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Latte, Kurt

Geb. 9.3.1891 in Königsberg, gest. 18.6.1964 in Tutzing am See.

 

Nach dem Abitur 1908 studierte L. in Königsberg und Bonn klassische Philologie, Indologie, vergleichende Sprachwissenschaft sowie breit auch in benachbarten Fächern: Archäologie, Paläographie, Romanistik (insbesondere Vulgär-Latein) und anderes mehr. 1913 promovierte er in Königsberg mit »De saltationibus Graecorum capita quinque«, einer Untersuchung zur metrischen Form griechischer Tänze.[1]

Zunächst beschäftigte er sich mit eher philologischen Arbeiten wie »Zur Zeitbestimmung des Antiatticista«,[2] mit einer Rekonstruktion der Normdiskussion des Hellenismus, die ihm die Datierung dieses Textes erlaubt, später zunehmend direkter in den Arbeiten mit den Quellen, wobei er vor allem auch griechische Inschriften auswertete (s. seine ausführlichen Rezensionen zu der Publikationsreihe der griechischen Inschriften in seinen »Kleinen Schriften«). Neben dialektologischen Fragen standen bei ihm Probleme der Wortbildung im Vordergrund, die ihn zu etymologischen Fragen führten, wobei er im Stil von Wörter und Sachen auch schon einmal die Absurdität von Schreibtischkonstruktionen vorführte, vgl. »Zur griechischen Wortforschung«,[3] am Beispiel der Jagdterminologie (dort in Teil I: 36). In einer solchen lexikalischen Studie kommt er im übrigen später auch auf das Thema seiner Dissertation wieder zurück: »Askôliasmos«[4] – mit einer Analyse der problematischen Interpretation dieses Ausdrucks: »auf einem Schlauch tanzen« vs. »auf einem Beim tanzen«.

1913 hatte er auch das Staatsexamen abgelegt und ein Referendariat in Königsberg begonnen. Obwohl als »dienstuntauglich« gemustert, meldete er sich 1914 freiwillig und nahm bis 1918 als Offizier am Weltkrieg teil. Seine damalige Haltung wird aus der befremdlichen Würdigung seiner Habilitationsschrift an einen 1915 gefallenen Studienfreund deutlich: »Dem Freunde, dem es vergönnt war, den schönsten Tod im siegreichsten Kampfe zu sterben« – so noch im Jahr 1920!

Nach dem Krieg ging er als Assistent an die Universität Münster, wo er mit einer Arbeit zum griechischen Recht habilitierte: »Heiliges Recht. Untersuchungen zur Geschichte der sakralen Rechtsformen in Griechenland«.[5] Sein Gegenstand ist rechtsgeschichtlich, wobei er die spezifische Form der sakralen Bindung in der Rechtspraxis als Indikator einer »unfertigen Gesellschaft« sieht, die von zunehmend formaleren, in säkularen Verfahren gegründeten Rechtsformen abgelöst wird, in denen sich der Staat als Regelung des gesellschaftlichen Verkehrs direkt darstellt. Im Sinne einer solchen Interpretation zieht er vergleichend andere archaische Rechtsüberlieferungen heran, vor allem die deutsch-rechtliche Tradition, in denen er Parallelen findet, insbesondere das germanische Recht.

Die philologisch-sprachwissenschaftliche Analyse nimmt schon hier einen breiten Platz ein, vor allen Dingen bei der Klärung problematischer Leseweisen von Inschriften. Damit hatte er sich ein weiteres lebenslanges Arbeitsgebiet erschlossen, auf dem er gegen die von verschiedener Seite dagegen vorgebrachten Widersprüche seine These von der zunehmenden Politisierung des zunächst sakralen frühen Rechts weiter vertrat. Für seine rechtsgeschichtlichen Arbeiten wurde ihm 1951 von der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg der Doktor jur. h.c. verliehen. Auch in diesem Feld sind seine Publikationen immer wieder streng sprachwissenschaftlich unterfüttert, vor allem mit lexikologischen Analysen der Quellen, z.B. seine »Beiträge zum griechischen Strafrecht«.[6]

1923 wurde er ordentlicher Professor für Klassische Philologie in Greifswald, 1926 in Basel, 1931 in Göttingen. Die Baseler Zeit war vermutlich wichtig für seine spätere explizite sprachwissenschaftliche Orientierung. Auf sie geht es wohl zurück, daß er später die »Kleinen Schriften« von Jacob Wackernagel, der damals in Basel lehrte, herausgab, obwohl er auf Wackernagels Hauptarbeitsgebiet, dem Indoiranischen, nie publiziert hat. Er sieht darin eine Förderung der »Vergleichenden Sprachwissenschaft, die von der philologischen Einzelbeobachtung ausgehend zur Ermittlung allgemeiner Tendenzen des Sprachbaus fortschreitet« (Vorwort).[7]

