgenommen, weil er 1933 entlassen wurde.[1] D. hatte in Berlin zunächst Volkswirtschaft studiert, dann zu den neueren Philologien (Englisch, Französisch) und der Germanistik gewechselt. In diesem Rahmen hatte er 1899 ein Semester in Oxford studiert, wo er unter dem Einfluß von H. Sweet die Phonetik als sein künftiges Arbeitsgebiet entdeckte. Nachdem er 1902 seinen Militärdienst geleistet hatte, machte er 1904 in Berlin sein Staatsexamen mit einer Arbeit über »Die Verwendung der Phonetik im englischen Anfangsunterricht« und unterrichtete seit 1905 an Berliner Gymnasien. Bereits 1913 hatte er eine systematische Methodik des Ausspracheunterrichts vorgelegt, mit dem Schwerpunkt bei prosodischen Fragen: »Sprach- und Lehrproben. Ein Beitrag zur Methodik des neusprachlichen Unterrichts«.[2] Phonetische Forschungen betrieb er mit einer breiteren Orientierung, nicht zuletzt in Verbindung mit der Erfindung/Verbesserung der technischen Apparaturen. 1909 erfand er ein eigenes Aufnahmegerät, den Doegen-Lautapparat. Vor diesem Hintergrund war bei ihm die Ausspracheschulung Arbeitsschwerpunkt, s. seine »Auswahl französischer Poesie und Prosa«[3] und »Passages from English Literature illustrating British national character with preliminary exercises in language«.[4] Eine Pionierrolle hatte er bei der Fokussierung von prosodischen Fragen, in Hinblick auf die er diese Bände auch mit Schallplatten ausstattete. In diesen Arbeiten finden sich z.T. ausführliche Intonationsanalysen, so z.B. als Anhang zu dem Band zum Französischen von 1928. In den 20er Jahren publizierte er darüber hinaus im Umfeld der kulturkundlichen Bewegung zum Englisch- und Französischunterricht, mit den in diesem Zusammenhang üblichen »völkerkundlichen« Stereotypen.

D. war ein recht umtriebiger Mensch, der seine Arbeiten auch zu vermarkten wußte. Mit einigem Erfolg publizierte er seit 1909 seine Unterrichtsmaterialien, die er auch auf der Weltausstellung in Brüssel 1910 mit Erfolg vorstellte. Vor diesem Hintergrund fand er auch politische Unterstützung, so insbesondere für sein Vorhaben, nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach dem Modell des Wiener Phonogrammarchivs (s. hier bei Pollak) eine preußische »phonographische Kommission« einzurichten, die die Kriegsgefangenenlager bereisen sollte, um Sprachen, Dialekte und Lieder der Gefangenen aus verschiedenen Ländern auf Schallplatte aufzunehmen. Bei diesem Unternehmen war D. für die technische Seite zuständig. Die allgemeine Leitung hatte der Psychologe Stumpf, für die Sprachaufnahmen war W. Schulze zuständig, über den auch eine ganze Reihe der in diesem Katalog registrierten Sprachforscher in das Unternehmen einbezogen wurden (s.u.). Der institutionelle Status dieser Einrichtung war in den Folgejahren strittig. Seit 1915 arbeitete D. zunächst für das Preußische Kultusministerium; die von ihm aufgebaute Abteilung wurde der Preußischen Staatsbibliothek unterstellt, und D. 1916 in diesem Zusammenhang zum Titularprofessor ernannt. Nach dem Krieg führte er die Arbeit für das Reichswehrministerium weiter.

In den Folgejahren kam es zu permanenten Konflikten mit Vertretern der Berliner Universität, die eine von ihr nicht kontrollierte sprachwissenschaftliche Einrichtung zu verhindern suchte (obwohl D. Sprachwissenschaftler der Universität an der Auswertung seiner Materialien beteiligte).[5] Bis 1918 wurden in diesem Rahmen über 1600 Aufnahmen zu 250 verschiedenen Sprachen angefertigt. Nach dem Krieg wurde diese Sammlung in das preußische Staatsarchiv eingebracht. In den 20er Jahren erschloß D. zusammen mit dem Marburger Sprachatlasunternehmen (F. Wrede) ein weiteres Arbeitsgebiet, die systematischen Tonaufnahmen zu den deutschen Mundarten.[6] Seit 1917 baute D. außerdem noch gemeinsam mit dem Chemiker Darmstaedter eine weitere Sammlung, die »Stimmen berühmter Persönlichkeiten« auf, wofür er u.a. auch den Kaiser aufnahm. Auch weitere Arbeitsgebiete erschloß er sich, so z.B. die Kriminalistik, für die er 1926 eine Reihe von »Verbrecherstimmen« aufnahm.[7]

