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Simon, Walter Ernst Julius

Geb. 10.6.1893 in Berlin, gest. 22.2.1981 in London.

 

S. war jüdischer Konfession; die Mutter kam im Konzentrations­lager um.

Nach dem Abitur 1911 begann er sein Studium der Romanistik und klassischen Philologie in Berlin, das er 1915-1918 durch den Kriegsdienst unterbrechen mußte, den er zu empirischen Untersuchungen (Arbeit mit Informanten) für seine Dissertation über einen judenspanischen Dialekt nutzte. 1919 (erweitert 1920) legte er in Berlin das Staatsexamen für Französisch, Latein und Griechisch ab. 1919 wurde er in Berlin promoviert. Die Disser­tation (»Charakteristik des judenspanischen Dialekts von Salo­niki«)[1] ist eine deskriptive Darstellung auf der Grundlage der selbst aufgezeichneten Erzählun­gen, parallel und kontrastiv dargestellt zu M. L. Wagners Arbeit zum Judenspanischen von Konstantinopel (W. betreute die Arbeit wohl auch fachlich, s. S. 680). Die grammatische Darstellung wird im Sinne der »historischen« Grammatik vom Altspanischen her entwickelt; das Glossar weist die nicht romanischen Elemente des Wortschatzes ety­mologisch nach.

Von 1919 bis 1935 war er in Berlin im Bibliotheksdienst. 1920 legte er seine Diplomprüfung als Bibliothekar ab, ging dann 1921/1922 an die Bibliothek in Kiel, danach wieder zurück nach Berlin. Von 1932/1933 wurde er für eine Bibliothekstätigkeit in Peking beurlaubt, wo er an der Katalogisierung der Mandschu-Bestände arbeitete. Gleichzeitig mit seiner Bibliothekstätigkeit nahm er ein Studium der Sinologie auf, in der er 1926 in Berlin habilitierte. Seitdem lehrte er an der Universität (klassisches) Chinesisch. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt war bei ihm von Anfang an das Tibetische, wo er A. H. Franckes Neubearbeitung des damaligen Standardwerks der tibetischen Grammatik von H. Jäschke[2] unterstützte. Der von ihnen beigegebene Anhang praktiziert eine konsequente strukturale Analyse, bemerkenswert modern nicht nur in der Rekonstruktion der von der Schrift verdeckten phonologischen Struktur (hier mit einer Kritik an Laufer), sondern vor allem auch in der Morphosyntax, z.B. bei der Analyse der komplexen Prädikate mit einer analytischen Respekt-»Konjugation« (S. 135). Auch in weitere ostasiatische Sprachen arbeitete er sich systematisch ein, so gibt er in Heepe (1928) nicht nur eine Darstellung der lautlichen Verhältnisse und ihrer Verschriftung im Chinesischen sondern auch für das Birmanische (ebd. 96-110).

1932 wurde er zum a.o. Professor ernannt. Seit 1930 fungierte er auch als Mitherausgeber der »Orientalischen Literaturzeitung«. 1934 wurde ihm aus rassistischen Gründen die venia legendi entzogen, wogegen – in einem der wenigen dokumentierten Fälle – seine Studierenden offen protestierten. Bis 1935 konnte er als Weltkriegsveteran seine Bibliotheksstelle noch halten. Die Notwendigkeit der Auswanderung fiel ihm aufgrund seiner patriotischen Grundhaltung außerordentlich schwer zu akzeptieren (s. Bawden, Q). 1936 emigrierte er mit Unterstützung des britischen Hilfskomitees nach England, wo er eine Stelle als Lektor an der School of Orien­tal and African Studies für Chinesisch, Japanisch, Tibetanisch und Mandžu erhielt (1947 als ordent­licher Professor; 1960 emeritiert).

Während des Weltkrieges gab er Sprachunterricht in ostasiatischen Sprachen bzw. bildete Übersetzer bei den britischen Streitkräften aus, was ihn vor einer Internierung schützte – dieser politischen Zielsetzung (damit letztlich dem Kampf gegen den Faschismus) ordnete er seine Forschungsinteressen weitgehend unter, an die er erst nach Kriegsende wieder anknüpfte. Im Gegensatz zu seinen vorausgehenden Forschungsarbeiten (und wohl auch seiner Lehre) waren diese Kursmaterialien auf das moderne gesprochene Chinesisch (Mandarin) ausgerichtet, z.B. die Übungsmaterialien »Structure Drill in Chinese. National Language, Gwoyeu«,[3] ist ein umfassendes Lehrwerk des Chinesi­schen, das auf die moderne Umgangssprache abgestellt ist und im Sinne der di­rekten Methode strikt phonetisch-phonologisch aufgebaut ist.

