Mittwoch, Eugen
Geb. 4.12.1876 in Śrem (Polen – früher Schrimm bei Posen), gest. 8.11.1942 in London.
Studium der Orientalistik, klass. Philologie und Philosophie in Berlin; gleichzeitig Ausbildung zum Rabbiner. 1899 Promotion, 1905 Habilitation in Semitistik. Verschiedene Forschungsreisen in den vorderen Orient, aktiv in jüdisch-zionistischen Organisationen, besonders auch in Palästina, wo M. den Ausbau des Ivrit förderte (das er selbst sprach). Am Seminar f. Orient. Sprachen in Berlin lehrte er seit 1907 schwerpunktmäßig Amharisch (und andere äthiopische Sprachen); für dieses Gebiet wurde er 1915 zum a.o. Professor ernannt. Im Ersten Weltkrieg leitete er die Nachrichtenstelle für den Orient (dem Auswärtigen Amt angeschlossen) und gab deren Zeitschrift Der neue Orient (s.u.) heraus. 1917 wurde er o. Professor für semitische Philologie in Greifswald (er trat die Stelle aber wegen seiner Dienstverpflichtung in Berlin nicht an). Seit 1919 Prof. an der Univ. Berlin, seit 1920 als stellvertretender Direktor, ab 1928 dann als Direktor des Seminars für Orientalische Sprachen (als Nachfolger von Sachau, der sein Doktorvater gewesen war). Außerdem tätig an der dortigen AdW.[1]
Seine patriotische Einstellung im Ersten Weltkrieg (er gehörte zu den Unterzeichnern der patriotischen »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches« 1914) verband er mit gleich großem Engagement in der jüdischen Gemeinde. Er arbeitete bei jüdischen Siedlungsprojekten mit (bes. auch solchen der Fellaschas, äthiopischen Juden),[2] war leitend tätig in der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums,[3] und nach 1933 im Auswärtigen Amt zuständig für »jüdische Angelegenheiten«, auch als Repräsentant des »Zentralvereins«. Zum 1.7.1933 wurde er zum ersten Mal aus rassistischen Gründen entlassen, aufgrund der Ausnahmebestimmungen des Gesetzes vom 7.4.1933 wegen seiner Tätigkeiten vor 1914 wieder eingestellt.
Im Oktober 1935 wurde er im Vorgriff auf die noch ausstehenden Durchführungsbestimmungen der Nürnberger Gesetze zunächst beurlaubt. M. versuchte u.a. mit dem Hinweis auf seine isolierte Qualifikation für die Äthiopistik eine Wiedereinstellung zu erreichen. Das Verfahren wurde erst im Januar 1938 formal mit der Bestätigung seiner Zwangsemeritierung abgeschlossen – zugleich mit der Umwidmung seines Lehrstuhls in »Arische Philologie«. 1938 war er zur Wahrnehmung jüdischer Belange in Frankreich tätig; in Reaktion auf die Pogrome emigrierte er im November 1939 nach London (mit der Genehmigung des Ministeriums, das ihm auch seine Rente weiter zahlte), wo er 1942 verstarb. In London war er mit jetzt geänderten politischen Vorzeichen politisch-öffentlich aktiv: in der BBC, beim Geheimdienst sowie für jüdische Hilfsoranisationen.
M. war Semitist in umfassendem Sinne, der sich als Islamkundler darüber hinaus auch mit dem Türkischen und Persischen befaßte. Er hatte eine breite kulturgeschichtliche Ausrichtung bei seiner Arbeit, angefangen bei der Dissertation »Proelia Arabum paganorum (Ajjâm al cArab) quomodo litteris tradita sint«,[4] die synoptisch eine Bestandsaufnahme der vorislamischen arabischen Historiographie bietet, mit einer Kritik der verfügbaren Ausgaben. In gleichem Sinne veröffentlichte er umfassende kulturgeschichtliche Untersuchungen zum Arabischen und edierte selbst Quellenwerke. Die Gegenstände seiner Forschungen spannen von der Literatur (auch der maurischen in Spanien) über Volksmedizin bis zu abergläubischen Praktiken. Darüber hinaus bearbeitete er die Altsemitistik, vor allem im Bereich der Epigraphik: zum Althebräischen (Palmyra) sowie bes. den sabäischen (altsüdarabischen) Inschriften (Jemen), denen seine letzten Arbeiten (Ausgaben und Editionen) galten. Im Zentrum seiner Forschungen stand das Äthiopische. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte des Judentums in Deutschland, u.a. als Mitherausgeber der Werkausgaben von Moses Mendelssohn.
