Wolf, Siegmund Andreas
Geb. 15.6.1912 in Magdeburg, gest. 18.11.1987 in Lünen (Kr. Unna).
Nach dem Abitur 1929 in Magdeburg arbeitete er dort freiberuflich, vor allem auch mit genealogischen Archiv-Arbeiten, für das Preußischen Innenministerium war er seit 1931 als Dolmetscher für Jiddisch und "Zigeunersprachen" tätig. 1933 wurde das förmliche Arbeitsverhältnis aus politischen Gründen (wegen »zersetzender Äußerungen«) aufgelöst. Seine Aktivitäten in der Zeit danach sind undurchsichtig.[1] Er betrieb seine "Zigeunerforschung" weiter, offensichtlich teilweise auch in Verbindung mit den offiziellen Rassenforschungseinrichtungen. Dabei kam es zu Konflikten, vor allem als er sich weigerte, der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ seine Bibliothek zu verkaufen, die daraufhin von der Gestapo konfisziert wurde. Schließlich erhielt er für seine Forschungen ein Studienverbot. Er wurde wiederholt inhaftiert und ein Verfahren wegen staatsgefährdender Tätigkeit wurde gegen ihn eingeleitet. Daraufhin (wann genau ist unklar) floh er illegal in die Schweiz, wo er aber aus diesem Grund auch nicht regulär studieren konnte. Er lebte dort mit kirchlicher Unterstützung und betrieb Privatstudien (bes. zum Sanskrit). 1940 emigrierte er weiter nach England, wo er Medizin studierte und seinen Kriegsdienst in der Britischen Armee absolvierte (im Krieg war er u.a. in Indien, wo er sich intensiv weiter mit dem Sanskrit beschäftigte).
Er kehrte 1945 oder 1946 nach Deutschland zurück und war 1946-1947 in der Sozialfürsorge in Sachsen angestellt (als Regierungsinspektor). Aus politischen Gründen verließ er die SBZ und war vom 1.1.1948 - 20.11.1949 als Sonderdolmetscher bei der französischen Militärverwaltung in Berlin tätig. Danach war er freiberuflich tätig und arbeitete Privatgelehrter an seinen großen lexikographischen Arbeitsvorhaben: Jiddisch, "Zigeunersprache" sowie der Fachsprache des Bergbaus und Hüttenwesens. Erst 1957 erhielt er eine materielle Absicherung durch ein DFG-Stipendium (bis 1965) – dank einer Unterstützung sowohl von Seiten germanistischer Sprachwissenschaftler wie von jüdischen Professoren. 1963/1964 hatte er an der FU Berlin einen Lehrauftrag für Jiddisch; 1964 erhielt er dort den Dr. h.c. Eine Einstellung als Studienrat im Hochschuldienst an der Freien Universität Berlin kam aber nicht zustande, weil W. mit der angebotenen Stelle nicht zufrieden war und schließlich seinen Lehrauftrag unter Protest zurückgab. Eine daraufhin geplante Habilitation in München (bei Wissmann) kam (nach Wissmanns Tod) nicht zustande, sondern erfolgte erst 1969 in Heidelberg (bei P. von Polenz) für das Gebiet »Deutsche Philologie mit besonderer Berücksichtigung des Jiddischen und der Fach- und Sondersprachen«. Im gleichen Jahr (oder schon vorher?) nahm er einen Privatdienstvertrag für seine Forschungsgebiete am germanistischen Institut der Universität Bochum an, wo er 1971 auch zum apl. Professor ernannt wurde. In den späteren Jahren hat er seine Projekte weiterverfolgt, offensichtlich mit erheblichem Mißtrauen gegenüber der akademischen Konkurrenz (und mit Schwierigkeiten, eine Drittmittelförderung zu erhalten).
Sein publiziertes Werk umfaßt vor allem lexikographische Sammlungen, die den Rang von Standardwerken haben. Sie stützen sich auf eine umfassende Sichtung der z.T. recht entlegenen Glossare und enthalten Forschungsberichte, die einen eigenständigen Wert haben, so insbesondere sein »Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache«;[2] »Großes Wörterbuch der Zigeunersprache«;[3] »Jiddisches Wörterbuch. Wortschatz des deutschen Grundbestandes der jiddischen (jüdischdeutschen) Sprache«.[4] Hinzu kommen eine Reihe regionalgeschichtlicher Arbeiten zu seiner Magdeburger Heimat (mit namenkundlichen bzw. slawo-germanischen Schwerpunkten). Die lexikographische Arbeit ist eingebettet in sprachsoziologische Betrachtungen: so insbes. zum Status des Jiddischen als einer Mischsprache, die sich im slawischen Umfeld gebildet hat, also ohne »Überdachung« durch die hochdeutsche Schriftsprache (dabei verweist er auf das Sonderproblem der Situation jiddischsprechender Arbeitsmigranten in Deutschland vor 1933).
Sein sprachwissenschaftliches Unternehmen steht für ihn offensichtlich in direkter Folge seiner selbst erfahrenen Verfolgung: charakteristischerweise enthalten die Vorbemerkungen seiner Lexika auch sehr deutliche Aussagen über die faschistische Repression der jeweiligen Bevölkerungsgruppe (s. z.B. im Wörterbuch der Zigeunersprache, S. 24-26, des Jiddischen im Jiddische[n] Wörterbuch, S. 11).
Q: Kürschner; Hinweise von M. Briegel (DFG), H. Glück, P. von Polenz; ausführliche Anmerkungen von Jakob Michelsen (Hamburg) haben 2021 zu Korrekturen des Beitrags geführt.
[1] S. dazu die Hinweise zu ihm in M.Zimmermann (Hg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jhd. Stuttgart: Steiner 2007. Seine widersprüchlichen Verhältnisse nach 1933 erklären auch, daß er sie selbst nach 1945 nicht geklärt hat, s. auch in Zimmermann (2007: 342) die Hinweise darauf, daß er selbst sich aus diesen Gründen auch nicht als Opfer des Nationalsozialismus hat registrieren lassen und keine Wiedergutmachung betragt hat.
[2] Mannheim: Bibliographisches Institut 1956, Neuauflage Hamburg: Buske 1986. Für eine Würdigung und vor allem auch methodische Kritik, s. W. Röll, »Das jiddische Wörterbuch S. A. Wolfs«, in: Jiddistik Mitteilungen (Trier) 31/2004: 1-10.
[3] Mannheim: Bibliographisches Institut 1960.
[4] Mannheim: Bibliographisches Institut 1962; 2. durchgesehene Aufl. Hamburg: Buske 1986.