Für die Schriftsprache legte er ein komplementäres Werk vor: »Chinese radi­cals and phonetics. With an analysis of the 1200 Chinese basic cha­racters«,[4] das strikt eine graphische Strukturanalyse von einer Analyse der phonographischen Nutzung der Schrift trennt und metho­disch vermittelt (auch bei der Schrift auf eine Ge­brauchsschrift abgestellt, nicht die Kalligraphie). Den systemati­schen Hintergrund für diese genuin sprachwissenschaftliche Option bildete seine Position auf Seiten der chinesischen Sprachreformer (Modernisierung der Schrift, evtl. Einführung neuer, phonogra­phisch durchsichtiger Schriftzeichen, um die er sich selbst bei seiner Umschrift der Tondifferenzen bemühte; Schaffung einer ein­heitlichen Aussprache auf pekinesischer Grundlage); s. schon sei­nen Abriß »Die nationalsprachliche Bewegung in China«,[5] wo er mit strukturellen Paral­lelen zur europäischen Nationalsprachentwicklung (in Frontstellung zum Latein) operierte. Dabei folgte er in den Grundzügen der Romanisierung von Y. R. Chao (dem Gwoyeu Romatzyh), die die Töne in die lineare Repräsentation der Wortformen integriert (als kombinatorische alphabetische Zeichen) und so vermeidet, sie als prosodische Zutat nach dem Modell der Intonation in den europäischen Schulsprachen zu sehen.[6]

Auch bei seinen Arbeiten zum Klassischen Chinesisch ging er gelegentlich auf moderne Entsprechungen ein (im Mandarin und Kantonesischen), z.B. »Has the Chinese language parts of speech?«,[7] wo er eine typologische Skizze lieferte, die im Anschluß an von der Gabelentz auf Wortarten im Chinesischen insistiert, die allerdings nicht die von den ie. Sprachen erwarteten morphologischen Eigenschaften haben, sondern syntaktisch festgelegt sind.[8]

Ein Arbeitsschwerpunkt war für S. die Analyse der asiatischen Schriftsysteme: struktural, historisch und in ihrer Beziehung zur Lautstruktur der jeweiligen Sprachen (er verfaßte mehrere Bei­träge über Transliterationsprobleme). In einer Reihe von Studien bediente er sich der Methoden der internen Rekonstruktion für das (im externen Vergleich ja relativ isolierte) Chinesische: im Rückgriff auf heutige (dialektale) Varianten; auf Reimbindungen in der älte­ren Literatur (gegen die z.T. unter-, z.T. überdifferenzierte Schrift); auf homophone Schreibungen in der Überliefe­rung u. dgl. (so in: »Zur Rekonstruktion der altchinesischen End­konsonanten, 2. Teil«);[9] dabei verfuhr er in kritischer Auseinandersetzung mit der in der Sinologie maßgeblichen Rekonstruktion von Karlgren, der schon seine erste Veröffentlichung gegolten hatte, s. seine Rezension »Das erste etymologische Wörterbuch der chinesischen Sprache«[10] – wo er eine scharfe Zäsur zwischen der wissenschaftlichen Sinologie (für die Karlgren steht) und den bisher dominierenden Laienarbeiten macht.

Sehr systematisch arbeitete er zu Problemen der chinesischen Syntax, etwa zu den satzmodalen Spezifizierungen durch Finalpartikel, die nicht mit dem Tempus/Aspekt/Modus-Kategorien der ie. Sprachen gefaßt werden können, z.B. »Die Bedeutung der Finalpartikel <i>«,[11] deren Funktion er in einer Fokussierung des Zeitpunkts des ausgedrückten Sachverhalts sah (er spricht von »Registrierung«), mit einer ausführlichen Würdigung der nationalen Grammatiktradition und einer Kritik der zeitgenössischen Darstellungen (vor allem bei Zach), gleichzeitig mit einem umfassenden Abgleich mit der einschlägigen grammatiktheoretischen Diskussion in den ie. Sprachen.

Gestützt auf Karlgrens Rekonstruktion des (Alt)-Chinesischen unternahm er eine systematische Rekonstruktion tibetisch-chinesischer Wortgleichungen, bei der er eine phonologische Analyse des weitreichenden Umbaus der Silbenstruktur gegen die verbreitete »direkte« Leseweise von Wortsegmenten als morphologische Radikale ins Feld führte: »Tibetisch-chinesische Wortgleichungen«,[12] auch hier wieder mit einer gründlichen Kritik an Laufer. Wie hier wandte er sein methodisches Instrumentarium auch auf andere Spra­chen Chinas an, vor allem Tibetisch, wobei er auch im externen Sprachver­gleich bemüht war, die Verwandtschaft von Chinesisch und Tibetisch nachzuweisen (das Tibetische war seit seiner Berliner Studienzeit [s.o.] für ihn ein Forschungsschwerpunkt). In einer Reihe späterer Arbeiten hat er seine frühen Analysen differenziert und z.T. auch korrigiert, z.B. »The range of sound alternations in Tibetan word families«.[13] Daneben beschäftigte er sich weiter mit genetisch nicht verwandten Sprachen in China, etwa dem Mandžu (s. »A Note on a Manchu-Latin Dictionary«).[14]

