Ranke, Friedrich G. J.
Geb. 21.9.1882 in Lübeck, gest. 10.10.1950 in Basel.
Nach dem Abitur 1901 in Lübeck ging er (als Einjähriger) zum Militär. Seit 1903 Studium der Germanistik zunächst in Göttingen, dann in München und Berlin. 1907 promovierte er bei Roethe in Berlin. Seine Dissertation »Sprache und Stil im Wälschen Gast des Thomasin von Circlaria«[1] galt schon seinem auch späteren Hauptanliegen: dem Herausarbeiten komplexer Überlieferungszusammenhänge; dazu nutzte er umfassend sprachwissenschaftliche Arbeitsmethoden (i. S. seiner Lehrer H. Paul und G. Roethe), ist aber auf antijunggrammatische »ganzheitliche« Fragestellungen ausgerichtet: statt einer junggrammatischen Reimgrammatik liefert er eine Stilanalyse Thomasins.
Eines seiner Hauptinteressen galt der höfischen mhdt. Literatur, bei der er in diesem Sinne die komplexe Überlieferung von Gottfrieds Tristan aufarbeitete, also die Entwicklung in der Tradierung, deren handschriftliche Zeugen er daher gegen die Tradition »kritischer« Ausgaben bis in orthographische Details philologisch-akribisch sicherte (und edierte). Vielleicht war ihm hier die etablierte Orthodoxie zu stark; jedenfalls entwickelte er diese Konzeption zunächst (vor allem auch für seine Habilitationsschrift 1910) eher auf einem Nebenschauplatz, der Volkskunde. Daß er die volkskundlichen Erzählungen nicht anachronistisch als bewahrtes Brauchtum aus der Urzeit (»germanisch« oder gar »indogermanisch«) ansah, sondern eher soziologisch aus dem Umfeld sich wandelnder kultureller Praxen und psychologisch gefaßter Haltungen zu erklären versuchte, wurde im Feld der politisierten Volkskunde des Amtes Rosenberg zum Politikum. Hier geriet R. mit seiner nüchternen Sichtweise nordischer Kulturformen (insbes. der Wikinger) in die Schußlinie,[2] griff selbst aber auch energisch mit wissenschaftlichen i. e. S. wie vor allem auch populären Vorträgen und Zeitungsbeiträgen in die Debatte ein, so vor allem in Diskussion um die zunächst auch vom SS-Ahnenerbe hochgespielte sog. »Ura Linda Chronik« (eine vorgeblich altfriesische Handschrift).[3]
Als Privatdozent ging er zunächst nach Straßburg, 1912 nach Göttingen, wo er seine Tristan-Arbeit aufnahm, die erst 1930 zu einer vorläufigen Edition kam, deren philologischer Apparat allerdings (weil von ihm als nicht fertig betrachtet) unveröffentlicht im Nachlaß verblieb.[4] Ein weiterer Arbeitsbereich lag beim Altnordischen, wo er bereits als Student von A. Heusler Übersetzungen publizierte und auch später zahlreiche einführende Darstellungen verfaßte. Seine sprachwissenschaftliche Basis ist vor allem deutlich bei dem knappen Einführungsband »Altnordisches Elementarbuch«.[5] Auch hier richtet er sich scharf gegen germanentümelnde Mystifizierungen und sah gerade bei mythologischen Texten (etwa der Edda) vor allem eine Aufgabe für den sprachwissenschaftlich geschulten Philologen. Wo er sich aber genauer mit den Texten, schwierigen Lesungen u. dgl. befaßte, waren es vor allem Motivfragen, die er u.U. auch vergleichend volkskundlich anging, nicht im engeren Sinne sprachgeschichtliche Probleme, s. etwa »Der Altersspruch der Seherin« (1941),[6] wo er eine Erklärung einer unklaren Edda-Stelle (Vluspá, 2. Str.) mit Parallelen aus alpinen Sagen versucht.
In diesem Sinne vertrat er die Alte Abteilung der Germanistik in ihrer ganzen Breite: seit 1917 (während seines Kriegsdienstes 1914-1918, bei dem er mehrfach verwundet wurde) in Göttingen als a.o. Prof., seit 1921 als o. Prof. in Königsberg, seit 1930 in Breslau. Dazu gehörte insbes. auch, daß er die Mundartforschung betreute: in Breslau begründete er das »Schlesische Wörterbuch« mit. Insofern bearbeitete er gerade auch nicht-literarische Überlieferungen, z.B. in dem von ihm mit J. Müller-Blattau hg. »Rostocker Liederbuch«,[7] einer heterogenen Textsammlung, die er aus buchbinderischer Makulatur etablierte, sprachlich gemischt (hdt., ndt., latein.) ebenso wie sozial (aus studentischem Milieu wie anderen Schichten); mit seinem Mitherausgeber rekonstruierte er auch die musikalische Seite der Lieder. Hier reklamierte er sprachwissenschaftliche Methoden gegen einen »literaturwissenschaftlich« oberflächlichen Umgang gerade mit der »volkssprachigen« Überlieferung, wie er es auch schon in seiner Habilitationsschrift deutlich gemacht hatte: »Der Erlöser in der Wiege. Ein Beitrag zur deutschen Volkssagenforschung«,[8] so in den systematischen Vorbemerkungen zu dieser Ausgabe.
