Fröschels, Emil
Geb. 24.8.1884 in Wien, gest. 18.1.1972 in New York.
F. studierte nach dem Abitur (Matura) 1902 in Wien Medizin. Bereits während des Studiums war er im Kinderhospital der Universität tätig. 1909 Promotion, danach zunächst Spezialisierung in der Otologie (Ohrenheilkunde), dann aber Wechsel zu Stimm- und Sprachstörungen, zu deren Studium er zeitweise nach Berlin ging, um sich dann an der Wiener Klinik mit einem eigenen Ambulatorium dafür zu spezialisieren. 1914 Habilitation. Seitdem lehrte er dort, zunächst als Privatdozent, von 1927-1938 als a.o. Prof. Im Ersten Weltkrieg war er Chefarzt der Abteilung für Kopfschüsse und Sprachstörungen des Garnisonspitals Wien.
Seine klinischen Forschungen waren immer sehr direkt auf therapeutische Möglichkeiten abgestellt und von einem weitgehenden Mißtrauen gegen aufwendige Diagnoseapparaturen bestimmt, die inkommensurabel zu therapeutischen Maßnahmen sind (s. die Darstellung seines Mitarbeiters Weiss, Q). Sein Werk ist von der Perspektive des behandelnden Arztes bestimmt, der sich zunehmend auf logopädische Probleme spezialisiert hatte, weil an seiner Klinik sonst niemand für diese Patienten zuständig war (s. sein Rückblick »Logopedics in the Vienna School of Medicine«).[1]
Von Anfang an suchte er nach einer möglichst umfassenden Vergewisserung auch der begrifflichen Voraussetzungen im Umgang mit Störungen im wissenschaftlichen Instrumentarium. Das brachte ihn zur ambitionierten Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus bzw. dem zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Physikalismus und auch mit reduktionistischen Elementen in der Freudschen Psychoanalyse (er selbst war offensichtlich stark von Alfred Adler beeinflußt, auf den er sich immer wieder bezieht), so in: »Freiheit trotz der Naturgesetzlichkeit«.[2] Er insistierte auf dynamischen Konzepten gegen statische »Aggregatsvorstellungen« bei der Modellierung von Psychischem (»Zur Leib-Seele-Frage«),[3] wobei er sich mit kulturtheoretischen Fragen in Hinblick auf Homologien verschiedener Erfahrungsbereiche auseinandersetzte, s. etwa seine kritische Rezension der kulturpessimistischen Attitüden bei O. Spengler (»Der Untergang des Abendlandes«).[4] Die letztgenannten Aufsätze sind wie viele andere aus öffentlichen Vorträgen hervorgegangen, hier vor der »Wiener psychologischen Gesellschaft« bzw. dem dortigen »Verein für Psychiatrie u. Neurologie«.
In Abgrenzung zur somatischen Medizin betonte er die diagnostische Unterbestimmheit der physiologischen Syndrome in Hinblick auf eine mögliche Therapie: zum Syndrom gehören die vom Patienten entwickelten Formen des Umgangs mit seiner Störung ebenso wie die kompensierenden Verhaltensweisen. Er forderte (und führte in seinen Veröffentlichungen vor) eine umfassende biographische Rekonstruktion des Einzelfalles (evtl. im Horizont der Familienbiographie), die anamnestische Rekonstruktion des prä-traumatischen Sprachverhaltens als Rahmen einer möglichen Restitution: so früh schon am Beispiel »hysterischer« Sprachstörungen (nicht zufällig im Kontext der damaligen Wiener psychoanalytischen Debatten!), s. »Fälle von nervöser Sprachstörung«,[5] ausführlich an fünfzig Fallbeispielen in: »Die Kopfverletzungen im Kriege«,[6] bemerkenswert wegen der von ihm dort umfassend kontrollierten verschiedenen sprachlichen Modalitäten (mündlich sowohl wie schriftlich), und noch später, vor der Folie einer komplexen Immigrationskonstellation bei den Patienten, in »Diagnostic Puzzles solved by Case History«.[7]
