Jordan, Leo(pold) Hermann
Geb. 28.9.1874 in Paris, gest. 28.7.1940 (amtliches Todesdatum, Freitod).
J. wuchs in Paris bis zum 12. Lebensjahr zweisprachig auf; nach der Rückkehr der Familie nach Deutschland machte er 1895 in Eisenach das Abitur. Er studierte in Halle, Würzburg und Bonn und promovierte 1899 bei Foerster mit einer Vorarbeit zu einer (von ihm selbst dann nicht mehr realisierten) Edition einer altfranzösischen Handschrift: »Über den altfranzösischen Abenteuerroman ›Cristal et Clarie‹«.[1] Im Stil der Foersterschen Arbeiten legte er einen Kommentar zu dieser Kompilation vor, der deren heterogene Quellen zu identifizieren sucht, einschließlich einer »Reimgrammatik«, die die dialektalen Züge zeigen soll.
Nach dem Militärdienst 1899/1900 ging er nach München, wo er 1903 vergeblich versuchte, mit einer kleinen italienischen Edition zu habilitieren.[2] In einem zweiten Anlauf habilitierte er schließlich 1905 mit einer weiteren Arbeit über altfrz. Epik »Die Sage von den vier Haimonskindern«[3] – eine überwiegend literaturgeschichtliche Arbeit, die aber sprachliche Formelemente (insbesondere Dialektformen) bei der Analyse des Textaufbaus systematisch heranzieht. Die altfrz. Lyrik sah er wohl auch als seinen Arbeitsschwerpunkt an, bis er unter dem Eindruck der Bédierschen Forschungen resigniert aufgab (s.u. Lebsanft, Q: 161). Seine Lehrtätigkeit an der Univ. München, die 1911 zu seiner Ernennung zum a.o. Professor führte, wurde zunächst vor allem durch die Quasi-Vertretung des kranken romanistischen Ordinarius Breymann bestimmt (dem er auch seine Habilitationsschrift widmete), während der J. die »Alte Abteilung« in ihrer ganzen Breite vertrat (in der Sprachwissenschaft in der positivistischen Linie von Foerster und vor allem Tobler). Dazu gehörte auch die Erweiterung des sprachlichen Gegenstandsbereichs, wie seine Edition der »Gedichte eines lombardischen Edelmannes des Quattrocento«[4] zeigt, bei der wiederum neben der literaturgeschichtlichen Einordnung Fragen der dialektalen Form im Vordergrund stehen.
Als 1911 Vossler auf das Münchener Ordinariat kam, zog er sich auf speziellere Bereiche zurück: er edierte und arbeitete über jüngere Texte (Cyrano de Bergerac, Voltaire) und beschäftigte sich zunehmend mit sprachtheoretischen Problemen. 1923 publizierte er noch ein relativ umfangreiches »Altfranzösisches Elementarbuch«,[5] das nicht nur ausführlich die sprachlichen Schichtungsfragen (vor allem wieder die Dialekte) behandelt, sondern auch einen umfangreichen Syntaxteil enthielt (S. 289-337). Daneben hatte er (auch als ökonomische Absicherung) seit 1910 eine Dozentur für Französisch an der Münchener Handelshochschule, die er nach Integration in die Technische Univ. München 1922 zunächst noch als deren Honorarprofessor weiterführte, bis er sich immer mehr aus der Romanistik zurückzog (trotz der Aufforderung von Seiten der Universität zu einem ausgedehnteren Lehrangebot).
Die Konfrontation mit Vossler, mehr noch aber mit der Vossler-Schule, wurde für seine weitere Entwicklung bestimmend – auch als Verarbeitung der durchweg negativen Reaktionen auf seine frühen, als zu subjektiv/intuitiv kritisierten literaturgeschichtlichen Versuche (insbes. auch bei dem gescheiterten Habilitationsversuch 1903, s. Lebsanft, Q). In z.T. heftig-polemischen Aufsätzen kritisierte er die »idealistische« Schule. 1914 kritisierte er Vossler noch sehr vorsichtig, rühmte immerhin noch dessen Überlegungen zum syntaktischen Wandel im Französischen als »Großtat«, der allerdings gegenüberstehe, daß bei ihm, wie J. es sieht, hochschuldidaktische Zugeständnisse zur Motivation der Studierenden an die Stelle methodischer Einübung in Analyseverfahren gesetzt werden.[6] Dem folgen später geradezu als Abrechnungen zu lesende Kritiken, etwa in: »Die heutige Synthese in der Sprachwissenschaft«,[7] wo Vossler nur noch »Luftschlösser« baut (S. 85). Immerhin gesteht er ihm zu, daß er dabei auch gelegentlich noch Einsichten produziert, und schließlich, daß er das Ganze nur als Pflichtübung im Rahmen seines umfassenden Lehrauftrages für Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft betreibe.
