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Galton, Herbert

 

(früher: Goldstaub)

Geb. 1.10.1917 in Wien, gest. 9.12.2004 in Wien.

1935 Abitur in Wien. Danach Beginn des Studiums dort mit dem Hauptfach Slawistik, insbes. auch bei Trubetzkoy. Seine Eltern waren aus (Lemberg, damals Polen, heute Lwiw, Ukraine) nach Wien eingewandert; G. wuchs zweisprachig deutsch und polnisch auf. Wie seine Eltern hatte er die polnische Staatsbürgerschaft. 1938 wurde ihm der Paß entzogen; nach einer rassistisch begründeten Inhaftierung nach dem November-Pogrom wurde er zur Ausreise genötigt und des Landes verwiesen.[1] Er wanderte (illegal) in die Niederlande ein, wo er interniert wurde (bis Februar 1939). 1939 Weitermigration nach Großbritannien, wo er zunächst von einem Stipendium lebte, dann von 1940 bis 1956 beim britischen Rundfunk tätig war, zunächst beim Abhördienst für den slawischen Bereich, dann als Leiter der Abteilung für Jugoslawien. 1947 erlangte er die britische Staatsbürgerschaft, verbunden mit der Änderung seines Namens. Nebenher setzte er sein slawistisches Studium in London fort, wo er 1951 promovierte (s.u.). 1956 übersiedelte er nach Wien, wo er für die Rundfunkabteilung der US-Botschaft tätig war.

1962 wurde er an der slawistischen Abteilung der Univ. von Kansas (Lawrence) angestellt, zunächst Assist. Prof., dann Assoc. Prof., seit 1969 als Ordinarius für Slavic Philology. 1967 hatte er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. In dieser Zeit wieder­holte Studien- und Forschungsaufenthalte in Bulgarien, der ČSR und Jugoslawien. Seit der Emeritierung 1988 lebte er in Wien, wo er einerseits mit dem slawistischen Seminar der Universität Verbindung hatte (er betreute dort auch Studierende, z.B. auf einer Studienreise in die Sowjetunion 1989), andererseits mit literarischen Kreisen (Österreichischer Schriftstellerverband, PEN-Club).

G. war ein ausgesprochen produktiver Autor, der regelmäßig auf internationalen Kongressen vertreten war (slawistischen wie allgemein-sprachwissenschaftlichen, auch solchen der Phonetik) und in internationalen Fachzeitschriften publizierte. Sein Arbeitsbereich umfaßte allgemeine Arbeiten zum Sprachwandel, über die Slawinen hinaus auch andere indoeuropäische Sprachen (insbesondere auch die germanischen), die Phonologie und die Syntax, aber auch deskriptive Untersuchungen zu den Sprachformen einzelner literarischer Autoren, die im Übergang zu Stilanalysen stehen. Durchgängiger Arbeitsschwerpunkt bei ihm sind Fragen des Sprachkontakts, wobei er insbesondere zur Balkanphilologie gearbeitet hat und zu den Kontakten der Slawinen mit den altaischen Sprachen. Methodisch reklamierte er eine strukturelle Analyse in der Tradition der Prager Schule (er verwies explizit auf »N. S. Trubetzkoy, my teacher at the University of Vienna«).[2]

Eines seiner Hauptarbeitsgebiete war die historische Phonologie, der, ausgehend von der Rekonstruktion des Slawischen zunächst mit dem Schwerpunkt beim Russischen, schon seine Dissertation gewidmet war: »The phonological system of Original Old Slavonic and its Genesis«.[3] Deren Grundthese hat er dargestellt in »Tendency in Linguistic Evolution«.[4] Er wendet sich dort gegen ein atomistisches Verständnis phonologischer Analysen, das durch die dominanten Orientierungen an Fragen der Systemarchitektur den Blick auf die zugleich integrierenden wie i. S. der Entwicklungsdynamik labilisierenden Faktoren der Sprache verliert. Hinter lokalen Strukturmomenten, bei ihm im Vordergrund die Palatalisierung in den slawischen Sprachen, identifiziert er »globale« Mechanismen des prosodischen Baus mit der Folge von Beschränkungen des Silbenbaus, die sich in den slawischen Sprachen durch die Tendenz zur offenen Silbe und zur Beschränkung auf innersilbische Steuerungsfaktoren ausdrücken, anders als bei den germanischen Sprachen, deren wortintegrierende Akzentstrukturen transsilbische Mechanismen freisetzten mit der Folge komplexerer Silbenstrukturen und silbenübergreifender Steuerungen wie z.B. beim Umlaut. Vor diesem Hintergrund stellt er die rekonstruierte baltisch-slawische Spracheinheit in Frage.

