Hirsch, Ernst
Geb. 5.3.1904 in Eisgrub (heute Lednice na Moravĕ/Tschechische Republik), gest. 5.3.1984 in Lorch (B.-Württ.).
Abitur 1923 in Lundenburg (heute Břeclav/Tschechische Republik), danach Studium der Romanistik in Wien, Promotion 1927 (bei Ettmayr). H. mußte sein Studium selbst finanzieren, z.T. mit Privatunterricht, von 1927 bis 1928 auch als Bibliothekar am Romanischen Seminar der Universität Wien. 1928 kam er durch private Vermittlung an Privatschulen nach Württemberg, wo er auf verschiedenen Stellen, z.T. auch als Hauslehrer, unterrichtete. Eher zufällig »entdeckte« er die Waldenser Gemeinden dort (in der Region um Pforzheim) und ihre piemontesische Mundart, die seitdem sein Forschungsgebiet wurde, dem er seit 1933 auch durch Forschungsreisen in die Waldenser Alpentäler nachging.[1]
Diese Forschungen betrieb und publizierte er auch unter den repressiven Bedingungen, denen er als rassistisch Verfolgter ausgesetzt war. Bis 1938 war er noch durch seine tschechische Staatsbürgerschaft geschützt, danach war er gezwungen, wieder zu seiner Familie nach »Mähren« zurückzukehren, und konnte nur noch gelegentliche (vor allem bäuerliche) Hilfstätigkeiten übernehmen. Auch unter diesen Bedingungen führte er seine Forschungen weiter. Im April 1944 wurde er nach Frankreich deportiert, wo er z.T. in Lagern interniert war, z.T. als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter tätig war (nebenher gab er Privatunterricht). Bei Kriegsende wurde ihm seine tschechische Staatsbürgerschaft aberkannt, die er trotz aller Bemühungen auch nicht wieder erhielt (damit war auch sein Vermögen in der ČSSR konfisziert). Erst 1947 konnte er nach Württemberg zurückkehren und nun auch seine nicht-jüdische Verlobte heiraten, zu der er in den Kriegsjahren nur eine heimliche Verbindung aufrechterhalten konnte. Bereits 1946 nahm er die wissenschaftliche Korrespondenz wieder auf, um seine Forschungen weitertreiben zu können. 1949 sollte er auf dem internationalen Namenkongreß in Brüssel einen Vortrag halten, der aber von J. Hubschmid verlesen werden mußte, weil H. die Reisekosten nicht aufbringen konnte. In Württemberg (zuerst in Bopfingen, dann in Lorsch) erhielt er zunächst nur »Hilfslehrer«-Stellen; nachdem er noch eine Gymnasiallehrer-Prüfung abgelegt hatte, wurde er 1957 verbeamtet.
Die Entwicklung seiner Forschungsarbeit verläuft sehr stringent: einerseits in der methodischen Kontrolle seiner frühen, vor allem onomastischen Arbeiten, andererseits in der Verbreiterung des Gegenstandsbereiches.[2] Seine erste Veröffentlichung ist ein toponymisches Inventar mit etymologischen Anmerkungen, gelegentlich auch mit Verweisen auf parallele Belege in der Herkunftsregion dieser Waldenser (»Die romanischen Flurnamen der Württembergischen Waldenser«).[3] In den Folgejahren führte er systematische Kontrolluntersuchungen in den piemontesischen Heimatmundart-Gebieten durch, s. z.B.: »Provenzalische Örtlichkeitsnamen vom Osthang der Alpen«.[4] Auf der Basis einer mikrodialektgeographischen Erhebung analysierte er hier das toponymische Material, verbunden mit einer methodischen Kritik an den damals in Handbüchern gängigen Formen des junggrammatischen etymologischen Durchgreifens (bemerkenswert seine Kritik an dem damals ja prominenten Gamillscheg, in Teil II, S. 221).
Diese methodische Orientierung bringt ihn von der Onomastik zu einer systematischen Dialektforschung in der Tradition von Wörter und Sachen, deren Zusammenhänge er z.B. entwickelt in: »Beiträge zur Wort- und Sachkunde des Germanasca-Gebietes«.[5] Daneben steht eine stringente formale Analyse: schon in seinem Aufsatz 1941/1942 entwickelte er systematisch die Wortbildungsmechanismen bei den analysierten Namensformen. Für die lautliche Entwicklung hat er in einer minutiösen späteren Studie die Dialektdifferenzen in der Herkunftsregion auf die dialektalen Entwicklungen in den Diasporadörfern projiziert: hier stellt er Spuren von Dialektmischung fest, kann die aufgezeigten Innovationen aber auf die Entwicklungsdynamik beziehen, die er auch in der Herkunftsregion feststellen kann. Daß es nicht zur Ausbildung einer Koiné in der Diaspora gekommen ist, analysiert er auf der Folie der sozialen Lebensbedingungen in den Württembergischen Dörfern (»Zur lautlichen Entwicklung der Sprache der Württembergischen Waldenser«).[6]
Mit dieser systematischen Erweiterung seines Gegenstandsbereiches partizipierte er an den innovativen sprachsoziologischen Orientierungen der 20er Jahre. So ist das Thema der Mehrsprachigkeit in diesen Gemeinden in den meisten seiner späteren Veröffentlichungen präsent, bis hin zu den fachsprachlichen »Geheimsprachen« auf der einen Seite und der Produktion von Mundartliteratur auf der anderen Seite.[7] Schließlich ergänzte er diese empirische Untersuchung, die bei ihm immer mit einer ausführlichen Dokumentation verbunden ist, durch archivalische Studien, die es ihm erlauben sollten, die aus dem gegenwärtigen Material extrapolierten Entwicklungsschritte zu kontrollieren, s. etwa »Die Notariatsakten von Mentoules aus den Jahren 1532 und 1549«[8] (mit einer Edition und einem etymologisch annotierten Glossar).