Spitzer wird in diesem Sinne für die programmatische Seite seiner Arbeiten kritisiert, für eine vorgebliche Stilanalyse, für deren Modellierung nach J. noch alle wissenschaftlichen Voraussetzungen fehlen; aber bei ihm findet J. doch wenigstens die »alte Schule« im Umgang mit dem Material (S. 77). Anders ist es bei den eigentlichen Vossler-Schülern, für die hier exemplarisch Hatzfeld abgestraft wird (S. 93ff.), in dem J. nur noch einen Dilettanten sieht, der das Handwerk nicht mehr gelernt hat. Der Vossler-Schule stellt er exemplarische Gegenbeispiele gegenüber: eine junggrammatische Einzelstudie, eine schwedische Dissertation (S. 99ff.) und vor allem die Arbeiten von Sperber (S. 95ff.), bei dem J. allerdings ungeklärte Grundbegriffe moniert. In einem späteren Beitrag in der Festschrift für einen der junggrammatischen Altvorderen (C. Appel) wurde er noch schärfer: die »Neuromantik« der Vossler-Schule trägt nach ihm pubertäre Haltungen in die Wissenschaft, s. »Studium der Lautgewohnheiten und Erkenntnis«.[8] Demgegenüber fordert er, der in der Sprachgeographie deutlich gewordenen größeren Komplexheit der sprachlichen Verhältnisse (auch gegenüber der orthodoxen junggrammatischen Sichtweise) in einer begrifflich angemessenen Modellierung gerecht zu werden, die insbesondere auch den sozialen Schichten Rechnung trägt, statt sie in einem wissenschaftlichen »Karneval« (S. 224) zu feiern. So verlangte er denn auch für die Stilistik, daß sie typologisch faßbare Differenzen zwischen den Sprachen einzubeziehen habe (schon in seinem Beitrag 1925 hatte er in diesem Sinne Strukturelemente des Japanischen herangezogen), um sich gegen naturalisierende Argumente zu verwahren (s. dort S. 86), vor allem aber die sozial vorgegebenen Beschränkungen der sprachlichen Praxis zu rekonstruieren, bevor die beschreibbare Variation (auch aufgrund individueller sprachlicher Kreativität bei Schriftstellern) als Nutzung der so vorgegebenen Wahlmöglichkeiten beschrieben wird.
Das traditionelle Feld der historischen Sprachwissenschaft beschäftigte ihn gelegentlich auch weiterhin: er lieferte sich sogar methodische Scharmützel mit exponierten Vertretern der Junggrammatiker, so z.B. seine Anti-Kritik an Schultz-Gora (»Absolute Gesetzmäßigkeit oder relative Regelmäßigkeit in der Sprachwissenschaft«).[9] Das gibt ihm immer die Gelegenheit zu kritischen Seitenhieben gegen die Vossler-Schule bzw. die »Neuen Romantiker«, so wenn er z.B. ironisch einer stilistischen Deutung der Entwicklung der Negationspartikel (lat. NON > ne) eine dialektgeographisch und vor allem prosodisch kontrollierte Analyse gegenüberstellt (»Die verbale Negation bei Rabelais und die Methode psychologischer Einfühlung in der Sprachwissenschaft«).[10] Bei solchen Exkursen spielte er mit Vorliebe auch sein in der Kindheit in Paris erworbenes französisches Sprachgefühl aus, das er gerne mit Anekdoten unterfütterte.