Die Grundargumentation seiner Dissertation hat er später in einer Fülle von Detailstudien weiterentwickelt, die immer auch durch das im zeitgenössischen strukturalen Kontext auffällige Bemühen bestimmt sind, die ältere europäisch-deutsche Forschungstradition zur Geltung zu bringen. Im Gegenstandsbereich hat er dabei zunehmend mehr auch die südslawischen Sprachen, vor allem das Makedonische und das in prosodischer Hinsicht andere Serbokroatische, mit einbezogen, s. z.B. »Eine altkirchenslavische Konsonantenverbindung«;[5] »Über das Prinzip rhythmischer Alternation im Slavischen«[6] mit einer systematischen Diskussion von Akzentsystemen und der Unterscheidung von distinktiven/lexikalischen Akzentfunktionen gegenüber delimitativen; »Zwei urrussische Lautstudien«;[7] »Interrelations between the open syllable and the phonological system as illustrated in Slavic«;[8] »Syllabic division and the intonation of Common Slavic«.[9]

Die Überlegungen zur Rekonstruktion des Slawischen hat er systematisch auf das Indoeuropäische ausgeweitet, wobei er als Dimension der Sprachentwicklung die phonologisch begründete Wortausgrenzung isoliert, die gegenüber den aus dem Sanskrit rekonstruierbaren ältesten Formen eine Neuerung darstellt. Wo das Sanskrit in phonologischer Hinsicht weder im Prosodischen, noch im Silbenkontakt auf der Ebene des externen Sandhi das phonologische Wort als Einheit zu definieren erlaubt, bildet dieses einen Grenzwert für die Entwicklungen im Westen, wobei er die Akzentsysteme im Griechischen und Lateinischen im Vergleich zum Germanischen und Slawischen systematischer betrachtet. Dabei sieht er in der Bindung des Akzentes an Strukturprinzipien des phonologischen Baus der Wörter (Quantitätenrelationen) gewissermaßen eine Übergangsphase, die den Akzent lexikalisiert. In dieser Hinsicht geht für ihn das Lateinische weiter als das Griechische, da sich dort die Quantitätenverhältnisse unter dem Einfluß des Akzentes ändern können – wenn auch nicht so weit wie im Germanischen, das die Wortform und die lautliche Entwicklung im Wort dem integrierenden Akzent unterordnet, s. »The Fixation of the Accent in Latin and Greek«[10] oder auch »Accent, a chief factor in Linguistic change«.[11] Zu den systematischen Bemühungen um die Verallgemeinerung seiner Argumentation gehören auch entsprechende Arbeiten zum Deutschen, vgl. z.B. »The Old High German epenthetic vowel«.[12]

Das Echo auf seine Arbeiten war alles in allem gering. Dagegen stand vermutlich auch seine ausgesprochen polemische Art, seine Position zu präsentieren und vom strukturalistischen Mainstream abzugrenzen, vgl. etwa »Is a phonological system a reality«,[13] wie auch seine irritierende Art, philosophisch ausgreifende Exkurse, vorzugsweise im Rückgriff auf deutsche Philosophen wie Hegel, Schopenhauer oder Nietzsche, in seine Arbeit einzustreuen, s. etwa »Teleologische Sprachbetrachtung (an slawischem Material)«.[14] Im Rahmen der historisch vergleichenden Sprachwissenschaft präsentierte er sich dagegen als ausgesprochen struktural argumentierender Forscher, der bei der Rekonstruktion interne Faktoren in den Vordergrund rückt, gegen die traditionell übliche Argumentation mit externen, insbesondere ethnischen Faktoren wie bei der Substrattheorie. Im Gegensatz dazu greift er systematisch auch zu Argumentationen mit Kontakteinflüssen, vor allen Dingen im Rahmen der Sprachbundkonzeption von Trubetzkoy/Jakobson, s. etwa mit Rückgriff auf seine lautgeschichtlichen Analysen »Der Einfluß des Altaischen auf die Entwicklung des Slavischen«.[15]

Durch seine Ausrichtung auf diachrone Fragestellungen sind bei ihm (anders als im dominanten Strukturalismus der Nachkriegszeit, nicht nur, aber insbesondere in den USA) immer auch funktionale Gesichtspunkte präsent, wie bei den angesprochenen suprasegmentalen Strukturfragen des Silbenbaus und prosodischer Faktoren (Akzente, transsilbische Konturfilter wie Umlaut, Vokalharmonie, Palatalisierungen u. dgl.). Der Rückgriff auf derartige Analysekonzepte ist bei der Analyse dynamischer Prozesse und des Sprachkontaktes nötig, bei denen es gilt, die notwendigen Voraussetzungen in den beeinflußten Systemen auszumachen, so explizit in »Phonological causation through the system? The case of Slavic and Altaic«.[16]

Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeiten ist die Verbalsyntax, insbesondere die Aspektsysteme. In seinen früheren Arbeiten vertrat er hier die in der Indogermanistik seit langem nicht mehr akzeptierte Position einer kontinuierlichen Entwicklung vom älteren Indoeuropäischen zu den slawischen Aspektsystemen, wobei er unterschiedliche Ausbauformen in den verschiedenen indoeuropäischen Sprachen in Hinblick auf temporale Markierungen ansetzte, so im Vergleich der Slavinen mit dem Griechischen, z.B. »Aorist und Aspekt im Slavischen. Eine Studie zur funktionellen und historischen Syntax«.[17] Diese Position hat er in späteren Arbeiten aufgegeben bzw. differenziert. In einer parallelen Studie »Verbalaspekt im Griechischen und Slawischen«[18] unterscheidet er später systematisch Aspektsysteme von Tempussystemen, um die Interaktion beider Systeme in den slawischen Sprachen zu analysieren, wo diese Interaktion auch grammatikalisiert ist (im Lexikon), also universal markierbar ist, unabhängig von anderen lexikalischen Modifikationen; das unterscheidet er strikt von aspektuellen Differenzierungen, die ohne solche Bindungen auch anderswo (z.B. in den romanischen und germanischen Sprachen) auftreten können. Der Kern des slawischen Systems liegt für ihn in der Möglichkeit, jeder perfektiven Form, unabhängig davon, wie bzw. ob sie morphologisch markiert ist, eine imperfektive Bildung gegenüberzustellen.

Diese Entwicklung sieht er in den späteren Arbeiten als Neuerung im Horizont des Indoeuropäischen an, wobei er sie aus der üblichen Blickperspektive des Russischen löst und die literatursprachlich nicht gebremste Entwicklung des Makedonischen in den Vordergrund rückt, das altkirchenslawische Ansätze dazu weiterführt. Zu diesem Feld hat er eine ganze Reihe von Studien vorgelegt, s. z.B. »The main functions of the slavic verbal aspect«.[19] Diese Arbeit versucht, mit einem beträchtlichen theoretischen (»philosophischen«) Anspruch eine Basis für die Analyse der Grammatikalisierung von Tempussystemen zu finden, die er als sprachliche Inszenierung zeitlicher Verhältnisse faßt. Dabei stellt er insbesondere das slawische System den Systemen des Germanischen und Baltischen gegenüber, die keine Aspektsysteme aufweisen – wohl aber im Lexikon Aktionsarten. Als Revision seiner früheren Arbeiten grenzte er jetzt systematisch die slawischen Entwicklungen von den Strukturen des Altgriechischen ab, z.B. in: »The Aorist in Greek and Slavic«.[20]

Vor dem Hintergrund einer in diesem Sinne geklärteren Analyse von grammatikalisierten aspektuellen Strukturen und anderen Faktoren, die die temporale Interpretation einer Äußerung steuern, hat er dann auch entsprechende »textlinguistisch« ausgerichtete kleinere Studien unternommen, die z.B. den Partikeln gelten wie: »›Noch‹ und ›schon‹ im Deutschen und im Russischen«,[21] oder auch der Entwicklung von Determiniertheitsmarkierungen in den indoeuropäischen Sprachen, die ihn zur systematischen Differenzierung von »Textsorten« bringen (wiederum mit spezieller Betrachtung des Makedonischen), in: »The function of the definite article in some Indo-European languages: the grammatical category of determinacy«.[22] Auch hier verbindet er diese Analysen wieder mit dem Anspruch von sehr allgemeinen theoretischen Erklärungen und wendet sie gegen eine hyperstrukturalistische Argumentation, indem er soziale Faktoren wie den Sprachkontakt in Rechnung stellt, s. z.B. »Deixis in syntaktischer Entwicklung«.[23] Bei diesen syntaktischen Analysen ist der Horizont einer Stilanalyse präsent, in der Tradition der von ihm reklamierten Prager Schule, z.B. »On the function of the definite article in some Indo-European Languages«.[24]