Den Aufbau des Lautarchivs und seinen Bestand (neben sprachlichen vor allem auch Musikaufnahmen) hat er mehrfach dargestellt: »Die Lautabteilung«,[8] wobei er auf die besondere Bedeutung dieser Sammlung für die Erforschung von phonologisch anders gebauten Sprachen als den europäischen hinweist, insbesondere bei Tonsprachen. Die Mundartaufnahmen in Verbindung mit dem deutschen Sprachatlas in Marburg hat er ergänzt um Aufnahmen mit Sievers zu dessen »Schallanalyse«.[9] Daß D. sich dabei selbst als Sprachwissenschaftler verstand, zeigt u.a. seine Teilnahme am 1. Intern. Linguistenkongreß 1928 in Den Haag.

Seine im Ersten Weltkrieg begonnene Arbeit an einem Sprachmuseum[10] kann durchaus als Vorläufer für das angesehen werden, was heute in unterschiedlichen Zusammenhängen als Aufbau einer systematischen Sprachdokumentation vor allem auch für bedrohte Sprachen versucht wird. Das gilt so insbesondere auch schon für das von ihm organisierte Weltkriegs-Unternehmen: »Unter fremden Völkern. Eine neue Völkerkunde«,[11] das ausdrücklich auch marginale Gemeinschaften dokumentiert, z.B. etwa die Zigeuner, wobei die Sprachaufnahmen von fachlich ausgewiesenen Spezialisten durchgeführt wurden (u.a. arbeiteten aus diesem Katalog daran mit: Jacobsohn, E. Lewy und Wagner, s. bei diesen). Vorausgegangen war dem eine Publikation, die er direkt im Auftrag des Reichswehr-Ministeriums durchgeführt hatte: »Kriegsgefangene Völker«, Bd. 1 erschien 1919: »Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal in Deutschland«.[12] Bei diesem Unternehmen stand allerdings das politisch-repressive Interesse im Vordergrund: die ethnologische Erkundung der Verhaltensweisen der Kriegsgefangenen sollte eine effizientere Kontrolle der Lager möglich machen, bis hin zur Briefzensur, die die sprachlichen Sonderformen als Geheimsprachen zu konterkarieren erlauben sollte (z.B. zum Baskischen, S. 76) – auch hier waren wissenschaftliche Spezialisten für diese Fragestellungen herangezogen worden.

D.s Arbeit fand auch international Beachtung, wozu 1926 ein Auftrag der irischen Regierung gehörte, für diese das damals noch gesprochene Irisch in den dazu infrage kommenden Regionen zu dokumentieren. D. begann mit diesen Aufnahmen 1928, die von seinen Mitarbeitern noch bis 1931 fortgeführt wurden. Die Aufnahmen wurden der irischen Akademie übergeben (und auch in Berlin deponiert).[13]

D. wurde wohl ein Opfer seiner organisatorischen und geschäftlichen Umtriebigkeit. Unregelmäßigkeiten in der Geschäftsführung als Archivleiter des Phonogrammarchivs führten 1930 zu einem Disziplinarverfahren und seiner Suspendierung. Die Sammlung seiner Aufnahmen wurde dem Phonogramm-Archiv (s.o.) übergeben, das 1934 in das Berliner Museum für Völkerkunde integriert wurde. Aufgrund des Gesetzes über das Berufsbeamtentum wurde er im Mai 1933 (ohne Angabe von Gründen) entlassen.[14] Er erhielt weiterhin (gekürzte) Bezüge, versuchte sich kommerziell im Verlagsgeschäft (u.a. mit dem Vertrieb eigener Bücher), machte Vortragsreisen und betrieb mit seinen Söhnen ein Café in Berlin. Er geriet zunehmend als »politisch nicht zuverlässig« unter politischen Beschuß, auch antisemitische Vorwürfe wurden gegen ihn vorgebracht, schließlich erhielt er nicht mehr die Genehmigung, im offiziellen Rahmen Vorträge zu halten.[15]

Um so mehr machte er wohl Anstrengungen, sich politisch anzubiedern, wie insbesondere seine ausdrücklich als »wehrertüchtigend« deklarierte Publikation im Zweiten Weltkrieg zeigt: „»Unsere Gegner damals und heute«,[16] die »Großdeutschlands koloniale Sendung« (Untertitel) durch negative Darstellungen aus dem Mund von Kriegsgefangenen zu den Verhältnissen in den englischen und französischen Kolonien belegen will. Wie auch in den anderen Bänden setzte D. hier ausführlich Fotografien ein, vor allem auch um rassenkundliche Stereotypen zu veranschaulichen.[17] Nach dem Krieg wurde D. 1947 wieder bei der preußischen Staatsbibliothek für das Lautarchiv eingestellt, zugleich erhielt er eine Professur für Anglistik an der Berliner Pädagogischen Hochschule bis 1951.