Den Arbeitsbereich an der Handelshochschule hatte er offensichtlich aus ökonomischen Interessen übernommen und sich dabei zunächst auf eine Art Aufsicht über das fremdsprachliche (hier vor allem französische) Lehrpersonal beschränkt. Als dieses ihm dann infolge des Ersten Weltkrieges nicht mehr zur Verfügung stand, machte er daraus einen eigenen Forschungsgegenstand, s. seine autobiographischen Bemerkungen in: »Der Bildungswert philologisch-handelssprachlicher Lehre an Handelshochschulen«[11] und in seiner Aufsatzfolge in: »De Spiegel van Handel en Wandel« (Rotterdam)[12] (s.u.). Immerhin hatte er aber schon vorher Probleme der Wort- und Sachgeschichte im kaufmännischen Kontext entdeckt und darüber auch im Bereich des Rechnens schon veröffentlicht, s. seine »Materialien zur Geschichte der arabischen Zahlzeichen in Frankreich«,[13] wo er die sprachlichen Termini (vor allem 0 = Zero, Ziffer) im Zusammenhang der Umstellung auf die dekadische Rechnungsweise rekonstruiert, deren Wandel von einem mathematischen »Luxuswissen« zu einer pragmatisch genutzten Technik, wie es sich nicht zuletzt in literarischen Niederschlägen dieser Umstellung, vor allem satirischen Reaktionen, zeigen läßt.
Für seine Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg war offensichtlich seine Verbindung zu dem Niederländer E. Messing entscheidend, für dessen Monatsschrift »De Spiegel van Handel en Wandel« er 1924 bis 1928 eine dreiteilige Aufsatzfolge als »Grundriß der Handelssprachkunde« verfaßte.[14] Hier verbindet er systematische Überlegungen mit ausführlichen wortgeschichtlichen Exkursen zu den handelssprachlichen Grundbegriffen in Teil 1, zum Geldhandel in Teil 2, zum kaufmännischen Verkehr in Teil 3. Zielsetzung ist für ihn dabei, gegen die »feldwebelhafte Teleologie« einer praktizistischen Didaktik der Fachhochschulen (s.»Vom Bildungswert ...«, 1922: 182, s.o., Fn 11) anzugehen und stattdessen eine systematischere Rekonstruktion der sprachlichen Felder vorzunehmen, die mit der Klärung terminologischer Fragen auch die »Denkweise der Völker« in ihren Unterschieden erschließt. So kommt er dazu, die sich vielfach überlagernden Felder von Internationalismen auf der einen Seite, lokalen Wortbildungen auf der anderen Seite zu rekonstruieren, in einer gesamteuropäischen Sicht mit den romanischen Sprachen, vom Portugiesischen bis zum Rumänischen und den germanischen (bei ihm mit Belegen aus dem Deutschen, Niederländischen und Englischen).
Die systematischere Rekonstruktion verfolgt er zum Lateinischen zurück, mit den Etymologien der entsprechenden Terminologie, analysiert dabei aber die Überlagerung durch die juristische Fachsprache (bes. des kirchlichen Rechts) im Mittelalter, die für einen Großteil der Internationalismen verantwortlich ist. Dem stehen die in anderen Traditionen verankerten »volkssprachlichen« Termini gegenüber. Daß sich die »Ausgliederungen« nicht einfach i. S. der Sprachfamilien fassen lassen, macht er deutlich am Gegensatz zwischen den Regionen, in denen sich früh schon die Geldwirtschaft (und in Verbindung damit die Verschriftlichung des Handelsverkehrs) durchgesetzt hat, gegenüber Regionen, in denen der Warentausch weiter bestimmend blieb, wie sich an den entsprechenden germanischen oder keltischen Etyma im Französischen zeigen läßt (etwa am Beispiel von CAMBIARE für den »Geldwechsel« vs. lat. MUTARE). In diesem Zusammenhang kommt er auch auf Stereotypen zu sprechen, die sich volkssprachlich sedimentiert haben, etwa der Terminus Jude für einen Geldwechsler, Wucherer, abgelöst von religiös-ethnischen Konnotationen, s. dazu »De Spiegel ...« (s.o.) Jahrgang 3, Heft 11 (1927).