Er betrieb eine umfassende Rezensionstätigkeit, die ebenfalls einen Schwerpunkt bei fremdsprachlichen Problemen hatte, und verfaßte mehrere bibliographische Überblicke, u.a. zum Mandschu (das qua­lifizierte ihn dann offensichtlich, 1965-1975 die Herausgabe von Asia Major zu überneh­men), z.T. in enger Zusammenarbeit mit Schindler, für den er 1965 einen Nachruf schrieb und der seinerseits 1963 für seine Festschrift die Bibliographie zusammenstellte (Q). Daneben legte er auch später noch (nicht zuletzt unter fremdsprachdidaktischen Gesichts­punkten) Arbeiten zur Romanistik vor, etwa 1947 einen Sprachkurs zum Spanischen[15] (wie er auch das Lateinische als praktischen Be­zugspunkt für das Studium ostasiatischer Sprachen ansah – so er­klärt sich denn auch die Geste seiner Schüler, die Widmung seiner ostasiatischen Festschrift auf Latein zu redigieren).[16] In den späteren Jahren, vor allem nach der Emeritierung, widmete er sich vorwiegend dem Tibetischen, mit einer Reihe von Einzelstudien zu phonologischen Problemen, zumeist verbunden mit etymologischen Fragen (und dabei dem Einfluß des Sanskrit).

Nach Ende des Krieges gab es offensichtlich Bemühungen in Deutschland, ihn zurückzuholen, die aber keinen Erfolg hatten – vielmehr nahm er die britische Staatsbürgerschaft an (s. dazu Bawden, Q). Nach der Emeritierung übernahm er noch Gastprofessuren in Kanada, Australien und Japan. In England wurde er als derjenige gefeiert, der dort (mit Haloun) die wissenschaftliche (akademische) Sinologie begründet hat (s. Bawden 1973). S. war unter den Orientalisten ein ausgesprochener Sprachwis­senschaftler, der die vergleichende Rekonstruktion der ostasiati­schen Sprachen betrieb, aber zu dem ganzen Spektrum der von ihm bearbeiteten ostasiatischen Sprachen auch sprachpraktische Lehr­werke verfaßte.

Q: BHE; Lebenslauf (Archiv HU); C. R. Bawden, in: Bull. School Oriental African St. (London) 36/1973: 221-223; Kern 1998; Hanisch 2001. Nachrufe: C. R. Bawden in: Proceedings of the British Academy 67/1981: 459-477; H. L. Shorto in: Bull. School Oriental African St. (London) 45/1982 (o.S.). Bibliographie in der Festschrift (hg. von H. Bailey u.a.); Asia Major 10/1963: 1-8 (verfaßt von Schindler); ergänzt von M. Loewe, in: J. Royal Asiatic Soc. (GB and Ireland) 1982: 44-47; Hinweise von H. Walravens; Archiv der HU Berlin; A. Gosling, in: National Library of Australia News 11/2000: http://www.nla.gov.au/pub/nlanews/2000/december00/waltersimon.html (Dez. 2008).



[1] In: Z. rom. Ph. 40/1920: 655-689.

[2] Berlin: de Gruyter 1929 (11865).

[3] (Gemeinsam mit T. C. Chao), London: Humphries 1945.

[4] London: Humphries 1944, revidiert 1959 – zahlreiche Nachdrucke.

[5] In: Orien­tal. Literaturzeitung 47/1926, Sp. 1961-1974.

[6] Für eine ausführliche Diskussion von Chaos System, s. dessen »Grammar of spoken Chinese«, Berkeley: Univ. California Press 1968, bes. S. 29ff. Nicht zuletzt aufgrund der politischen Konnotation dieser vorrevolutionären Verschriftung geriet sie später in der Volksrepublik außer Gebrauch, bzw. wurde durch das Pin-yin ersetzt, was auch S.s Lehrwerke obsolet machte.

[7] In: Transactions of the Philological Society (London), Jg. 1937: 99-119.

[8] Bei seiner Diskussion der Forschungsliteratur findet er eine der seinen entsprechende Position bei Meriggi, S. 100.

[9] In: Mitt. Sem. Orient. Spr. 31/1928: 175-204.

[10] In: Deutsche Literaturzeitung Jg. 1924: Sp. 1905-1910.

[11] In: Mitt. Sem. Orient. Spr. 38/1934: 143-168. <i> entspricht in Pin-yin <yi>; im Text in chinesischen Schriftzeichen.

[12] In: Mitt. Sem. Orient. Spr. 32/1930: 157-225.

[13] In: Asia Major (N.S.) 1/1949: 1-15.

[14] In: FS E. Haenisch (»Studia Sina-Altaica«), Wiesbaden: Harrassowitz 1961: 187-194.

[15] Dieser wie auch eine Reihe seiner kleineren Schriften z.B. zum Tibetischen waren mir nicht zugänglich (bzw. an deutschen Bibliotheken nicht nachweisbar).

[16] Die Festschrift erschien in zwei Teilen; Teil 2 hat eine chinesische Widmung.