Olschki, Leonardo
Geb. 15.7.1885 in Verona, gest. 7.12.1961 in Berkeley.
O. besuchte in Florenz, wo der Vater eine Buchhandlung und einen Verlag betrieb, die Schule, nach deren Abschluß er 1903 dort auch das Studium der Germanistik, Romanistik und Musik aufnahm, später in Rom, München, Straßburg und Heidelberg fortgeführt. 1908 promovierte er in Heidelberg bei Vossler in Romanistik mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zu »G. B. Guarinis Pastor Fido in Deutschland. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts«,[1] wo er die Rezeption des italienischen Theaters des 16. Jahrhunderts bis ins Barock (Klopstock) verfolgt, ohne daß sprachliche Analysen eine Rolle spielten. In seiner Vita dort dankt er ausdrücklich Vossler für dessen Unterstützung.
Nach der Promotion war O. an verschiedenen dt. Universitäten als Lektor für Italienisch tätig (Freiburg/Br., Mannheim, Darmstadt). 1913 habilitierte er in Heidelberg mit einer an Vosslers kulturanalytischem Programm orientierten Arbeit »Paris nach den altfranzösischen nationalen Epen. Topographie, Stadtgeschichte und lokale Sagen«[2] – faktisch ein diskursanalytischer Versuch der »Archäologie des Wissens«, der aus den populären Texten (in der Nachfolge von Bédiers Epentheorie) zeitgenössische Wissensstrukturen herauspräpariert, so die beim Leser vorausgesetzten geographischen Kenntnisse, aber auch andere Stereotypen (z.B. den Deutschenhaß im Stereotyp deutscher Reisender in Paris, bes. S. 118ff.). Das Werk ist opulent ausgestattet (insbes. mit alten Stadtplänen) und zeigt den bibliophilen Autor: O. hatte schon als Schüler in der Zeitschrift Bibliografia des Vaters (s.o.) gelehrte Beiträge verfaßt. Buch- und handschriftenkundliche Arbeiten (u.a. mehrere monographische Darstellungen) bilden einen Hauptteil seines Œuvres.
Im Ersten Weltkrieg wurde er zum Landsturm eingezogen. Zumindest in seiner Heidelberger Zeit hatte er auch keine Probleme im Umgang mit deutschnationalen Professorenkreisen (s. Jansen 1992: 41). Seine Erfahrungen im Fremdsprachenunterricht setzte er in italienischen Sprachführern um (ein erster erschien 1915, ein größerer 1928 – die Neuauflagen betreute er noch aus seinem ersten italienischen Exil heraus bis 1935).[3] Als Hochschullehrer widmete er sich vor allem der Literatur, gab aber auch sprachliche Einführungskurse – u.a. in die Lektüre spanischer Texte. Die Verbindung von Sprachunterricht und literarischer (Aus-)Bildung hatte er schon in seinen Sprachführern versucht (s. dazu Baum, Q); er setzte sie auch in sprachlich-philologisch kommentierte Ausgaben um (so bes. zu Dante).
Sein Hauptwerk bleibt aber das kulturanalytische Unternehmen, das er mit stupender Belesenheit und der Fähigkeit zur Strukturierung bewältigte: seine von ihm monumental geplante »Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur«. Anders als bei Vossler hatte diese Arbeit keine literarische Akzentuierung. 1919 erschien der erste Band »Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften vom Mittelalter bis zur Renaissance«,[4] der Band »Galileo und seine Zeit«[5] schloß das Unternehmen für Italien ab – die als nächstes geplanten beiden folgenden Abteilungen für Frankreich und Deutschland (s. das Vorwort zu Bd. II) sind bedingt durch seine Vertreibung nicht mehr erschienen (der Rahmen dafür ist im ersten Band skizziert).
O.s Untersuchung ist die wohl eindrucksvollste Umsetzung des damals vielfach bemühten Programms einer historischen Sprachkritik (s. außer Vossler noch Lerch, Klemperer, Spitzer u.a.): O. rekonstruiert den Sprachausbau der »Volkssprachen« in Auseinandersetzung mit dem Monopol des Lateinischen für die wissenschaftliche Schreibpraxis. Ungemein belesen (an Materialfülle ist das Werk bis heute auch den späteren einschlägigen Monographien, etwa zur Sprachreflexion in der Frühen Neuzeit, überlegen) zeigte er die Veränderungen in der sprachlichen Artikulation, bei denen die Übernahme lateinischer Muster etwa in Syntax und Wortbildung nur eine Variante bildet, während die andere in der Nutzung von Mustern erfahrungsgesättigten Argumentierens im mehr handwerklichen Bereich besteht, die das genuin Moderne (und damit Demotisierte) dieses Sprachausbaus ausmachen.