Das wenig ausbalancierte Werk von J. spiegelt die Spannungen in seinem Leben: in einer jüdischen Familie aufgewachsen, aber christlich erzogen (wie er auch seine eigenen Kinder christlich erzog), geprägt von dem Bemühen um Integration in eine Gesellschaft, in der er auch mit prononciert rechtskonservativer Position gewissermaßen ein politisches Übersoll erbrachte; in seine Arbeiten flocht er, wo es ging, Hinweise auf seine Militärzeit ein; in seinem Beitrag zur Gedenkschrift für Max Weber 1923 (s.u.) erklärt er seine Position zum »Ruhrkampf«, indem er in einer Vorbemerkung »die ruchlose Besetzung der Ruhr und die empörende Behandlung seiner Einwohner seitens des offiziellen Frankreich« stigmatisiert. Sein sprachlich-philologisches Interesse ist sicherlich durch seine zweisprachige Biographie (seine Sozialisation in Frankreich) bestimmt, die ebenfalls in Anekdoten sein Werk durchzieht. Seine rigide eingenommene Position der »alten Schule« gegenüber den von ihm als »Romantiker« stigmatisierten Neuerern spiegelt seine Verbitterung darüber, daß er diese, die er für wissenschaftlich sehr viel weniger qualifiziert hielt, an sich vorbeiziehen lassen mußte und sie als »Arier« sogar in die vorgesetzten Positionen an der Münchener Universität einweisen mußte.
Sprachforschung war für ihn über das philologische Geschäft hinaus die Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur, wie es in seiner Biographie angelegt war; das führte er in seiner Beschäftigung mit dem Japanischen weiter, das als Kontrastfolie in seinen allgemeineren Arbeiten immer wieder auftaucht (1935 hatte er wohl auch eine wissenschaftliche Einladung nach Japan, der er aber nicht Folge leisten konnte, s. Lebsanft, Q). Er lernte Japanisch und die von ihm ideographisch verstandene chinesische Schrift, um die Rolle der Sprachstruktur in der kulturellen Praxis von einem dezentrierteren Standpunkt aus bestimmen zu können; von diesem Standpunkt aus unternahm er auch seine fachgeschichtlichen Arbeiten im Horizont der Handelsschulausbildung. So sind seine sprachanalytischen Arbeiten durch eine sprachbiographische Sichtweise bestimmt, die er mit einer ganzen Reihe hervorragender Vertreter in diesem Katalog teilt (s. etwa bei E. Lewy, H. Sperber, L. Spitzer u.a.).
Insofern ist es nur folgerichtig, daß er sich (wie die Genannten auch, s. besonders Spitzer) systematisch mit der Sprachentwicklung seiner Kinder beschäftigte, etwa in einer weiteren Aufsatzfolge in »De Spiegel van Handel en Wandel«: »Wort, Begriff, Beziehung«.[15] Er bemüht sich dort, Sprachentwicklung und Begriffsentwicklung auf der einen Seite systematisch zu trennen, auf der anderen Seite aber zu zeigen, wie die Ausdifferenzierung der Begriffe daran gebunden ist, daß ein differenzierteres sprachliches Formeninstrumentarium verfügbar wird. So bezieht er sich auf die aktuellen Diskussionen in der Sprachwissenschaft, vor allen Dingen aber auf deren »positivistischeren« Flügel, bes. die Wörter und Sachen-Richtung, gelegentlich sogar mit explizitem Rekurs auf de Saussure (s. »La Logique et la Linguistique«);[16] vor allem argumentierte er aber mit den Neuentwicklungen, die auf die Sprachgeographie zurückgehen und insofern einen soziologischen Blick auf die Sprachverhältnisse im Gegensatz zu einem hypostasierend-historischen freigeben.[17]
