Zuntz, Günther
Geb. 28.1.1902 in Berlin, gest. 3.4.1992 in Cambridge.
Nach dem Abitur 1920 in Berlin Studium der klass. Philologie und Archäologie in Berlin, Marburg, Göttingen und Graz. Zunächst Lehramtsabschluß und Lehrer: 1924-1926 an der Odenwaldschule, einer Reformschule in Oberhambach/Hessen; 1926-1932 Gymnasium in Marburg bzw. Kassel, 1928 2. Staatsprüfung. Daneben 1927 Promotion in Marburg.
Die Dissertation »Über Hölderlins Pindar-Übersetzung«[1] zeigt schon das Profil auch seines späteren Werkes: die sprachwissenschaftlich-philologisch genaue Präparation der sprachlichen Form als Artikulation der damit ausgedrückten Inhalte. Indem er an Hölderlins (für dessen Selbstverständigung verfaßte) Pindar-Übersetzung dessen unzureichende Griechischkenntnisse in einem detaillierten Textvergleich mit der Vorlage aufweist, zeigt er vor allem aber auch die darin sichtbar werdende Kreativität Hölderlins (wieder im Kontrast zu der sprachlichen Besonderheit Pindars), so daß die Arbeit ein Beispiel für eine durchgeführte kontrastive Stilanalyse ist.[2]
1933 wurde er aus rassistischen Gründen entlassen.[3] Er hatte damals wohl schon Vorarbeiten für eine Habilitationsschrift über griechische Papyri begonnen, mit Unterstützung von W. Schubart, dem damaligen Leiter der Papyrusabteilung des Berliner Museums. Über dessen Vermittlung erhielt er mit Unterstützung durch die dänische Hilfsorganisation bzw. durch dessen Leiter Aage Friis[4] 1933 eine Forschungsstelle in Kopenhagen, wo er unter der Leitung von C. Høeg eine Ausgabe der liturgischen Papyritexte der griechischen Kirche vorbereiten sollte. Diese Ausgabe erschien unter seiner Herausgeberschaft: »Prophetologium«, Bd. 1, Erste Lieferung 1939, abgeschlossen 1970.[5]
Die Einkünfte aus der Kopenhagener Stelle reichten zum Leben kaum aus. Daher bemühte er sich schon 1933 um eine Weitermigration nach England, wo seine beiden Schwestern lebten (s. bei Leonie Zuntz), die ihn materiell unterstützten. Obwohl er gelegentlich dort an Schulen unterrichtete, fand er keine Einstellung als Lehrer; da er in Deutschland vor der Auswanderung keine Professur hatte, galt er für die akademischen Hilfsorganisationen auch nicht als »displaced scholar«. Erst 1938 konnte er mit Vorträgen in Oxford auch in der wissenschaftlichen Welt Fuß fassen. 1939 wanderte er dann auch ein und arbeitete zunächst noch an der Kopenhagener Edition weiter (die edierten Papyri liegen in der Oxforder Bibliothek). Bei Kriegsbeginn wurde er auf der Isle of Man interniert. Erst 1943 bekam er eine reguläre Stelle in Oxford als Bibliothekar. Bis dahin lebte er von der Unterstützung seiner Familie dort.
