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Oettinger, Anthony

Geb. 29.3.1929 in Nürnberg.

 

Unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten flohen die Eltern vor der drohenden rassistischen Verfolgung nach Frankreich (die Mutter war Französin), wo O. die Schule besuchte. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen flohen sie 1941 über Spanien und Portugal in die USA. Seine mehrsprachige Sozialisation, die er auch als Schüler in den USA noch um Russisch erweiterte, bestimmte seine spätere Ausrichtung, neben seiner Faszination durch die Elektronik, die er mit Jobs in Radiogeschäften entwickelte.

1947 erhielt er ein Stipendium für das Mathematik-Studium an der Harvard University, wo er daneben auch Sprachwissenschaft studierte. 1947 wurde er naturalisiert. 1951 machte er seinen Abschluß in angewandter Mathematik mit einem B.A., 1954 mit dem Ph.D. Die Dissertation galt einem zentralen Problem der damals im Aufbau befindlichen Forschung zur maschinellen Übersetzung: der automatisierten Extraktion kanonischer Lemmata in Sprachen mit reicher Morphologie, in seinem Fall: in Anwendung auf das Russische. Er erhielt daraufhin in Harvard eine Post-doc-Stelle, zur einen Hälfte in der sprachwissenschaftlichen und zur anderen Hälfte in der ingenieurwissenschaftlichen Abteilung. In Harvard war er in enger Verbindung mit entsprechenden Forschungsprojekten am MIT; dabei war er früh in Forschungsprojekte zur maschinellen Übersetzung einbezogen, aber darüber hinaus auch in andere Formen der maschinellen Informationsverarbeitung. Seit 1955 lehrte er angewandte Mathematik in Harvard, seit 1963 als o. Prof. mit der ausdrücklich um »Linguistics« erweiterten Ve­nia.

O. war eine Schlüsselfigur im Aufbau der mathematischen Lin­guistik. Als Mathematiker war er an der Entwicklung von effektiven Algorithmen beteiligt, die in der jüngeren Grammatiktheorie einen speziellen Anwendungsbe­reich hatten, s. etwa seinen grundsätzlichen Beitrag »The Geometry of Symbols« in den von ihm selbst hg. »Proceedings of a Symposium on Digital Computers and their Application« (Harvard 1961).[1] Vor diesem Hin­tergrund hat er früh die Möglichkeiten und Grenzen mathematischer Konzepte in der Sprachwissenschaft exploriert, s. etwa seinen Beitrag »Linguistics and Mathematics«[2] – mit einer Klärung der für Nicht-Mathematiker mißverständlichen Begriffe Mo­dell/Modellierung und u.a. auch einer Evaluierung von Chomskys frühen Arbeiten zur Algebraisierung der Grammatiktheorie.

In die­sem Sinne hatte er eine leitende Funktion in dem großen Projekt zur maschinellen Übersetzung, das an der Univ. Harvard angesiedelt war und weitgehend mit Drittmitteln (vor allem vom Verteidigungsministe­rium und der CIA) finanziert wurde (die vorgegebene Zielsetzung war entsprechend, die Übersetzung vom Russischen ins Englische zu ermöglichen). Im Gegensatz zu den damals noch überwiegend recht naiv konzipierten Projekten, die Texte als Verkettung von unanalysierten Wörtern ansahen, wie es z.B. für das Chinesische, in gewisser Weise auch das Englische, plausibel erschien (s. hier auch Reifler), insistierte er auf einer formalen Grammatik, insbes. auch einer Morphologie als Grundlage für solche maschinellen Übersetzungsprojekte, bei ihm seit seiner Dissertation mit dem Fokus auf eine Sprache mit reicher Morphologie wie dem Russischen, s. seinen Bericht: »Automatic Lan­guage Translation. Lexical and Technical Aspect, with particular Reference to Russian«[3] (= Band 12 der Proceedings eines Symposiums in New York 1960, das nicht nur führende Vertreter der mathematischen Linguistik, sondern auch anders orientierte prominente Sprachwissenschaftler versammelte). O. entwickelte hier seine formale Modellierung strikt im Rahmen der mathematischen Automatentheorie, in direkter Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Bar-Hillel und daran anschließend von Chomsky. Zwar griff er in diesem Rahmen explizit auf die Ar­beiten Chomskys zurück, war aber im Gegensatz zu anderen Vertretern der mathematischen Linguistik nie auf deren spezifische Syntax-Konzeption festgelegt, die eher theoretisch als anwendungsbestimmt definiert war: er plädierte für ein Forschungsdesign, das strikt auf einen effektiven Algorithmus zielt. In diesem Rahmen war er theoretisch of­fener, aber umso rigider in den Anforderungen an den Grad der Formalisierung der Analysen.