Vor diesem Hintergrund betrieb er die professionelle Verselbständigung der Logopädie (diesen heute allgemein gebräuchlichen Terminus führte er wohl in die Diskussion ein). 1924 konnte er in Wien die »Internationale Gesellschaft f. Logopädie« gründen, die bis zu seiner Vertreibung dort ihre Jahrestagungen abhielt, seit 1950 (mit seiner Ehrenpräsidentschaft auf Lebenszeit) vor allem von den USA aus wiederum aktiviert wurde. Sein Plädoyer für die Anerkennung dieser Disziplin zieht sich durch sein ganzes Werk[8] – und ist, wie die Bemühungen der Fachverbände heute zeigen, bis heute nicht gegenstandslos geworden. Im Sinne dieses Bemühens um eine Verselbständigung der Logopädie gegenüber ihrer Beschränkung auf eine medizinische Hilfstätigkeit stellte er sie bewußt auch in einen sprachwissenschaftlichen Horizont – und avisierte die von ihm organisierten Jahrestagungen auch in »philologischen« Fachorganen.[9]
Zu seinem Insistieren auf einem professionellen Umgang mit Sprachstörungen gehörte aber komplementär auch sein Engagement im pädagogischen Vorfeld, das er als Raum für Förderung der Sprachentwicklung bestimmte, in dem auftretende Schwierigkeiten in »normaler« Umgebung bearbeitet werden können (also keine Ausgrenzung in Sonderschulen erforderlich ist) – was allerdings eine entsprechende Qualifikation auf Seiten der Lehrer verlangt. Daher engagierte er sich in Wien in der Lehrerausbildung und baute vor dem Hintergrund, daß solche Störungen massiv in den Schulklassen der ärmeren Stadtviertel zu registrieren waren, kostenlose Fortbildungsveranstaltungen auf, s. etwa »Sprachstörungen und Schule«.[10]
Er betonte die Gefahr der durch die Meßapparatur induzierten atomistischen Sichtweise organischer Störungen, wo »ganzheitliche« Funktionsstörungen und der Aufbau komplexer Syndrome vorliegen. Das hinderte ihn nicht, moderne Meßverfahren etwa der apparativen Phonetik zu nutzen, mit denen er auch die »normale« Sprache untersuchte – insbes. im komplementären Bereich von Sprachstörungen: verbalen Höchstleistungen (etwa von Sängern) oder auch »exotischen« Lauten anderer Sprachen. So arbeitete er früh mit apparativen Phonetikern zusammen (u.a. mit Scripture), s. z.B. (mit F. Trojan) »Experimentalphonetische Beobachtungen während des sprachtechnischen Unterrichts«.[11] Er fungierte schließlich auch als Vorsitzender der »Österreichischen Gesellschaft für experimentelle Phonetik« (u.a. zusammen mit Ettmayer, Luick, E. Richter).[12] Später nutzte er systematisch Röntgenaufnahmen.
Seine Arbeiten sind bestimmt auf der einen Seite von einer großen heuristischen Offenheit für die zu untersuchenden Probleme, die verhindert, daß er diese in Funktion seines Meßapparates definiert, s. etwa seine Kontrolle von diagnostizierten Patientenproblemen an der Selbstbeobachtung in »Über innere Identifizierung von Worten«;[13] auf der anderen Seite sein Bemühen, die Befunde mit sprachwissenschaftlichen Strukturen zu verknüpfen: wenn er so bestimmte koartikulatorische Zusammenhänge entdeckt, deren therapeutische Nutzbarkeit er bei artikulatorischen Störungen überprüft, so sucht er auch Bestätigung in der Phonologie in Hinblick auf das, was man heute »natürliche« (Laut-Merkmals)Klassen zu nennen gewohnt ist, s. etwa »X-ray findings in F and S with regard to the F-Method for treatment of lisping«.[14]
In Abgrenzung von der Phoniatrie hatte er früh die Möglichkeit exploriert, in pathologischen Erscheinungen (bes. der Aphasie) wie in der kindlichen Sprachentwicklung Sprachstrukturen zu isolieren (dabei bezieht er sich auf die Arbeiten von Pick und vor allem auch auf Stern); die entsprechende funktionale Sprachbetrachtung entwickelte er außer in kleineren Beiträgen in einer Reihe von zusammenfassenden Darstellungen, die z.T. auch als Lehrbücher intendiert waren: »Kindersprache und Aphasie«;[15] ausgehend von seiner Konfrontation mit Aphasikern, die im Ersten Weltkrieg Kopfverletzungen davongetragen hatten (er war damals Chefarzt in einem Wiener Garnisonshospital, das eine eigene »Abteilung für Kopfschüsse und Sprachstörungen« hatte), s. etwa »Über den zentralen Mechanismus der Sprache«,[16] wo er in Hinblick auf Therapie- bzw. Restitutionsmöglichkeiten komplexere Strukturen annimmt, z.B. auch den Umgang der Patienten mit ihrer Störung kontrolliert, indem er sie mit ihren schriftlichen wie mündlichen Leistungen konfrontiert (deren mögliche Dissoziierung er früh untersucht hat), s. auch seinen umfangreichen Forschungsüberblick im »Lehrbuch der Sprachheilkunde«[17] sowie seine »Psychologie der Sprache«,[18] die in Anlehnung an Wundts Völkerpsychologie bemüht ist, seine an »heimischen« Patienten gewonnenen Befunde im Horizont der Sprachverschiedenheit zu kontrollieren (später bezog er sogar Schnalzlaute in seine Überlegungen ein).[19]
Wie später Jakobson faßte er Aphasie als Abbau der Sprachfunktion, der spiegelverkehrt zu ihrem Aufbau in der Ontogenese verläuft, was im Horizont der funktionalen Betrachtung auf kompensatorische Möglichkeiten, etwa erhaltene Intonationsdifferenzierungen u. dgl., verweist. Bemerkenswert ist, daß er hier ausdrücklich die Darstellungen des eigentlichen sprachwissenschaftlichen Teils des Buches einem anderen überläßt (O. Dittrich) – er verstand sich in disziplinärer Trennung als Sprachpsychologe. Später hat er aber doch ein recht stringentes Modell der Sprachproduktion entwickelt, das der sprachlichen Form einen systematischen Stellenwert einräumt, s. »Grammar, a Basic Function of Language-Speech«,[20] wo er die sprachliche Artikulation (ohne allerdings diesen Terminus zu verwenden) in Formen des Sprachabbaus (interpretierbar bleibende Intonationsstrukturen bei Jargonaphasie u. dgl.) ebenso wie als Filter für ansonsten unsinnige Äußerungen in Traumaktivitäten betrachtet.
Die Hals-Nasen-Ohrenkunde verdankt seinen sorgfältigen Diagnosen die genaue Bestimmung mehrerer Syndrome (auch ihrer somatischen Komponenten), die z.T. auch seinen Namen tragen (so das »Fröschelssymptom« der Otosklerose, s. Weiss [Q]: 240), vor allem die Erfindung einer Reihe therapeutischer Vorrichtungen und (z.T. ingeniös einfachen) Maßnahmen (bei Stotterern, beim Sigmatismus u.a.): auf ihn geht die sog. »Kaumethode« zurück, die bei der Sprachtherapie die verfügbaren grundlegenden motorischen Kaubewegungen einsetzt. Auch hier waren es wieder Möglichkeiten zur therapeutischen Rehabilitation, die ihn zu einer systematischen Reflexion von Sprachproblemen brachten: er ging aus von der Beobachtung, daß das Kauen/die orale Nahrungsaufnahme ontogenetisch dem Sprechen vorausgeht, das dessen Bewegungsabläufe nutzt (und daß sich auch später Sprechen und Kauen nicht »stören«), s. »Zur Frage der Gleichheit von Kau- und Sprechbewegungen«,[21] von daher analysierte er die komplexen koartikulatorischen Prozesse (etwa auch in Hinblick auf Zusammenhänge von supraglottalen Artikulationen und Veränderungen der Grundfrequenz, s. »Funktionelle Beziehungen zwischen Mund- und Kehlkopf«;[22] s. auch den oben schon erwähnten Aufsatz »X-ray-findings« (1957).
Für die Frage nach der ontogenetischen Entwicklungslogik ist seine Beobachtung instruktiv, daß die Differenzierung des phonologischen Systems der Veränderung der Nahrungsaufnahme folgt: einem frühen »saugenden« Stadium entsprechen außer Vokalen labiale Konsonanten – im Stadium der Zerkleinerung fester Nahrung (Kauen) werden erst die velaren Konsonanten ausdifferenziert.[23] Er selbst hat dabei immer betont, daß eine ganzheitliche Sicht der Sprachproblematik notwendige Voraussetzung für einen medizinisch verantwortungsvollen Umgang mit Sprachstörungen ist; in diesem Sinne hat er versucht, auch die zeitgenössische »Linguistik« als Wissenschaft von der »Normalsprache« zu berücksichtigen; bei den dabei referierten Ergebnissen der Kindersprachforschung bezieht er sich öfters auf die »personalistischen« Arbeiten von Stern.