1933 war er von der rassistischen Verfolgung betroffen,[8] zunächst aber noch als Weltkriegsveteran geschützt, 1935 wurde er entlassen.[9] Zwar wurden ihm danach auch Auslandsreisen nicht genehmigt, aber bis ihm 1938 der Paß entzogen wurde, reiste er viel: regelmäßig nach Kopenhagen, wo er seit seiner Promotion (vermittelt über Wilamowitz) an einer Hesych-Ausgabe der dortigen Akademie mitarbeitete (s.u.), aber auch in die USA, wo er 1936-1937 eine Gastprofessur in Chicago wahrnahm. Während er in Deutschland Publikationsverbot hatte, veröffentlichte er weiterhin im Ausland. Von allen Reisen kehrte er immer wieder nach Deutschland zurück, wo er inzwischen in Hamburg bei seiner alleinstehenden Mutter lebte. Wegen dieser nahm er auch ein Stellenangebot an der Kopenhagener Akademie nicht an. Mit deren Unterstützung arbeitete er in dieser Zeit an seiner großen kritischen Ausgabe des Lexikons von Hesych,[10] die von 1953-1966 in zwei Bänden in Kopenhagen erschien.[11] In Hamburg unterstützte ihn dabei B. Snell (über den auch die gesamte Korrespondenz nach Kopenhagen laufen mußte);[12] nur über Snell hatte er nach dem Bibliotheksverbot auch die Möglichkeit, universitäre Ressourcen wenigstens indirekt zu nutzen.

1943 verstarb L.s Mutter, und seine Wohnung mit seiner Privatbibliothek wurde bei einem Bombenangriff zerstört. Der repressiven Verfolgung konnte er sich entziehen, weil ihn Freunde und Kollegen versteckten[13] – die letzte Kriegszeit überlebte er dank der Hilfe des selbst entlassenen Konrat Ziegler, der ihn bei Verwandten im Harz versteckte.[14] Unter diesen Bedingungen verfolgte er seine wissenschaftliche Arbeit umso rigider weiter – bis zu einer schwer nachvollziehbaren Kompromißlosigkeit, mit der er nach dem Krieg sich gegen jede Art nicht-wissenschaftlicher Rücksichtnahme sperrte, insbesondere auch gegen jede Form der Wiedergutmachung, auch gegenüber denen, die sein eigenes Überleben möglich gemacht hatten wie K. Ziegler.

Unmittelbar nach Kriegsende kam er nach Göttingen, um seine alte Professur wieder einzunehmen – ohne Mitwirken der erheblich belasteten Fakultätskollegen (z.T. wohl auch gegen sie). Er wurde vom Ministerium zunächst mit der Verwaltung der vakanten Professur (also seiner Stelle!) betraut und erst nach einem Semester wieder eingesetzt. Hier unternahm er es, die strenge Wissenschaft wieder zu etablieren, s. seine Ansprache an die Göttinger Studenten im Herbst 1945, vermutlich überwiegend Kriegsheimkehrer, die dabei einem rassistisch Verfolgten gegenüber saßen, der jede persönliche Bemerkung vermied.[15] Er nutzte vor allem auch die Göttinger Akademie, als deren Präsident er von 1949 bis 1954 amtierte, um die deutsche Wissenschaft wieder mit der internationalen zu verknüpfen.

L. arbeitete im ganzen Feld der klassischen Philologie, sowohl zum Griechischen wie zum Lateinischen. Grundlegend war für ihn immer die strenge sprachwissenschaftliche Arbeit – eine geistesgeschichtliche Analyse, die den Text zum Anlaß für weitreichende Interpretationen nimmt, war ihm ganz offensichtlich zuwider, wie gelegentlich in seinen Rezensionen deutlich wird, s. etwa die betont höflich und lobend gehaltene Rezension von H. Fraenkel »Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums«[16] (1951), bes. S. 41. Dem stellt er die sprachwissenschaftlich kontrollierte Stilanalyse gegenüber, für die sein Sallust-Buch ein Muster ist.[17] Vor dem Hintergrund einer rekonstruierten Normal-Stillage profiliert er die Besonderheiten eines Autors als dessen persönlichen Stil, bei Sallust als einem literarischen Virtuosen, dessen Stilfiguren er als Bindungen der sprachlichen Form über die syntaktischen Möglichkeiten hinaus rekonstruiert. Dabei kommt sein Hauptarbeitsgebiet Griechisch zum Tragen, wenn er Sallusts Umgang mit griechischen Modellen analysiert (S. 15ff.). Für sein sprachwissenschaftliches Selbstverständnis steht auch seine Herausgabe der »Kleine[n] Schriften« von Jakob Wackernagel.[18]

Über solche analytischen Arbeiten hinaus war er auch editorisch tätig, vor allem mit seiner Ausgabe »Theocriti carmina«.[19] Schließlich nahmen in seinen Arbeiten die Rezensionen einen großen Raum ein, für deren methodische Schärfe er gefürchtet war, s. die Auswahl in seinen »Kleinen Schriften«.