Ein Arbeitsschwerpunkt war für ihn die regionale Ausdifferenzierung beim frühen Sprachausbau, der sich von der Ausrichtung auf die lateinische Schriftkultur emanzipierte, vor allem da, wo nicht eine literarische Kunstsprache die Fluchtlinie bestimmte, so z.B. in seiner Ausgabe »Das Osterspiel von Muri nach den alten und neuen Fragmenten«,[9] dessen hochalemannische Form er der Auseinandersetzung mit dem lateinischen Vorbild gegenüberstellt (die älteste Handschrift stammt aus dem 13. Jhd.), oder »Zum Wortschatz der österreichischen Umgangssprache um 1400«,[10] wo er mit den Belegen zu seiner Wortliste v.a. auch die neue Syntax in diesen Texten herausstellt. Mit dem deutschen Wortschatz befaßte er sich öfters, so z.B. »Vom Lebenshintergrund unseres Wortschatzes« (1949),[11] wo er das Studium von Wortgeschichte(n) schweizer Lehrern als didaktisches Mittel empfiehlt und am Beispiel einer Reihe von inzwischen trivialisierten Begriffen (gelassen, zerstreut...) deren Grundlage vor allem in der Mystik aufzeigt (neben höfischer Dichtung und auch Reformation), die Zäsur aber in der Aufklärung sieht (z.B. 132, 140).
Sein strenger »Positivismus« trennte ihn zwar von Roethe, dessen konservative politische Grundhaltung wird er aber geteilt haben. Als Altgermanist setzte er auch auf die politische Umwälzung 1933 als »Aufbruch« der Nation und als einer erhofften »neuen Hinwendung des deutschen Geistes zu Volkstum und Vatererbe«.[12] Am weitesten ging er in seiner, zur politischen Strömung homologen Argumentation in seinen Beiträgen zur Diskussion um das Nibelungenlied, aber dort immer ohne die damals üblichen völkisch-rassistischen Untertöne (detailliert dazu Roth, Q).
Während die Querelen mit dem Amt Rosenberg wohl keine direkten Konsequenzen für ihn hatten,[13] traf ihn (wie seinen Bruder, den Ägyptologen Hermann Ranke) nach 1935 die rassistische Verfolgung, da er mit einer »Nicht-Arierin« verheiratet war: 1937 wurde er in Breslau entlassen, erhielt aber gleich (auf Betreiben seines früheren Lehrers A. Heusler) in Basel das dort soeben vakant gewordene altgermanische Ordinariat (dennoch erschien er in den Listen der Notgemeinschaft). Wie auch bei seinem Bruder war seine Position in der deutschen wissenschaftlichen Öffentlichkeit von diesen repressiven Maßnahmen nicht betroffen: er konnte insbes. ungehindert weiter in Deutschland publizieren (auch sein »Altnord. Elementarbuch« wurde 1940 in den Idg. F. [Bd. 57: 80] positiv besprochen). In Basel hatte er keine Integrationsprobleme: er lehrte und forschte in seinen Gebieten weiter, hielt zahlreiche populärwissenschaftliche Vorträge und beschäftigte sich auch intensiv mit schweizer Mundarten bzw. spezifischen schweizer Textüberlieferungen.
Q: LdS (1937): unplaced; BHE; Sternfeld/Tiedemann; W. G., in: Hess. Bl. Volkskunde 42/1951: 115-117; W. Altwegg, in: Schweizer A. Volkskunde 46/1949-1950: 195-202 (Bibliographie S. 199-202); H. Neumann/W. E. Peukert, in: Z. dt. Ph. 71/1952: 245-256; H. Rupp/E. Studer (Hgg.), Vorwort in den »Kleinen Schriften«, München u. Bern: Francke 1971: 7-12; D. Roth, »Kontinuität u. Diskontinuität in der Altgermanistik der dreißiger und vierziger Jahre am Beispiel Friedrich Rankes«, in: C. Caduff/M. Gamper (Hgg.), »Schreiben gegen die Moderne«, Zürich: Chronos 2001; IGL.
[1] Berlin: Mayer & Müller 1908 (= Palestra 8).
[2] S. Bollmus 1987: 53.
[3] S. seine Invektive gegen den damit propagierten »neue[n] Geist der Wissenschaft« in: »Die Sprachwissenschaft und die Ura-Linda-Chronik«, in: Schlesische Zeitung v. 16.1.1934 (Unterhaltungsbeilage).
[4] (Hg.), »Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Text«, Berlin: Weidmann 1930.
[5] 1937 in der Sammlung Göschen, inzwischen in der Bearbeitung von D. Hofmann in der 4. Aufl., Berlin: de Gruyter 1979.
[6] In: H. Rupp/E. Studer (Hgg.), »F. R. Kleine Schriften«, München u. Bern: Francke 1971: 178-188.
[7] Halle/S.: Niemeyer 1927.
[8] München: Beck 1911.
[9] Aarau: Sauerländer 1944.
[10] In: F. Müller (Hg.), »Beiträge zur Sprachwissenschaft und Volkskunde« (Festschrift für E. Ochs), Lahr: Schauenburg 1951.
[11] In: Kleine Schriften, a.a.O.: 130-142.
[12] S. Hess. Bl. f. Volkskunde 42/1951: 115.
[13] S. dazu Bollmus 1987: 53.