Bliss, Charles Kasiel
(früher: Karl Blitz)
Geb. 5.9.1897 in Czernowitz/Bukowina (damals Österreich, heute Ukraine), gest. 13.7.1985 in Australien.
Seine Ingenieurausbildung (Schwerpunkt Chemie) beendete er 1922 an der TH Wien. Danach war er Leiter der Forschungsabteilung eines Elektro-Werkes in Wien. Als Jude wurde er im März 1938 festgenommen und war bis April 1939 im Konzentrationslager (erst Dachau, dann Buchenwald). Mit britischem Visum (das ihm seine Frau beschaffte) emigrierte er im Herbst 1939 nach England, 1940 weiter nach China, wo er die chinesische Schrift lernte. 1943 wurde er von Japanern interniert. 1946 Weitermigration nach Australien, wo er zunächst in der Automobilindustrie arbeitete, später eine Pension leitete.
Seit der Zeit in China bastelte er an einer logographischen Universalschrift, die er von 1942-1949 im Selbstverlag als vervielfältigtes dreibändiges Typoskript (663 S.) vertrieb. Seitdem entfaltete er eine enorme Aktivität in Broschüren und Propagandamaterialien in einem von ihm eigens dazu in Sydney gegründeten Verlag mit den Elementen einer erlösungsgläubigen Heilslehre - wobei die charismatische Selbstinszenierung (und die seiner Frau Claire) z.T. karikaturhafte Züge annahm: Die 2. Auflage seiner »Semantography (Blissymbolics). A logical writing for an illogical world«[1] enthält außer einem anastatischen Nachdruck der maschinenschriftlichen 1. Auflage die Reproduktion einer Vielzahl von Broschüren und Gedichten auf seine Frau Claire sowie Fotos von ihr.
Trotz dieses (sprach-)wissenschaftsfernen Rahmens enthält B.s »Semantography« in den analytischen Abschnitten genuine Einsichten. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit der chinesischen Schrift[2] »entdeckte« er die fundamentalen »logographischen« Anteile jeder Schrift, auch der europäischen Alphabetschriften, die sie anders als Transkriptionen für den überlokalen Verkehr brauchbar machen (s. bes. S. 103). Er versieht sein System von 100 Basiszeichen mit einer Syntax, die sich aus der arithmetischer Notationssysteme ableitet, gewissermaßen als Reinigung der bestehenden logographischen Schriftsysteme wie des Chinesischen von traditionsbedingten Komplikationen.
Die ikonische Anschaulichkeit seines Systems ist an der heutigen »westlichen« Zivilisation abgelesen (das Basiszeichen für Uhr entspricht Zeit, Post- und Fernmeldeverkehr u.dgl.), auch was kulturell-ideologische Grundannahmen anbetrifft (Zeichen für Weibliches werden von Männlichem abgeleitet, S. 113 usw.). In der unmittelbaren Praktikabilität dieser Zeichen haben sie eine gewisse Bedeutung innerhalb pädagogisch-therapeutischer Praxis bekommen (Sprachunterricht für Taubstumme, Aphasiker u.dgl.).[3] B.s eigene Ansprüche und die Rezeption seiner Arbeit gehen aber darüber hinaus: Die unmittelbare Ikonizität der Zeichen soll ideologische Aussagen verhindern bzw. unmittelbar entlarven (metaphorische Ausdrücke erhalten in »semantographischer« Symbolschrift ein Warn-Präfix, vgl. S. 154). So verstand er sein System als antiideologisches Allheilmittel, das vor allem sein eigenes biographisches Trauma aufnimmt: Bevorzugte Beispielssätze entstammen der Nazi-Rhetorik (in für den Kalten Krieg charakteristischer Gleichsetzung mit dem Kommunismus) sowie militaristischer Sprache. Hier ist sein Programm in eine breite Strömung von »Sprachkritik« eingeschrieben – und hat auch entsprechende Zustimmung gefunden (so u.a. von Bertrand Russell!). 1971 wurde sein System von der UNO als Grundlage für eine internationale Symbolschrift offiziell zur Kenntnis genommen.
Q: BHE; autobiographische Hinweise in »Semantography« (a.a.O. 1965).
[1] Sydney: Semantography Publ. 1965.
[2] Seine Grundidee könnte auf die Teilnahme an Chinesisch-Kursen von E. Reifler zurückgehen, der in dieser Zeit solche Kurse für Europäer in Shanghai anbot (s. bei diesem); B. kann sie in seiner Zeit in Shanghai besucht haben. Jedenfalls entsprechen sie Reiflers Vorstellungen von einer universellen Dekomposition, die dieser auch dem Lernen der chinesischen Schrift zugrunde legte.
[3] Zur Rezeption und Diskussion s. H. Becker/M. Gangkofer »Das BLISS-System in Praxis und Forschung«, Heidelberg: Julius Gross 1994 (zu einer sprachwissenschaftlichen Würdigung dort Schulte-Sasse, S. 24-46). Auch in der Vor- und Grundschulpädagogik werden die BLISS-Zeichen inzwischen genutzt. Zur Rezeption und Diskussion s. (mit reicher Bibliographie) H. Brügelmann/Th. Franzkowiak, »BLISS als Brücke zwischen kindlichem Malen und alfabetischer Schrift«, in: I. Gogolin u.a. (Hgg.), »Über Mehrsprachigkeit« (FS G. List), Tübingen: Stauffenburg 1998: 309-335.