Neben zusammenfassenden monographischen Publikationen (etwa »Beiträge zur Sprachgeschichte der württembergischen Waldenser«)[9] stehen später bei ihm eine große Zahl von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen in Zeitungen und Rundfunkbeiträgen, in denen H. über seinen sprachwissenschaftlichen Gegenstand hinaus das Schicksal der vertriebenen Waldenser darstellt. Hier wird deutlich, daß er gewissermaßen in einem historischen Spiegel das Schicksal seiner eigenen Vertreibung bearbeitet. Das ist wohl auch die Folie für die angesprochene projektive Verkürzung seiner leitenden Forschungsfrage: die Rückprojektion auf die Herkunftsdialekte charakterisiert den Sprachverlust in der Diaspora-Situation als Ausdruck der Vertreibung. Dieser biographische Impuls wird aber auch deutlich in der unbedingten wissenschaftlichen Stringenz seiner Arbeiten, die sich nicht zuletzt auch gegen die verbreitete Esoterik im Umgang mit Themen wie dem der Wal(den)ser ausdrückt, die viel mit dem völkischen pseudowissenschaftlichen Geschäft im Kielwasser der nationalsozialistischen Bewegung gemeinsam hat.
Eine Würdigung von H.s Arbeiten, die die (sprachwissenschaftliche) Waldenserforschung aus der dilettierenden Esoterikecke auf ein wissenschaftliches Forschungsniveau gehoben haben, indem H. systematisch vergleichende (dialektologische) Kontrolluntersuchungen in den einschlägigen Regionen ebenso wie die Auswertung der historischen Quellen/Überlieferung unternahm, bei Baldinger (Q).
Q: Christmann/Hausmann 1989; K. Baldinger, »Die piemontesischen und baden-württembergischen Waldenser. Ernst Hirsch zum 70. Geburtstag«, in: Z. Dialektologie u. Ling. 41/1974: 170-176 (mit umfangreicher Bibliographie und Lebenslauf von E. H.); H. Draye, in: Onoma 18/1974: 306-309; briefliche Auskünfte von Frau Hirsch; Nachruf von Kurt Baldinger, in: Z. Dialektologie u. Ling. 51/1984: 227-230.
[1] Siehe seinen autobiographisch geprägten Forschungsbericht zu diesen Waldensergemeinden (»Böblingen und die Waldenserforschung: Rößger-Märkt-Vogt«) in: Aus Schönbuch und Gäu, S. 4-6 – eine nicht datierte Fotokopie wurde mir von Frau Hirsch zur Verfügung gestellt (erschienen nach 1975).
[2] Die Württembergischen Waldensergemeinden gehen auf eine Vertreibung piemontesischer Waldenser nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) zurück. Sie stammen aus den östlichen Alpentälern der Kottischen Alpen (südwestlich von Turin). Die letzten Sprecher dieser (franko-)provenzalischen Mundart in Deutschland sind nach H. (1934: 134, s. folgende FN) 1933 verstorben.
[3] In: Z. f. Ortsnamenf. 11/1934: 133-147.
[4] Teil I in: Z. f. Namenf. 17/1941: 157-165 und 245-267, Teil II ebd. 18, 1942: 216-241. Die Zeitschrift für Namenforschung (bis 13/1937 Zeitschrift für Ortsnamenforschung) gehörte unter ihrem Herausgeber Josef Schnetz (1873-1952) zu den Publikationsorganen, die versuchten, eine strikt wissenschaftliche, politisch-rassistisch nicht gleichgeschaltete Linie durchzuhalten – und das bei einer Zeitschrift, die im Berliner »Ahnenerbe-Verlag« erschien.
[5] In: A. Rom. 23/1939: 377-430.
[6] In: Z. rom. Ph. 79/1963: 403-426.
[7] Allerdings dominiert in seinen Arbeiten doch die historische Rückprojektion der registrierten sprachlichen Erscheinungen auf die Dialekte der Herkunftsregion.
[8] In: Z. rom. Ph. 91/1975: 365-385.
[9] Stuttgart: Kohlhammer 1963.