Auf dieser Folie reklamiert er auch eine methodisch kontrollierte Stilanalyse gegenüber seinen »neoromantischen« Gegenspielern, die die sozialen Abgrenzungsmechanismen in der Sprachgemeinschaft in den Blick nimmt und ihre Sedimentierung in der Entwicklung der Sprachstruktur rekonstruiert, wie er es in dem Aufsatz »Wort, Begriff, Beziehung« (s. Fn 15) exemplarisch an dem Wortfeld der Bezeichnungen für Lichtkörper auf der einen Seite (bougie, lumière, chandelle) und auf der anderen Seite mit dem auch in der Handelssprache festen Terminus gros vorführt. Von dieser Position aus kommt er zu einer hellsichtigen Kritik der gängigen Argumentationsfiguren mit hypostasiertem »Volkscharakter« und »Mentalitäten« als Erklärung für sprachliche Entwicklungen, in denen er nicht nur wissenschaftlich verbrämte Vorurteile sieht, sondern vor allen Dingen auch ein Mitspielen bei dem Rasse-Diskurs, als dessen Opfer er sich sehen mußte, so in seinem Aufsatz »Sprache und Gesellschaft«.[18]
Die Beschäftigung mit dem Japanischen (und der chinesischen Schrift) war für ihn die Voraussetzung für seine anspruchsvolle eigene Sprachtheorie. Er ordnete sein Unternehmen durchaus den zeitgenössischen Neuerungsbewegungen zu. So nahm er 1931 auch am Internationalen Linguistenkongreß in Genf teil. Die Sprachstruktur faßt er als relativ unabhängig von dem Verhältnis Gegenstand – Denken: sie bestimmt aber als Artikulation dieses Verhältnisses unsere Vorstellungen (ein Modell für eine weitgehend sprachformunabhängige Repräsentation logischer Strukturen ist für ihn die ideographische Schrift). Als Voraussetzung für eine universale Logik (i. S. von Leibniz) galt es für ihn, empirisch die verschiedenen Sprachstrukturen als Fundierung unterschiedlicher Denkweisen zu untersuchen (auch in der sozialen Differenzierung in einer Sprachgemeinschaft).
Die Aussichtslosigkeit seiner akademischen Perspektive und später dann generell seiner Lebensperspektive spiegelte sich in dem immer abstrakter werdenden Duktus seiner Arbeiten, die immer mehr zum Programmatisch-Aphoristischen verkommen und oft auch eher als journalistisch anzusprechen sind. Aber die Grundfigur seiner Analyse ist auch dann noch zu finden: gegen die Hypostasierung gewohnter Sprachformen zu »logischen« Denkkategorien stellt er die relative Unabhängigkeit der Sprachstruktur heraus, beschäftigt sich aber auch mit dem Problem einer eventuell sprachunabhängigen Repräsentation logischer Strukturen (s. »La Logique et la Linguistique« 1933).
Im Sachbuchstil trug er dazu wortgeschichtliche Befunde zusammen, bei denen er allerdings oft die sprachwissenschaftliche Sorgfalt vermissen läßt, so wenn er z.B. frz. houille »Kohle« als Adaptierung des deutschen Kohle faßt (s. Gedenkschrift Max Weber, S. 343), zugleich wurde er immer ansprüchlicher und erging sich in Hegel-Paraphrasierungen (etwa »Idealismus und Realismus in der Bildung von Allgemeinbegriffen«),[19] vor allen Dingen auch in sprachkritischen Zusammenstellungen wie in der Monographie »Die Kunst des begrifflichen Denkens«,[20] wo er vor allem Stilblüten des damaligen britischen Diskurses aufspießt, Auszüge aus dem Versailler Vertrag oder Zitate von Lenin. In seiner letzten monographischen Veröffentlichung, der »Schule der Abstraktion und der Dialektik. Neue Wege des begrifflichen Denkens«,[21] finden sich im Vorwort schon dramatische Hinweise auf sein persönliches Schicksal, dabei auch die wenigen tröstlichen Beziehungen, die er zu den Niederlanden hatte, wo sein Bruder lebte; daneben so befremdliche Erklärungen wie »daß ich die deutsche Sprache für die in ihrer philosophischen Begriffsfassung tiefste halte« (S. 139), was im Gegensatz zu der ansonsten von ihm bevorzugten französischen steht. So liest sich das Buch als der verzweifelte Versuch, ein programmatisches Bekenntnis zum Deutschen zu rationalisieren.
