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Geiger, Theodor

Geb. 9.11.1891 in München, gest. 16.6.1952 auf der Überfahrt von Kanada nach Dänemark.

 

1910 Abitur in Landshut. Danach Studium der Rechts- und Staatswissenschaft in München und Würzburg, wo er 1914 das juristische Staatsexamen ablegte. 1914-1918 als Freiwilliger im Krieg (verwundet). Promotion 1919 in Würzburg. Die Dissertation »Die Schutzaufsicht«[1] war eine vergleichende Studie zu einem Problem des Vormundschaftsrechts/der Entmündigung, bei dem er die Notwendigkeit sah, das deutsche Recht (das Bürgerliche Gesetzbuch) im Interesse des Staates/der Gesellschaft fortzuentwickeln.

Nach der Promotion übte er unterschiedliche berufliche Tätigkeiten aus: am Statistischen Reichsamt in München, später in Berlin. Dort war er 1920-1929 auch Dozent an der Volkshochschule. Außerdem arbeitete er für die Nachrichtenstelle (Pressewesen) des Reichswehr-Ministeriums. Seit 1924 lehrte er an der TH Braunschweig, 1928 a.o. Professor, 1929 o. Professor, zugleich tätig in Institutionen der Erwachsenenbildung. Politisch und publizistisch war er aktiv bei der Linken (Mitglied der SPD, später der KPD). 1933 kam er seiner Entlassung aus politischen Gründen zuvor, indem er mit Unterstützung der Rockefeller-Foundation nach Dänemark emigrierte, wo er zunächst in Kopenhagen am Institut für Geschichte und Wirtschaft tätig war, dann 1938 die erste dänische Professur für Soziologie überhaupt an der Universität in Århus erhielt. Nach der deutschen Besetzung Dänemarks wurde er 1940 entlassen. Er lebte noch bis 1943 in Dänemark, als er nach Schweden floh, wo er in Stockholm und Uppsala lehrte. 1945 kehrte er nach Dänemark zurück, wo er seine Stelle in Århus wiedererhielt (er nahm damals, vielleicht aber auch schon vor 1943 die dänische Staatsbürgerschaft an). Von dort aus nahm er auch gleich wieder Kontakt zur deutschen Soziologie auf, u.a. im Rahmen der von ihm 1949 mitgegründeten International Sociological Association.

G. gehört zu den Klassikern der deutschen Soziologie.[2] Von seinen außerakademischen Aktivitäten her bemühte er sich sowohl um eine theoretische Fundierung, vor allem in Auseinandersetzung mit der Rechtssoziologie, wie um eine empirische Begründung. Dazu gehörten sozialstatistische Arbeiten wie vor allem seine heute noch als Standardwerk herangezogene Sozialgeschichte »Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage«.[3] Hier überwand er die üblichen Reduktionsversuche sozialer Stratifikation, indem er auf der einen Seite statistisch fundiert ökonomische Faktoren, auf der anderen Seite Haltungen und Erwartungen in der Wahrnehmung der sozialen Verhältnisse gegenüberstellte. Auf der Folie einer solchen Bestandsaufnahme der Verhältnisse am Ende der 20er Jahre kam er zu einer überraschend präzisen Analyse der Erfolgschancen der nationalsozialistischen Bewegung. Diesen Ansatz hat er später in Dänemark in einer systematischen Auseinandersetzung mit der marxistischen Klassenanalyse weiterentwickelt.[4]

Seine frühen Studienschriften, oft in einem populärwissenschaftlich aufklärerischen Kontext publiziert, lassen eine solche methodische Orientierung meist vermissen.[5] Es scheint so, als ob erst die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Gefahr ihm eine analytisch klarere Position abverlangt hätte. So findet sich bei ihm denn auch in der Zeit unmittelbar vor seiner Emigration noch eine Auseinandersetzung mit der Rassenbiologie. Zwar forderte er auf der einen Seite energisch, die von den »eugenischen« Programmen angeprangerten Mißstände erst einmal einer soziologischen Analyse zu unterziehen, bevor sie mit rassenbiologischen Methoden »ausgemerzt« werden sollen;[6] andererseits geriet er aber mit der Betonung des Primats des Sozialen gegenüber dem Individuellen in eine gefährliche Nähe zu der nationalsozialistischen Rassenpolitik, bei der er in der Kritik an der »liberalistischen Ideologie« bis zur Befürwortung der Zwangssterilisierung ging.[7]

Früh hat er sich mit massenmedialen Erscheinungen auseinandergesetzt und auf diese Weise auch zwangsläufig eine Art Sprachanalyse betrieben. Dazu gehörten in den 20er Jahren Analysen der Presse und des Rundfunks, vor allem dann aber in den 30er und 40er Jahren in Dänemark Analysen der Werbung, bei denen er gegen eine moralische Kritik eine Strukturanalyse setzte, die ökonomisch fundiert die Inszenierungsformen der Ware auf die Rezeptionshaltungen der Adressaten abstellt.[8] Mit dieser nüchternen Analyse bildet er bis heute ein Korrektiv gegen die immer noch überwiegend moralisierenden Darstellungen in der Tradition der Kritik an der Massengesellschaft in diesem Feld. Allerdings fehlt in diesen Arbeiten eine Sprachanalyse im engeren Sinne.