Schon zu Beginn der Zeit in England hatte er parallel zur Edition der liturgischen Texte zu den Überlieferungsfragen der Quellentexte gearbeitet. Analog zur Konstellation bei Homer stellte sich für ihn hier nicht die Frage der Rekonstruktion eines Urtextes, sondern des Durchsichtigmachens der vielfältigen Überlieferung, bei der die philologische Frage des authentischen Textes erst sekundär auftritt und in diesem Fall letztlich erst das Ergebnis der alexandrinischen Grammatiker ist (hier sieht er Parallelelen zwischen der christlichen Überlieferung und der jüdischen Masorah), mit denen die Hellenisierung des Christentums greift. Exemplarisch hat er diese Arbeit nach einigen Teilveröffentlichungen 1953 mit einer Untersuchung und Teiledition der Paulusbriefe abgeschlossen,[6] bei der die Autorität eines literarischen Autors einen »definitiven« Text selbstverständlicher macht als bei den im Glauben unmittelbar verankerten Evangelien. In einer akribischen Analyse isoliert er Überlieferungsschichten, z.B. wenn in der späten Revision die von daher als frühe Textzeugen identifizierbaren asyndetischen Formen durch grammatische Verbindungen expliziert werden (i. S. des späten horror asyndeti, S. 201). Die Rekonstruktion grammatischer Muster stellt er so der Isolierung von Kopistenfehlern gegenüber. In der Forschung gilt diese Arbeit nach wie vor als maßgeblicher Bezugspunkt.[7]
Gegen Kriegsende war Z. aktiv in Kreisen, die die Frage des (intellektuellen) Wiederaufbaus in Deutschland diskutierten – wozu für ihn die Rückbesinnung auf die antiken Quellen der im besten Sinne hybriden deutschen Kultur gehört, s. sein Vortrag (gehalten an der Universität Oxford im April 1945) »Humanism and history in German education«.[8] Erst nach dem Weltkrieg erhielt Z. 1947 eine Dozentenstelle für Griechisch (mit dem Schwerpunkt im Rahmen der Theologenausbildung) an der Universität Manchester, wo er von 1963 bis zu seiner Emeritierung 1969 als Professor für hellenistisches Griechisch tätig war. Wichtig waren für ihn dabei die fachlichen Kontakte: in Oxford etwa zu P. Maas, in Manchester zu O. Skutsch.
Aus seinem Unterricht ist sein ausführlicher Griechisch-Lehrgang hervorgegangen, mit dem er gegen die didaktisch übliche Vorgehensweise, die Lerner von Anfang an an Originaltexte heranführt, von denen die (z.T. sehr umfangreich auch sprachvergleichend angelegten) grammatischen Erläuterungen als Kommentare getrennt sind.[9] Als er diesen Lehrgang in England nicht publizieren konnte (vermutlich weil er zu eindeutig sprachwissenschaftlich ausgerichtet war), folgte er einer Einladung 1976/1977 nach Tübingen,[10] um den Lehrgang dort noch einmal auf deutsch zu entwickeln und dann auch zu publizieren.[11]
Z. war Philologe mit einem Schwerpunkt bei religions- und literaturgeschichtlichen Studien. Den größten Teil seines Oeuvres bilden textphilologische und interpretatorische Arbeiten, mit dem Schwerpunkt bei dem nachklassischen Griechischen. In Verbindung mit stilistischen und vor allem metrischen Problemen finden sich aber auch systematische sprachwissenschaftliche Analysen. Gleiches gilt für die zahlreichen etymologischen Studien, die in seinen Arbeiten enthalten sind, etwa passim in seinen »Opuscula selecta. Classica, Hellenistica, Christiana«.[12]
Sein Werk ist außerordentlich breit gestreut. Dazu gehört eine Fülle von textkritischen Arbeiten, die ihren Schwerpunkt bei der komplexen Überlieferung haben, v.a. Dingen der Papyri, dann zu Aristophanes, Euripides, Lukian, Plutarch u.a. Entsprechend seinen schulischen Lehrerfahrungen bildete dabei immer auch die Metrik einen Schwerpunkt, bei der er sich kritisch mit der akzentuierenden Aussprache des Schulgriechischen auseinandersetzte, hier auch kritisch mit P. Maas, den er in seinem Buch 1930: 10* noch emphatisch seinen Lehrmeister nannte. Dessen metrisches System zerpflückte er später systematisch, da es seiner Meinung nach in seiner Künstlichkeit nur zu einem parodierenden Vortrag griechischer Dichtung führen kann.
Das Verhältnis zu Maas war allerdings ohnehin nicht ohne Spannungen, wie Z.s Rezension von dessen Romanos-Ausgabe von 1963 deutlich macht.[13] Letztlich wirft er den Herausgebern vor, den Text nicht hinreichend am Original überprüft zu haben, was er selbst exemplarisch anhand eines Fragments vorführt, bei dem er zu anderen Lesungen
kommt.[14] Im Gegensatz zu Maas sind für ihn die Grundlagen der griechischen Metrik keine anderen als die der deutschen Dichtung: nicht die quantitative Metrik ist das
Problem, sondern die Koppelung von Akzentuierung an schwere Silben, die die Besonderheit der deutschen (germanischen) Metrik ausmacht, s. »Drei Kapitel zur griechischen
Metrik«.[15] Z.s Metrik ist eine Anleitung zum rhythmischen Vortrag. Hier wird deutlich, daß Z. sich immer als Lehrer verstanden hat. Pädagogische Fragestellungen beschäftigten ihn lebenslang, angefangen bei Theateraufführungen griechischer Klassiker, die er schon als Lehrer in Kassel unternahm und später in Oxford und Manchester fortsetzte, bis hin zu der Arbeit an Lehrmethoden für das Griechische.