G. stellte seine Überlegungen zur Ausgliederung der slawischen Sprachen ausdrücklich in die Tradition des Trubetzkoy-Jakobsonschen Konzepts des (europäischen) Sprachbundes. Durchaus anregend, wenn auch gelegentlich mit einer Neigung zu etwas wilden Phantasien, kritisierte er die oft unklar bleibenden Argumentationsmuster dieser Tradition, die gegen die Fortschreibung der »organisch«-endogenen Konzepte des Sprachwandels aus dem 19. Jahrhundert steht. Dabei forderte er, daß die postulierten Einflüsse des Sprachkontaktes auch sozialgeschichtlich fundiert werden müssen (er selbst begnügte sich allerdings mit gelegentlich recht phantastischen Konstruktionen), andererseits aber auch die systeminternen »Landeplätze« für kontaktinduzierte Strukturen definiert sein müssen, z.B. »Neither universals nor preferences – the Genesis of Slavic«,[25] oder zum Einfluß des Altaischen auf die Ausgliederung der slawischen Sprachen (im Gegensatz etwa auch zu den baltischen) und zu dem dagegenstehenden blockierenden Einfluß der germanischen Sprachen auf die westslawischen Sprachen, s. »Sprachkontakte des Slavischen vom Altaischen bis zum Germanischen«.[26] Zu seiner Neigung zu umfassenden, theoretisch weit ausholenden Rundumschlägen gehört auch seine heftige Polemik gegen soziolinguistische Phantasien in der Sprachrekonstruktion, wie sie in den Zeiten des »dialektischen Materialismus« üblich waren, s. seine Polemik (auf etymologisch seriöse Daten gestützt) gegen Isačenko in: »The Indo-European kinship terminology«.[27]

G. veröffentlichte über seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten hinaus auch im literarisch-publizistischen Bereich, moralisierende Essays (»Freedom from Illusions«)[28] ebenso wie Gedichte, in eigenen Publikationen sowie auch in verschiedenen Sammelbänden, zuletzt auch auf polnisch. Ohnehin ist seine mehrsprachige Publikationstätigkeit bemerkenswert, zu der auch Veröffentlichungen in Makedonisch gehören.[29]

Q: Persönliche Auskunft von H. G. sowie Hinweise von Bernard F., dem Sohn; DAS; Nachruf von W. Pianka, »In memoriam H. G.«, in: Wiener slav. Jb. 50/2004. 235-237.



[1] Die Eltern blieben in Wien; Verwandte sind in Konzentrationslagern umgekommen.

[2] In: Fol. Ling. Hist. 10/1989: 281.

[3] London: School of Slavonic and East European Studies 1951. Die Dissertation war mir nicht zugänglich, sie entspricht aber nach G.s Anmerkung in seinem Schriftenverzeichnis dem im Folgenden behandelten Aufsatz von 1954.

[4] In: Z. Phonetik u. allg. Sprachwiss. 8/1954: 238-255; 312-335.

[5] In: Z. slav. Ph.. 22/1954: 372-378.

[6] In: Wiener slavist. Jb. 5/1956: 37-58.

[7] In: Z. slav. Ph.. 37/1973: 55-62.

[8] In: Makedonski Jazik 29/1978: 111-116.

[9] In: H. und P. Hollien (Hgg.), »Current issues in the phonetic sciences«, Amsterdam: Benjamins 1979, Bd. 1: 261-265.

[10] In: Z. Phonetik u. allg. Sprachwiss. 15/1962: 273-299.

[11] In: »Proc. 5th Congr. phonet. Science« [Münster 1964], Basel: Karger 1965: 316-320.

[12] In: J. Engl.-Germanic Ph. 55/1956: 234-246.

[13] In: Archivum Linguisticum 6/1954: 20-30.

[14] In: Fol. Ling. 14/1980: 83-102.

[15] Wiesbaden: Harrassowitz 1997.

[16] In: Fol. Ling. Hist.10(1-2)/1989: 281-286.

[17] Wiesbaden: Harrassowitz 1962.

[18] In: Fol. Ling. 8/1975: 147-156.

[19] Skopje: Macedonian Academy of Science and Arts 1976.

[20] In: Z. f. Balkanologie 25/1987: 30-41.

[21] In: Fol. Ling. 10/1976: 377-384.

[22] In: Linguistics 107/1973: 5-13.

[23] In: Fol. Ling. 11/1977: 217-230.

[24] In: Fol. Ling. 5/1971: 151-155.

[25] In: Fol. Ling. Hist. 17/1996: 171-176.

[26] In: Z. slav. Ph. 48/1988: 271-283.

[27] In: Z. f. Ethnologie 82/1957: 121-138.

[28] Lawrence/Kansas: Coronado Press 1977.

[29] Für seine Verdienste um die makedonische Sprache wurde er 1987 von der Universität Skopje ausgezeichnet.