Das entspricht auch der Zusammensetzung der Forschungs­gruppe in Harvard, wo neben O. vor allem der funktionalistisch orientierte Susomo Kuno im Rahmen der Generativen Grammatik früh Ansätze ver­trat, die gegen die uferlose Ausweitung der Syntax diese zu be­schränken suchten und pragmatische (perzeptiv bzw. allgemeiner ko­gnitiv integrierte) Erklärungskomponenten in die Beschreibung her­einnahmen. O. hat auch mit Kuno gemeinsam zur Bearbeitung kom­plexer syntaktischer Phänomene, z.B. von Ambiguität, publiziert.

O.s Schlüsselposition in dieser Szene kommt in seiner Herausge­berfunktion und Anschlußarbeit in den entsprechenden Bereichen der mathematischen Linguistik zum Ausdruck. Seine eigenen Forschungs­arbeiten waren strikt formal auf die Bereitstellung mathemati­scher Instrumente für diese angewandt-sprachwissenschaftlichen Forschungen abgestellt, s. z.B. sein »Automatic Syntactic Analysis and the Pushdown Store« in den von R. Jakobson hg. Akten des Symposiums »Structure of Language and its Mathematical Aspects« der American Mathemat. Society,[4] wo er eine nicht einfach linear vorgehende, sondern hypothesentestende syntaktische Analyse formalisierte.

Vor diesem Hintergrund konnte er auch eine zentrale Rolle als Mitglied im sog. ALPAC (»Automatic Lan­guage Processing Advisory Committee«) spielen, das 1966 das Schicksal der ersten Phase der Computerlinguistik besiegelte, die von direkten Erwartungen an effektive Systeme vor allem in der ma­schinellen Übersetzung bestimmt war (s. Pierce 1966). Hier wurden auf der einen Seite die technischen Möglichkeiten realistisch auf computergestützte Hilfsfunktionen »herab«gestuft, andererseits der Rahmen für theoretische Grundlagenforschung auf den heute technisch produktiv gewordenen Horizont der Kognitionswissen­schaft erweitert. Bei dem Ausbau dieser neuen Wissenschaftsorien­tierung hat O. eine wichtige Rolle gespielt. Seit den 1960er Jahren ist er in zentralen Regierungsgremien, die mit der Informationsverarbeitung befaßt sind, so z.B. auch im Rahmen des großen Projekts zur Entwicklung der bemannten Weltraumforschung. Daneben betrieb er effizient die Professionalisierung der Computerwissenschaft (Computerlinguistik im engeren Sinne, maschinelle Übersetzung), nicht zu­letzt durch eine Reihe publikumsadressierter »Sachbücher«, die Einfluß auf wissenschaftspolitische Entscheidungen nehmen konnten.

In Harvard baute er mit dem »Program on Information Resources Policy« in den 70er Jahren einen Forschungsverbund auf, an dem außer Regierungsinstitutionen nach und nach die meisten Großfirmen und Banken der USA beteiligt waren, so daß er damit eine Schlüsselagentur für die politische Steuerung der Informationstechnologie leitete, s. auch seine in diesem Sinne eher volkswirtschaftlich argumentierende Darstellung in »High and Low Politics: Information Resources for 80's«,[5] die sich bemüht, Information als ökonomisch kalkulierbare Ressource zu präsentieren. Entsprechend war (und ist) er seitdem in Schlüsselpositionen der Politikberatung tätig: direkt im Weißen Haus und vor allem auch bei den verschiedenen Agenturen des Verteidigungsministeriums, vom Geheimdienst bis hin zur NASA. Dem entspricht, daß die jüngeren Veröffentlichungen von O. wissenschaftspolitisch ausgerichtet sind (im weiten Feld der Informationstechnologie) und keine direkte sprachanalytische Zielsetzung mehr haben.

Q: BHE; B/J; Autobiographie »Machine Translation at Harvard«, in J. Hutchins (Hg.) 2000: 73-86; Homepage Univ. Harvard: http://www.harvardsquarelibrary.org/cfs2/anthony_oettinger.php (Jan. 2009). Ein Interview mit Oettinger (»Oral History«: geführt von Atsushi Akera am 10. und 11. Januar 2006): http://delivery.acm.org/10.1145/1150000/1147775/a5-oettinger.pdf?key1=1147775&key2=3361501221&coll=GUIDE&dl=GUIDE&CFID=2281083&CFTOKEN=42212434 (Jan. 2009).



[1] Cam­bridge/Mass.: Harvard UP 1962: 203-224.

[2] In: E. Pulgram (Hg.), »FS J. Whatmough«, Den Haag: Mouton 1957: 179-186.

[3] Cambridge/Mass.: Harvard UP 1960.

[4] Providence/Rh. I. 1961: 104-129. Es handelt sich um Bd. 12 der Akten eines Symposiums 1960 in New York, das nicht nur Vertreter der mathematischen Linguistik, sondern auch prominente Sprachwissenschaftler unterschiedlichster Orientierung versammelte. Damit wurde die Arbeit an formalen Grammatiken in den Rahmen der mathematischen Automatentheorie gestellt, bei O. in direkter Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Bar-Hillel (und daran orientiert von Chomsky).

 

[5] Cambridge/Mass.: Ballinger 1977.