F. emigrierte 1938 vor der rassistischen Verfolgung in die USA, wo er seine klinischen und Forschungsaktivitäten nahezu bruchlos fortsetzte: 1938/1940 auf einer Forschungsprofessur an der Washington Univ., St. Louis/Missouri, seit 1940 in leitender Tätigkeit an wechselnden New Yorker Kliniken (zuletzt der »Alfred Adler Clinique for Individual Psychology«). Allein seine enorme Publikationstätigkeit verzeichnet quantitativ für die Jahre 1939ff. einen geringen Rückgang (er publizierte aber sofort klinische Beiträge auf Englisch, später aber auch regelmäßig wieder auf Deutsch). Von seiner wissenschaftlichen Position, nicht aber von dieser Erfolgsgeschichte der Emigration her, liegt ein Vergleich zu Goldstein nahe, auf den er sich später auch öfters bezieht.
In den USA publizierte er außer auf klinischem Gebiet auch eine Reihe »ganzheitlicher« Bücher, die recht eklektisch ein Weltbild für die klinische Forschung kompilieren (in einer Themenspanne, die von der Gotteserfahrung bis zu unbewußten Leistungen reicht), die sich explizit gegen eine physiologisch-reduktionistische Sicht sprachpathologischer Probleme richten, z.B. »The human race. A study in the nature of knowledge«.[24] So wie er im diagnostischen Bereich gegen die Verselbständigung apparativer Techniken anging und der Sprachpraxis kongruente Verfahren fand, so bemühte er sich, an die Stelle operativer Eingriffe der Medizin therapeutische Rehabilitationsmaßnahmen zu setzen, die die (evtl. kompensatorischen) Ressourcen der Patienten nutzen. Ohnehin betätigte er sich als gebildeter europäischer Intellektueller, der es liebte, zu allen möglichen Themen Stellung zu nehmen – und der auch Gedichte veröffentlichte.
Sprachwissenschaftlich einschlägig sind vor allem seine empirischen sprachpathologischen Studien, die, von heute her gesehen, Fragestellungen der Pragmatik in ihrer funktionalistischen Sichtweise beinhalten, wie in dem erwähnten Aufsatz »Grammar« von 1955. Eine Zusammenstellung seiner »Kleinen Schriften« aus der Exil-Zeit hat H. Beebe zu seinem 80. Geburtstag herausgegeben: »Selected Papers of E. F. 1940-1964«.[25]
Q: BHE; B/J; DBE 2005; D. A. Weiss, »E. F. on his Anniversary«, in: Folia Phoniatrica 21/1969: 239-253 (mit Bibliographie); Panconcelli-Calzia 1961: 6.
[1] In: Yb. of the Summer School of the Univ. of Vienna (Wien) 1965: 101-105.
[2] 2 Bde., zuerst 1920/1922, 2. Aufl. Leipzig usw.: Deuticke 1925.
[3] In: Z. f. d. gesamte Neurologie u. Psychiatrie 152/1935: 77-83.
[4] 2 Teile in: Medicinische Blt. 41/1919: 161-165; 172-174.
[5] In: Mitt. d. Ges. f. innere Medizin u. Kinderheilkunde 11/1912: 10-16.
[6] Wien: Perles 1918.
[7] In: Speech 19/1955: 21-23.
[8] S. etwa »Über die Struktur und wissenschaftliche Stellung der Logopädie«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 50/1924: 992-994.
[9] S. z.B. A. f. d. Stu. d. Neueren Spr. 36/1928: 215.
[10] In: Wiener Medizin. Ws. 70/1920: Sp.990-993; auch (mit K. C. Rothe), »Die Fürsorge für sprachkranke Kinder in den städtischen Volks- und Bürgerschulen Wiens«, in: Wiener Medizin. Ws. 74/1924: Sp.1467-1468. Vgl. zu der damaligen Wiener Konstellation auch Bühler, Hetzer.
[11] In: Wiener Medizin. Ws. 74/1924: Sp.1458-1461.
[12] S. Wiener Medizin. Ws. 74/1924: 917-918.
[13] In: Z. f. d. gesamte Neurologie u. Psychiatrie 148/1934: 638-639.
[14] In: Logopaedie en Phoniatrie 10/1957: 2-8, Bes. S. 7.
[15] Berlin: Karger 1918.
[16] In: Dt. Z. f. Nervenheilkunde 54/1916: 19-45.
[17] 2. Aufl. Leipzig usw.: Deuticke 1925.
[18] Leipzig usw.: Deuticke 1925.
[19] S. Phonetica 2/1958: 221.
[20] In: Americ. J. of Psychotherapy 9/1955: 43-53.
[21] In: Phonetica 2/1958: 219-225.
[22] In: Heilpäd. F. 1/1965: 244-246.
[23] S. »Logopedics...«, 1965: 103.
[24] New York: Philosophical Library 1947.
[25] Amsterdam: North Holland 1964 – Bibliographie dort S. 222-232.