Für den ohnehin zweisprachigen J., der in seiner Sozialisation den Wechsel zwischen dem Leben in Frankreich und in Deutschland verkraften mußte, dessen jüdische Familie mit der evangelischen Taufe ihrer Kinder einen wohl noch dramatischeren kulturellen Bruch versuchte, war das Thema der kulturellen/sprachlichen Differenz biographisch vorgegeben (nicht zufällig sind es bei seinen literaturgeschichtlichen Einzelstudien immer wieder Außenseiter/Outlaw-Figuren, mit denen er sich beschäftigte). 1933 traf ihn die rassistische Verfolgung. Er berief sich vergeblich auf seine »nationale« Gesinnung und seine aktive Beteiligung (in der »Einwohnerwehr«) an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik 1919 (Lebsanft, Q: 173). Im April wurde ihm eine Vortragsreise in die Niederlande verweigert, im Juli wurde er als »Nicht-Arier« entlassen. Er versuchte vergeblich, nach Südamerika (wo 1938 noch eines seiner Bücher übersetzt erschien) oder nach Japan auszuwandern, bereitete sich aber schon auf das Schlimmste vor, offensichtlich zum Freitod entschlossen. Als 1940 die Niederlande überfallen wurden, die er wegen seiner fachlichen Kontakte, aber auch wegen seines dort lebenden Bruders noch als Fluchtmöglichkeit angesehen hatte, nahm er sich vermutlich im Juli das Leben (die Umstände sind nicht geklärt).[22]
Q: F. Lebsanft, »Ein jüdisch-deutsches Schicksal: Der Philologe und Linguist L. J. (1874-1940)«, in: Christmann/Hausmann 1989: 157-175; 287-288.
[1] Bonn: Georgi 1899.
[2] S. Seidel-Vollmann 1977: 22-23.
[3] Erlangen: Junge 1905.
[4] Halle/S.: Niemeyer 1905.
[5] Bielefeld: Velhagen und Klasing 1923 – über 350 Seiten.
[6] »Zwei neue französische Sprachbetrachtungen«, in: Die Geisteswissenschaften 1/1914: 717-773, besonders 772.
[7] In: A. Rom. 9/1925: 77-104.
[8] In: Z. rom. Ph. 47/1927: 219-234.
[9] In: Z. rom. Ph. 45/1925: 338-348.
[10] In: »Hauptfragen der Romanistik« (= FS Ph. H. Becker), Heidelberg: Winter 1922: 75-80.
[11] In: Z. d. Handelswiss. u. Handelpraxis, Jg. 1922, Heft 8: 181-184.
[12] In: »De Spiegel ...«, Jg. 4/1928 Heft 10.
[13] In: A. Kulturgeschichte 3/1905: 155-195.
[14] Von dem 15teiligen ersten Teil waren mir die Folgen 1-11 des 1. Jahrgangs 1924-1925 nicht zugänglich, weitere 4 Folgen erschienen im Jahrgang 2/1925, Heft 1, 2, 3, 4. Teil 2 erschien in 14 Teilen in Jahrgang 3/1926-1927, Heft 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 und in Jahrgang 4/1927-1928, Heft 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7. Teil 3 erschien 7teilig in Jahrgang 4/1927-1928, Heft 10 und 11, und Jahrgang 5/1928-1929, Heft 1, 2, 3, 4, 5.
[15] »De Spiegel ...«, Jg. 2/1925-1926, H. 8, 9, 10, 12 und Jg. 3/1926-1927, H. 1.
[16] In: Journal de psychologie normale et pathologique 30/1933: 44-56.
[17] S. »Essai de Sociologie Linguistique«, in: The Romanic Rev. 20/1929: 305-325.
[18] In: M. Palyi (Hg.), »Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber«, München: Duncker & Humblot 1923: 337-360, zu Rasse s. etwa dort S. 359. Vor dem Hintergrund seiner Münchener Situation ist es nicht ohne Pikanterie, daß der auf den seinen dort folgende Beitrag von Vossler stammt.
[19] In: »Philologisch-philosophische Studien: Festschrift für Eduard Wechssler zum 19. Oktober 1929«, Jena: Gronau 1929: 229-236.
[20] München: Bruckmann 1926.
[21] München: Reinhardt 1932.