In den letzten Jahren sind D.s Arbeiten wieder entdeckt worden: über sie wurde wiederholt im Rundfunk berichtet.[18] Das Archiv ist inzwischen in die Humboldt-Universität integriert, wo es seit 1999 mit den Mitteln der Volkswagenstiftung digitalisiert wird, um es der Forschung zugänglich zu machen.[19]

Q: DBE 2005; Teilbibliographie im Jahresbericht der preußischen Staatsbibliothek 1925 (Berlin 1927: 63-64); Webseite des Berliner Lautarchivs zu D. (Humboldt Univ. Berlin, s.: http://publicus.culture.hu-berlin.de/lautarchiv/textversion.htm#doegen, Jan 2009).



[1] Unter problematischen Vorzeichen taucht er in der Sekundärliteratur auf, wo z.B. Sabine Heinz, »Keltologie – eine historische und moderne Wissenschaft in Deutschland«, in: Hard Times 63/1998: 48-50, sogar von seiner »rassistischen Einstellung« spricht.

[2] Berlin: Weidmann 1913.

[3] Berlin: Lautverlag 1928.

[4] Berlin: Lautverlag 1929.

[5] Hinzu kam, daß 1900 am Psychologischen Institut der Universität ebenfalls ein Phonogramm-Archiv aufgebaut wurde, s. zur Arbeit von D.s Abteilung in diesem institutionellen Konfliktfeld Stoecker 2008: 122-133.

[6] Eine Sammlung dieser Aufnahmen wurde 1937 vom »Reichsbund der deutschen Beamten« als Geburtstagsgabe für Adolf Hitler zusammengestellt, s. dazu B. Martin, »Die deutsche Volkssprache«, München: Hoheneichen 1939.

[7] Zu den verschiedenen Unternehmungen und ihren organisatorischen Einbindungen, s. jetzt H. Bredekamp u.a. (Hgg.), »Theater der Natur und Kunst«, Berlin: Henschel 2000. Dieser Ausstellungskatalog enthält u.a. auch eine Reihe von Fotos zu D. und seiner Arbeit. S. dort auch S. Ziegler, »Die akustischen Sammlungen. Historische Tondokumente im Phonogramm-Archiv und im Lautarchiv«, S. 197-206.

[8] In: »Fünfzehn Jahre Königliche und Staatsbibliothek«, Berlin: Preuß. Staatsbibliothek 1921: 253-258.

[9] S. »Lautabteilung« in: Jahresbericht der preußischen Staatsbibliothek 1925 (Berlin 1927: 39-43).

[10] Er selbst  sprach von einem »Stimmenmuseum aller Völker«.

[11] Berlin: Stollberg 1925.

[12] Berlin: Reimer, Bd. 2 ebd. 1920.

[13] Inzwischen sind die erhaltenen 212 Schellack-Platten von der irischen Akademie digitalisiert und weiter für die Forschung aufbereitet worden, s. »The Doegen Records Web Project« (2009), http://dho.ie/doegen/home.

[14] Die D.sche Lautabteilung wurde damals der Afrikanistik an der Berliner Universität (Leitung von. D. Westermann) zugeordnet, s. Ziegler a.a.O. und Stoecker 2008; zu den auch öffentlich ausgetragenen Konroversen um D.s Person Stoecker 2008: 132-133.

[15] Siehe dazu mit Auszügen aus den Akten G. Simon u.a., »Chronologie Doegen, Wilhelm«, in: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrDoegen.pdf, Jan. 2009.

[16] Berlin-Lichterfelde: Hübner 1941.

[17] Einige dieser Fotografien zeigen D. selbst bei der Arbeit, hier S. 48 und 65.

[18] So in einer Sendung des Senders Freies Berlin vom 20.12.1992 und einer Sendung des SWR 2 vom 15.2.2003.

[19] S. dazu B. Lange, »Archiv und Zukunft. Zwei historische Tonsammlungen Berlins für das Humboldt-Forum«, in: Trajekte 20/2010: 4-6.