Nur indirekt kommt in Z.s Arbeiten auch seine Biographie als rassistisch Verfolgter durch kritische Anmerkungen zu jüdischen Topoi zum Ausdruck. Für ihn gehört das Judentum zu den Quellen der hybriden Kultur Europas – was es daher problematisch macht, in biblischen Topoi und ihrer sprachlichen Fortentwicklung Semitismen sehen zu wollen (»Greek words in the Talmud«;[16] so auch in der Rezension zu Maas, 1965, s.o.). Hierher gehört auch eine jahrelange Kontroverse mit Kahle, die (wie er auch im späteren Rückblick noch herausstellt) mit einer Diskussion nach einem Vortrag von Z. in Oxford 1943 begonnen hatte, in dem er über eine Osterpredigt des Melito von Sardis (2. Jhd.) als im Stil der zeitgenössischen griechischen Rhetorik verfaßt referierte – worauf Kahle in seiner schroffen Art auf einer syrischen Originalversion bestand. Z. kam 1952 nochmal auf diese Kontroverse zurück und wies Kahles Position als unhaltbar zurück.[17] Die Gegenüberstellung des Semitischen als dem Anderen vollzog für ihn offensichtlich seine erfahrene rassistische Ausgrenzung nach.[18]
Für ihn war die sprachliche Analyse immer nur ein Mittel, um umfassende kulturelle Zusammenhänge sichtbar zu machen, weshalb er auch andere disziplinäre Zugänge nutzte, wie seine musikologischen Interessen bei der Edition der liturgischen Texte der griechischen Kirche. Seine späteren Arbeiten waren durch religionsgeschichtliche Fragestellungen bestimmt, mit denen er Figuren der griechischen Mythologie: Muttergottheiten wie Demeter/Persephone, in der mediterranen Vorgeschichte zurückverfolgt, im Raum der Magna Graecia, also vor allem in Malta, Sizilien und Süditalien (»Persephone. Three essays on religion and thought in Magna Graecia«).[19] In dieser weitausgreifenden Studie, die sich mit den Arbeiten anderer Vorgeschichtler berührt (z.B. mit Bossert, den Z. auch anführt, S. 41), versucht er die kulturelle Schicht zu identifizieren, die später hellenistisch reartikuliert wurde – philologische Aspekte sind hier eher marginal (sie kommen nur bei der Analyse beschrifteter Goldplättchen zum Zuge, die sich als Grabbeigaben im 4. Jhd. v. d. Z. in Unteritalien finden; ihnen gilt Teil III des Werkes, S. 277ff.).
Postum wurde sein letztes Werk herausgegeben, an dem er auch wieder in Verbindung mit den Tübinger Kollegen gearbeitet hat: »Griechische philosophische Hymnen« (hg. aus dem Nachlaß von H. Cancik und L. Käppel).[20] Es nimmt das Thema seiner Dissertation wieder auf: die poetische Form, in der philosophische Gedanken überliefert wurden, hier in der Form von Hymnen (Preisliedern). Diese in gewisser Weise literaturgeschichtlich-systematisch angelegte Arbeit enthält ausführliche sprachgeschichtliche (wortgeschichtliche) Exkurse, so etwa zur Wortgeschichte von θεολογος (S. 48-66) sowie in Verbindung mit einer Textedition ausführliche sprachliche Kommentare vor allem auch zu »dunklen« Stellen (S. 164-183).
Bei Z. war die wissenschaftliche Ausrichtung seines Lebenswerks ganz offensichtlich nicht zuletzt den politischen Eingriffen in seine Biographie geschuldet. Mit Ausnahme der Kooperation mit den Tübinger Kollegen (s.o. zum Griechisch-Kurs), lehnte er jeden Kontakt zu deutschen Institutionen ab: er hatte die Kränkung der Entlassung und die politischen Entwicklungen in Deutschland nicht überwunden (und ist insbesondere auch bis zu seinem Tod trotz wiederholter Aufenthalte in Tübingen nie mehr nach Berlin gefahren).