Nicht ganz geklärte Konflikte im persönlichen Feld brachten L. dazu, sich 1957 vorzeitig emeritieren zu lassen. Im Konflikt mit den Göttinger Kollegen zog er nach Tutzing in Oberbayern, wo er in den letzten Jahren neben dem Abschluß älterer Arbeiten (vor allem der Hesych-Ausgabe) mit Kollegen der juristischen Fakultät der Universität München zusammenarbeitete (s. dazu Dihle, Q).

Q: NDB; Nachruf von R. Stark in Gnomon 37/1965: 215-219. Ein ihm zum 60sten Geburtstag gewidmeter Sonderband des Philologus (Band 106/1962) enthält kein Personalschrifttum; Wegeler 1996; Szabó 2000; Schriftenverzeichnis in: O. Gigon u.a. (Hgg.), »K. L.: Kleine Schriften zu Religion, Recht, Literatur und Sprache der Griechen und Römer«, München: Beck 1968: 911-918; J. Classen (Hg.), »K. L. Opuscula inedita«, München usw.: Saur 2005, darin zur Vita die Beiträge von G. Patzig (3-4) und A. Dihle (6-12).



[1] Gießen: Töpelmann 1913; Teile davon auch mit dem Titel »De saltationibus Graecorum armatis« abgedruckt in: Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 13, 3/1913.

[2] Hermes 50/1915: 373-394.

[3] Teil I in: Glotta 32/1952: 33-42, Teil II in: Glotta 34/1955: 190-202.

[4] In: Hermes 85/1957: 385-391.

[5] Tübingen: Mohr 1920; Nachdruck Aalen: Scientia 1964.

[6] In: Hermes 66/1931: 30-47; 130-157.

[7] »J. W.: Kleine Schriften«, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1953, 2. Aufl. 1969.

[8] L. stammte aus einer jüdischen Familie, war aber protestantisch getauft und offensichtlich auch praktizierender Christ.

[9] Die Fakultät nötigte ihn schon vor den Nürnberger Gesetzen, die Entlassung zu beantragen. L. verweigerte sich diesem Ansinnen, wurde aber aufgrund eines vom Dekan fingierten Antrages trotzdem entlassen, s. Wegeler (Q) für das Verfahren. 1936 erschien eine seiner Arbeiten (ein Nachruf) in den Schriften der Göttinger Akademie nur noch anonymisiert, s. Patzig (Q).

[10] Ein alexandrinischer Lexikograph, dessen Kompilation aus dem 5. Jhd. eine der wichtigsten Quellen nicht zuletzt für die dialektale Differenzierung des griechischen Wortschatzes ist, die allerdings nur in einer verderbten mittelalterlichen Handschrift überliefert ist.

[11] Kopenhagen [Havnia]: Munksgaard.

[12] S. dazu Krause u.a. 1991: 817. Im lakonischen Vorwort zum ersten Band (1953) erwähnt er diese Verhältnisse nur als temporum iniquitas. Persönlichen Dank stattete er dort nur M. Leumann ab.

[13] Zu den haarsträubenden Umständen gehört auch, daß er sich nach der Ausbombung in Hamburg und der folgenden Evakuierung in die Lüneburger Heide dort Ersatzpapiere austellen ließ, die die rassistisch stigmatisierende Kennzeichnung nicht aufwiesen, s. Dihle (Q.).

[14] Konrat Ziegler (1884-1974), Klassischer Philologe, bis 1933 Prof. in Greifswald. Aus politischen Gründen entlassen (Z. war Mitglied der DDP und vor allem auch aktiv im »Verein zur Abwehr des Antisemitismus«). Trotz verschärfter polizeilicher Überwachung half er weiterhin Verfolgten. Nach 1945 versuchte er, in Göttingen auf eine Professur zu kommen (in die SBZ wollte er nicht zurück), wo er inzwischen wohnte und sich seitdem auch kommunalpolitisch engagierte: als Mitglied der SPD, was ihn an der Universität als »roter Ziegler« in Verruf brachte (s. Wegeler 1996: 266). Vor allem L. sperrte sich gegen seine Berufung an die Universität, danach auch gegen eine Honorarprofessur für Z., die diesem nur auf Druck des Ministeriums doch 1950 verliehen wurde. Die Fakultät räumte ihm aber erst 1958, nach L.s Emeritierung, Mitwirkungsrechte ein.

[15] In: Kleine Schriften XV-XVI. Im Vorwort zu Bd. 1 seiner Hesych-Ausgabe (s.o.) merkt er zu den Umständen, unter denen er damals daran gearbeitet hatte, nur lakonisch an: »quos scire nihil attinet« – »es ist nicht von Belang«, s. dazu Dihle (Q).

[16] In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 207/1953: 30-42. Auch hier vermeidet er persönliche Bemerkungen zu diesem Mitverfolgten, lobt aber, daß das Buch in den USA auf Deutsch erschienen sei (S. 42).

[17] Leipzig: Teubner 1935.

[18] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1953.

[19] Iserlohn: Silva 1948.