Seine politische Einstellung war deutschnational, wie sich vor allem in Veröffentlichungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zeigt. Er betrieb Wissenschaft direkt als Politikberatung, z.B. in »Die wirtschaftliche Bedeutung der Sprachenfrage in der Türkei«,[5] wo er einen Überblick über die sprachlichen Verhältnisse in der Türkei gibt, differenziert nach sprachlichen/ethnischen Gesichtspunkten (Türkisch, indoeuropäische Sprachen, vor allem Armenisch, Kurdisch, Griechisch sowie Arabisch u.a.) religiösen Gesichtspunkten (Islam, Christentum, Judentum), und vor allem auch sozialen Gliederungen, mit dialektalen Differenzierungen auf dem Land und Modernisierungsentwicklungen in den Städten, bei denen er die Rolle des Kontakts mit den europäischen Sprachen herausstellt (er plädiert dafür, daß das Deutsche die Rolle des bis dahin dominanten Französischen einnehmen sollte).
Diese Darstellung verband er mit strukturellen Betrachtungen, etwa zur Form der Arabisierung des modernen Türkischen, bei dem verbale Neubildungen durch ein arabisches Masdar (Verbalnomen) in Verbindung mit einem türkischen »leichten Verb« gebildet werden (S. 330), ausführlich auch zum Schriftproblem: in der Komplexität des arabisch-basierten Schriftsystems der Türkei sieht er einen der wichtigsten Gründe für den hohen Analphabetismus im Land. So tritt er für eine Modernisierung des Schriftsystems ein, die er schon im türkischen Militär beobachtet, argumentiert aber entschieden gegen dessen Latinisierung.[6] Dieser Aufsatz ging aus einem Vortrag in der »Zentralgeschäftsstelle für deutsch-türkische Wirtschaftsforschungen« 1916 in Berlin hervor.
Noch deutlicher sind die politischen Obertöne in seinem Pamphlet »Deutschland, die Türkei und der Heilige Krieg«,[7] in dem er die Türkei (und ihre »tapferen Soldaten«) als Bündnisgenossen im Kampf gegen die Alliierten, vor allen Dingen gegen Rußland, preist: »Ein heiliger Krieg ist es, zu dem Deutschlands waffenfähige Söhne im Sommer dieses Jahres in beispielloser Begeisterung hinausgezogen sind. Mit Fug und Recht: ein heiliger Kampf. Wenn je ein Krieg ein heiliger genannt werden durfte, dann ist es das gewaltige Ringen, das Deutschlands Heere [...] gegen eine Welt von Feinden siegreich bestehen« (S. 3). Im gleichen Sinne gab er nach dem Krieg die Zeitschrift Der neue Orient. Halbmonatsschrift für das politische, wirtschaftliche und geistige Leben im gesamten Osten[8] heraus, deren Ausrichtung nicht zuletzt durch die Anzeigen deutscher Firmen deutlich wird. So war er ein wichtiger Vertreter im Umfeld der Kolonialbewegung zwischen den Weltkriegen, der z.B. auch mit dem Afrikanisten Westermann kooperierte, mit dem er sich einig in der Frontstellung gegenüber dem Islam war (sein eigener Arbeitsschwerpunkt, das Äthiopische, galt ja auch einer christlichen Gesellschaft mit starken jüdischen Anteilen).
Seine im engeren Sinne sprachwissenschaftlichen Arbeiten waren methodisch ausgesprochen rigide, vor allem im Bereich der Schriftanalyse. Entsprechend der Tradition des Berliner Seminars für Orientalische Sprachen arbeitete er mit Informanten (z.T. Lektoren am Seminar), vor allem zum Amharischen (gegen die bis dahin weitgehend als reine Schreibtischforschung betriebene Äthiopistik in Deutschland).[9] So gab er mit dem Amharisch-Lektor am Seminar, Aläqa Tayyä,[10] eine Reihe volkskundlicher Texte heraus, die er sprachwissenschaftlich erläuterte.