Q: BHE; DBE 2005; Nachrufe von H. Schwabl, Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 143/1992: 437-443 und M. Hengel in: Proc. British Academy 87/1995: 493-522 (auf Deutsch auch in ders. als Herausgeber von E. Z., »Lukian von Antiochien«, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 1995, 2, Heidelberg: Winter 1995, dort S. 63-89); Arch. B/J; Bibliographie in den »Kleinen Schriften« (1972: 314-317, Ergänzungen dazu in den genannten Nachrufen); Briefliche Hinweise von M. Hengel (Tübingen) u. C. Kasper-Holtkotte (Oxford).
[1] Kassel: Thiele & Schwarz 1928.
[2] Hölderlin gehört zu den von Z. lebenslang verehrten Dichtern, wie Z. auch selbst Gedichte (auf Deutsch) schrieb, s. Hengel (Q).
[3] Z. ist ein eindrückliches Beispiel für die absurde Konstellation, die mit der rassistischen Stigmatisierung als Jude im faschistischen Deutschland verbunden war. Seine väterliche Vorfahrenlinie weist zwar eine Reihe renommierter jüdischer Wissenschaftler auf (s. Hengel, Q), die Familie war aber seit der Großelterngeneration von Z. christianisiert und gehörte zu dem aufgeklärten preußischen Großbürgertum. Seine Mutter stammte aus einer protestantischen preußischen Familie, so daß Z. im ethnischen Sinne des Judentums auch kein Jude war, obwohl er im Sinne der Nürnberger Gesetze als Volljude galt. In einem Brief an die Leiterin der Bibliographia Judaica vom 8.6.1981, R. Heuer, weigerte er sich ausdrücklich, dort als Jude aufgenommen zu werden.
[4] Dänischer Historiker (1870-1949), der 1933 eine dänische Hilfsorganisation für vertriebene Wissenschaftler aus Deutschland gegründet hatte (Den danske Komité til støtte for Landflygtige Aandsarbejdere »Das dänische Komitee zur Unterstützung von exilierten Geistesarbeitern«).
[5] Kopenhagen: Munksgaard; Bd. 2 wurde von G. Engberg herausgegeben.
[6] »The text of the Epistels. A disquisition upon the Corpus Paulinum«, Oxford: UP British Academy: 1953.
[7] In der Einleitung vermerkt er, daß er seit 1939 an dieser Ausgabe gearbeitet habe. Vgl. zum Ansatz auch mit einer ähnlichen Zielsetzung, die (nach wie vor sehr viel umstrittenere) Arbeit von Tur-Sinai zum Alten Testament.
[8] In: The Congregational quarterly 24/1946: 110-123.
[9] Seine didaktische Konzeption hat er in einer Reihe von Aufsätzen in didaktisch ausgerichteten Zeitschriften in den 60er und 70er Jahren dargestellt (s. in der deutschen Ausgabe 1991, Bd. 1: 6, FN 2).
[10] Sie ging zurück auf H. Cancik, der bei ihm in Manchester studiert hatte.
[11] »Griechischer Lehrgang«, 3. Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. Die von ihm selbst noch vorbereitete englische Ausgabe erschien dann doch noch postum 1994.
[12] Manchester: Univ. Press 1972.
[13] In: Journal of Theological Studies 16 (2)/1965: 511-517.
[16] In: J. of Semitic Studies 1/1956: 129-140.
[17] »Melito – Syriac?«, in: Vigiliae Christianae 6/1952: 193-201; zu dem Hintergrund vor einer patristischen Folie, in der wohl überwiegend Z. gefolgt wird, siehe H. M. Knapp »Melito’s use of scripture in Peri Pascha second-century typology«, in: Vigiliae Christianae 54/2000: 343-374.
[18] Die heftige jahrelange Auseinandersetzung mit KAHLE ist einerseits im Kontext der sehr unterschiedlichen Lebenssituation der beiden im englischen Exil zu sehen, andererseits vor dem Hintergrund, daß zwischen beiden Familien schon lange Beziehungen bestanden hatten (Hinweis von C. Kasper-Holtkotte).
[19] Oxford: Clarendon Press 1971.
[20] Tübingen: Mohr 2005.