G. war ein exponierter politischer Gegner des Nationalsozialismus,[9] der seine Gegnerschaft gewissermaßen strukturell begründete: aus der Rolle des modernen Intellektuellen in Opposition zu Machtstrukturen (aus dem für ihn unhintergehbaren Gegensatz von »Macht und Geist«). Damit wandte er sich gegen eine gefühlsbetonte Kritik der Massengesellschaft, die ihre Gegenbegriffe gerade in der deutschen Tradition in der Bildung und in den Gebildeten fand. Nicht von ungefähr entwickelte er diese Position recht systematisch in der politischen Kampfschrift des Exils, Gumbels Sammelwerk von 1938.[10] Von dieser Position aus, seinem professionellen Verständnis von modernen Intellektuellen, entwickelte er letztlich dann auch sein Verständnis von Soziologie und soziologischer Analyse als einer professionellen Tätigkeit.

Dazu gehörte für ihn auch die Analyse der ins Werk gesetzten Begrifflichkeit, im weiteren Sinne also die Sprachforschung, die er auch in den angesprochenen massenmedialen Analysen empirisch umsetzte (weshalb er auch in dieser Dokumentation berücksichtigt wird). Dabei setzte er sich systematisch mit den Ansätzen von Karl Mannheim auseinander, dessen Wissenssoziologie er das Verwischen der strikt theoretischen Ebene und der von praktisch-politischen Interventionen mit Wertungen vorwarf. So in seinen dänischen Arbeiten in den 1930er Jahren und dann noch nach dem Krieg, als er am Beispiel der konzeptuellen Gemengelage bei Ideologie Mannheim als „unfreiwillige[n] Waffenschmied nazistischer Afterphilosophen>“ hinstellte.[11]

Eine auf 31 Bände geplante Ausgabe seiner gesammelten Werke hat K. Rodax 2006 angefangen.[12]

Q: LdS: permanent; BHE; Walk 1988; DBE; Nachruf von René König in: Scand. Rev. Sociology 1/1955; René König 1981; Bibliographie in Paul Trappe »Arbeiten zur Soziologie«, Neuwied: Luchterhand 1962.

 

 

[1] Gedruckt 1919 als Heft 200 der »Strafrechtlichen Abhandlungen« (Breslau: Schletter).

[2] S. auch die Auswahl aus seinen Schriften hg. von P. Trappe: »Theodor Geiger: Arbeiten zur Soziologie. Methode – Moderne Großgesellschaft – Rechtssoziologie – Ideologiekritik«, Neuwied: Luchterhand 1962.

[3] Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, Nachdruck der 1. Aufl. Stuttgart 1932.

[4] »Klassesamfundet i støbegryden«, Kopenhagen: Gads 1948; dt. »Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel«, Köln: Kiepenheuer 1949.

[5]  »Die Gestalten der Gesellung«, Karlsruhe: Braun 1928; »Führen und Folgen«, Berlin: Weltgeistbücher 1928 u.a.

[6] »Soziologische Kritik der eugenischen Bewegung«, Berlin: Veröffentlichungen aus dem Gebiet der Medizinalverwaltung 40, H. 4, 1933.

[7] »Erbpflege: Grundlagen/Planung/Grenzen«, Stuttgart: Enke 1934, s. besonders das Vorwort S. IV, vgl. auch S. 12; Zitat S. 96.

[8] »Kritik af Reklamen«, Kopenhagen: Busck 1943. Für eine Würdigung mit der Übersetzung von Auszügen, s. R. Geißler/H. Pöttker, »T. G.s Geschichte der Werbung«, in: Publizistik 32/1987: 320-337.

[9] Trotzdem schätzte auch er 1933 die politische Lage zunächst noch nicht richtig ein. Noch im August versuchte er (vergeblich), Speiers Manuskript »Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus« mit kosmetischen Korrekturen zu publizieren. Ende September wanderte er dann selbst aus.

[10] »Freie Wissenschaft«, Straßburg: S. Brant 1938: 46-66.

[11] »Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie“, in: G. Eisermann (Hg.), Gegenwartsprobleme der Soziologie (FS A. Vierkandt), Potsdam: Athenaion 1949: 141 -156, Zitat S. 142.

[12] Frankfurt: Lang. Als erster Band erschien 2006 seine Analyse der Klassengesellschaft von 1948, s. FN 4.