In einer systematischen Kritik der traditionellen Schreibweise stellte er dieser eine phonetisch genaue Transkription bzw. Rekonstruktion gegenüber, analysierte aber die tradierte Schreibung als Ausdruck des Sprachbewußtseins, die insofern einen eigenen Forschungsgegenstand bildet (s. »Proben aus amharischem Volksmunde«).[11] Daraus entwickelte er ein methodisches Instrument, das er insbesondere auch in seiner systematischen Darstellung »Die traditionelle Aussprache des Äthiopischen«[12] nutzte, wo er nicht nur mit einem Vergleich der Sprechweise verschiedener Gewährsleute operierte, sondern auch deren Reaktionen auf Transkriptionen entsprechend analysierte. Der Horizont der Analyse ist ausgesprochen weit: vor allem auch zur Silbenstruktur, zur Akzentuierung u. dgl.; im übrigen enthält der Band entgegen der Titelankündigung einen recht systematischen grammatischen Abriß. Die gleiche methodische Ausrichtung zeigt sich bei seiner kritischen Ausarbeitung der Ergebnisse von Fachkollegen im Bereich des Südarabischen im weiteren Sinne, s. seine Bearbeitung der Materialien von Hermann Burchardt: »Aus dem Jemen. Hermann Burchardts letzte Reise durch Südarabien«.[13]
Auf der gleichen methodischen Basis bearbeitete er auch die Quellen von archäologischen Expeditionen, z.B. der von Rathjens und von Wissmann 1927/1929 in den Jemen: gemeinsam mit J. H. Mordtmann »Sabäische Inschriften«,[14] und auch die epigraphische Sammlung in Hamburg (gemeinsam mit H. Schlobies): »Altsüdarabische Inschriften im Hamburgischen Museum für Völkerkunde«.[15] Die systematische Analyse liefert ihm hier Anhaltspunkte, um Originale von Fälschungen zu trennen, wie sie schon damals Touristen auf den einheimischen Märkten angeboten wurden.
M. war auch nach seiner Emigration eine Autorität auf seinem Gebiet, wie die zahlreichen Verweise auf persönliche Auskünfte und Expertisen zeigen, die sich bei Fachkollegen in dieser Zeit finden. In London arbeitete er mit P. Kahle bei der Bearbeitung aramäischer Kodizes zusammen.
Q: V; LdS: unplaced; BHE; Kreiner 1989: 11; Walk 1988; NDB; E/J; Nachruf von E. Littmann, in: Z. dt. Morgenländ. Ges. 99/1945-1946: 143-146; E. Ullendorff, »Eugen Mittwoch and the Berlin Seminar for Oriental Languages«, in: I. R. Netton (Hg.), »Studies in Honour of Clifford Edmund Bosworth«, Bd. 1, Leiden etc.: Brill 2000: 145-158; ein Nachruf von Leslau (Paris 1944) war mir nicht zugänglich; Bibliogr. [von W. Gottschalk], in: Ms. Gesch. u. Wiss. d. Judentums 81 (NF 45)/1937: 243-250; Archiv der Humboldt Universität Berlin; Hanisch 2001: 63; E/J 2006; Ellinger; DBE 2005.
[1] S. Stern Bd. III/1979: 29.
[3] Zunächst war er im Vorstand zur Gründung einer »Akademie für die Wissenschaft des Judentums«, seit 1920 dann im »Wissenschaftlichen Vorstand« des dieser zugeordneten Forschungsinstituts in Berlin, s. Korrespondenzbl. Verein zur Gründung u. Erhaltung einer Akademie f. d. Wiss. d. Judentums 1/1920. Nach 1933 wurde die Akademie zunächst noch als »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums« weitergeführt.
[4] Berlin: Mayer und Müller 1899.
[5] In: Archiv für Wirtschaftsforschung im Orient 1/1916: 317-343.
[6] Wie sie von Atatürk 1928 dann durchgeführt wurde.
[7] Berlin: Kameradschaft, o.J. [1914] – eine »Kriegsschrift« des Kaiser-Wilhelm-Dank-Vereins der Soldatenfreunde.
[8] Erschienen: 1/1917-1918 bis 17/1943.
[9] S. dazu und zu M.s Rang im Fach Hammerschmidt 1968, bes. 25-27.
[10] Zur Besetzung dieses Lektorats, s. den Briefwechsel in Ullendorff (Q). Für den Fall ihrer Rückkehr nach Deutschland hatte M. Brauner-Plazikowski für diese Stelle vorgesehen, s. dort S. 153/154.
[11] In: Mitt. Seminar Orient. Spr. Berlin II, Westasiatische St., Jg. 1907: 185-241.
[12] Berlin: de Gruyter 1926.
[13] Leipzig: Brockhaus o.J. [1926].
[14] Hamburg: Friedrichsen, de Gruyter 1931.
[15] In: Orientalia NS 7/1938: 95-99, 233-238, 343-354.