Eisler, Frieda
Geb. 9.6.1907 in Tarnow (Galizien), gest. 19.1.1982 in London.
Abitur 1925 in Wien; 1925 bis 1931 Studium an der Universität Wien, Hauptfach Germanistik, aber intensiver auch schon Psychologie (in der Vita dankt sie explizit Bühler, der ihr in der mündlichen Prüfung allerdings nur »genügend« gab); 1931 Promotion. Die Dissertation: »Die Gesellschaftssatire bei Nestroy«, (masch.-schr.) versucht recht ambitioniert, Nestroys Werk sozialgeschichtlich im Kontext der Revolution von 1848 zu analysieren – und stieß damit außer bei ihrem Betreuer Rupprich offensichtlich auf erhebliche Bedenken in der Fakultät.[1] Wiederholt bezieht sie sich auf Marx, um die soziale Spannung in Nestroys Arbeiten zu bestimmen – die formalen Elemente, z.B. die sprachstilistischen Mittel bei Nestroys Realismus (einschl. seiner Anti-Orthographien wie sixt für »siehst«) führt sie zwar an, analysiert sie aber nicht.
Ihre Dissertationsthematik korrespondiert mit ihren sonstigen damaligen Interessen: während des Studiums war sie aktiv in einer sozialistischen (sozialdemokratischen) Studentenorganisation, außerdem arbeitete sie als Journalistin bzw. Filmkritikerin (u.a. in der Weltbühne, s. Prost 1987: 456). 1934 emigrierte sie nach England, wo sie durch die Heirat mit dem ebenfalls kommunistisch engagierten proletarischen Autor William Goldmann die britische Staatsbürgerschaft erwarb[2] (ihre Familie folgte 1938 auf der Flucht vor der rassistischen Verfolgung in die Emigration nach). Sie lebte von verschiedenen Jobs und nahm 1937-1938 das Studium der Psychologie in London wieder auf. Seit 1941 psychologische Forschungstätigkeiten an verschiedenen Universitäten und außeruniversitären Institutionen in London. Seit 1970 Professur für Psycholinguistik und Leitung der Abteilung für Phonetik und Linguistik am University College in London.
Ihre Forschungstätigkeit war zunächst allgemein medizinisch-psychologischen Problemen zugeordnet, insbes. zu Fragen der medizinischen Interviewtechnik. Sprachanalytische Fragen dominierten seit 1955 in ihrer Zusammenarbeit mit dem Phonetiker Fry. Dabei verband sie Problemstellungen der europäischen Tradition (Philosophie der Zeitwahrnehmung; Persönlichkeitstheorie; Kulturanthropologie...) mit dem Bestreben, rigorose operationale Verfahren zu entwickeln.
Aus der Arbeit mit Interviews sind wohl letztlich auch die Orientierungen ihrer späteren psycholinguistischen Studien hervorgegangen: die Untersuchung der Interdependenz von verbalen/non-verbalen Momenten bei der Kontrolle der Sprechsituation. Dabei geht E. davon aus, daß das Verhältnis beider Faktoren vom Sprecher kontrolliert wird, sodaß Messungen dieses Verhältnisses Aufschlüsse über seine verbalen Planungsstrategien liefern können. Insbes. hat sie so das Verhältnis von Sprechen und Pausen bzw. anderen Verzögerungsmomenten untersucht (verstanden als eines von Aktivität zu Inaktivität), wobei sie die interne Struktur der Sequenzen, die ohne Unterbrechung produziert wurden, im Gegensatz zum Gesamtredebeitrag analysiert. Mit diesen Arbeiten hat sie entscheidende Anstöße für die späteren soziolinguistischen Arbeiten in England gegeben, die ausgehend von der Analyse solcher Indikatoren der verbalen Planung sozial unterschiedliche »kognitive Stile« auszumachen bemüht waren. Ein Querschnitt durch ihre Forschungen findet sich in ihrem Band »Psycholinguistics. Experiments in Spontaneous Speech«,[3] veröffentlicht unter dem Namen Goldman-Eisler (Goldman war der Name ihres ersten Mannes, den sie 1934 geheiratet hatte).
In den späteren Jahren hat sie neuere Arbeiten zur konversationellen Analyse (»turn-Organisation«) aufgenommen und mit ihren Mitarbeitern zeigen können, wie sich sowohl auf der formal sprachlichen Ebene der Äußerungsorganisation wie auf der parasprachlichen (Blick-Kontakt, Gesten) kognitive und soziale Planungsstrategien überlagern, s. etwa zusammen mit P. Butterworth: »Recent Studies of Cognitive Rhythm«[4] (unter »Cognitive Rhythm« versteht sie die zyklische Abfolge von Planungs- und Ausführungs/Monitor-Phasen). Ein langfristiges Forschungsprojekt, zu dem sie Ergebnisse seit 1972 veröffentlichte, zielte auf die Bedingungen der Simultanübersetzung. Gegenüber »peripheren« Faktoren konnte sie durch die Analyse der zeitlichen Organisation der Übersetzeraktivitäten zeigen, daß außer bei automatisierten Sprachaktivitäten die syntaktisch-grammatische Organisation der aufgenommenen wie der produzierten Äußerungen das Verhalten kontrolliert – abhängig von der Satzstruktur der zu übersetzenden Sprache, s. »Psychological Mechanisms of Speech Production as studied through the Analysis of Simultaneous Translation«.[5]
Q: V; BHE; (Teil-)Bibliographie in den F. E. als Festschrift gewidmeten Kongreßakten:[6] H. W. Deckert (Hg.), »Temporal variables in speech«, Den Haag: Mouton 1980; Nachruf in: The Times (London) v. 27.1.1982: 12.
[1] Laut Promotionsprotokoll, Univ. Arch. Wien.
[2] Goldmann (1910-2009) hatte ebenso wie E. einen jüdischen Familienhintergrund, sich aber von allen religiösen Bindungen gelöst.
[3] London: Academic Press 1968 (²1973).
[4] In: A. W. Siegmann/St. Feldstein (Hgg.), »Of Speech and Time«, Hillsdale: L. Erlbaum 1979: 211-224.
[5] In: B. Butterworth (Hg.), »Language Production«, Bd.1, New York usw.: Academic Press 1980: 143-153.
[6] F. E. konnte »aus Gesundheitsgründen« an dieser Tagung nicht teilnehmen, deren Akten ihr daher gewidmet wurden.