Dieser letzte Gesichtspunkt ist über Strecken dominant (bes. in Bd. III zu Galilei) und macht aus O.s Arbeit einen noch nicht hinreichend angeeigneten Beitrag zur modernen Sprachsoziologie. So materialreich seine Darstellung gerade auch in der kultursoziologischen Einbettung seiner Textanalysen ist, so bleiben die eigentlichen Sprachanalysen doch recht impressionistisch: die Verweise auf Muster handwerklicher Argumentation (Instruktionsmuster, konkret-exemplarischer Form u. dgl., s. z.B. Bd. I: 438, Bd. II: 310, Bd. III: 365f. u.a.) bleiben im Rahmen der literaturwissenschaftlich üblichen Stilistik und ihrer rhetorischen Figuren. In seinem Selbstverständnis handelte es sich auch nicht um ein sprachgeschichtliches Werk, sondern um ein epistemologisches, wobei er die Ideengeschichte konkret-soziologisch umzusetzen verstand. Dennoch bleibt sein Werk heute in allen auf diesen Bereich zielenden Arbeiten der historischen Sprachsoziologie bzw. Arbeiten zur Herausbildung der neueren Schriftkultur autoritativ.
O. hatte mit diesen Arbeiten zunächst seine akademische Position gefestigt: 1918 wurde er a.o. Professor, 1924 o. Professor f. roman. Philologie in Heidelberg (und Mitdirektor des Rom. Seminars), 1932 ließ er sich für eine Gastprofessur in Rom beurlauben – 1933 wurde die Beurlaubung aufgehoben und O. aus rassistischen Gründen zunächst in den Ruhestand gesetzt, später entlassen. O. blieb zunächst in Rom, wo er wohl eine reguläre Stelle erhielt, und führte unter diesen Umständen auch sein Großprojekt weiter: 1935 erschien »Struttura spirituale e linguistica del mondo neolatino«,[6] das die Fragestellung des Sprachausbaus in der Moderne vergleichend auf die gesamte Romania ausdehnt (auch im Kontrast zu den Entwicklungen in »halbliteraten« Dialektgebieten wie dem Rätoromanischen, z.B. S. 30-31). Das Potential von Sprachen stellt er der kulturellen Anstrengung zu ihrem Ausbau und externen Eingriffen der Sprachpolitik gegenüber (z.B. Erlassen für die Sprachpraxis der Verwaltung wie im Frankreich des 16. Jhdts., S. 21).
Das Thema der Emanzipation als Motor dieser Entwicklung erhielt dann aber einen neuen Akzent, den er (stellvertretend für parallele Orientierung bei anderen rassistisch Verfolgten, s. Kahane, Spitzer) artikulierte: »In der tausendjährigen Kontinuität dieser intellektuellen Erfahrung hat sich die romanische Welt als bürgerliche Einrichtung (istituto di civiltà) herausgebildet, als natürliches Empfinden und als Ausdruck einer gemeinsamen bürgerlichen Ordnung (ordine civile) der ›humanitas‹, die der geistige Gegenpol der materialistischen Vorstellung der Rasse ist« (S. 9).[7]
Die civiltà der Romania markierte für O. den vornehm verklausulierten Trennungsstrich zur Barbarei seiner vormaligen deutschen Heimat: Seit 1931 hat er kein Wort mehr auf deutsch publiziert und auch deutschen Boden nicht mehr betreten (zu den Bemühungen darum, s. Mußgnug 1988: 264-267) – nur zur Akademie, nicht aber zur Universität in Heidelberg nahm er wieder einen brieflichen Kontakt auf, obwohl die Universität ihm 1953 wieder den Status eines Professors zuerkannt hatte. Die rassistische Gesetzgebung Italiens vertrieb ihn 1938 erneut aus seiner akademischen Stellung in Rom. 1939 emigrierte er weiter in die USA, wo er bis 1944 auf verschiedenen Stellen erneut mit Sprachunterricht sein Leben fristete (u.a. beteiligte er sich 1943/1944 an den Sprachunterrichtsprogrammen der US-Armee).
Ohne die Möglichkeit, in der Romanistik wieder eine feste Stelle zu bekommen, beschäftigte er sich später zunehmend mit einem anderen Arbeitsgebiet, dem Chinesischen, das er schon als Kind zu lernen begonnen hatte.[8] Nach einem kurzen Intermezzo an der Johns Hopkins Universität, das wohl auch durch Spitzers Unterstützung zustande kam (mit dem er aber bald in einen publizistischen Konflikt geriet, s. bei diesem), erhielt er 1944 eine Forschungsstelle, seit 1946 mit Lektoraufgaben, in der Orientalistischen Abteilung in Berkeley – hier waren es wohl seine Chinesisch-Kenntnisse, nicht seine romanistischen Qualifikationen, die für die Einstellung gezählt hatten.[9] 1945 wurde er US-Bürger, 1950 wurde er erneut Opfer einer Verfolgung: er wurde entlassen als er sich weigerte, bei der McCarthyschen Kommunistenverfolgung mitzuspielen.[10] Bis zur Aufhebung dieser Entlassung durch einen Gerichtsbeschluß 1952 war er als »Privatgelehrter« tätig und lebte zeitweise auch wieder in Italien.
In den USA hatte er sich zunächst auf Themen seiner neuen Heimat eingelassen (vor allem zur Topographie, zu Columbus u. dgl.); seine späteren Arbeiten lagen im Bereich der Buchkunde und der Orientalistik, wo er, ausgehend von Reiseberichten (bes. Marco Polo bildete einen seiner Arbeitsschwerpunkte), eine anerkannte fachliche Autorität wurde (auch in der Orientalistik, Hinweis von H. Wallravens). Vor allem in Hinblick auf namenkundliche Fragen (Sinisierung europäischer Namen u. dgl.) lieferte er hier kleinere philologisch-sprachwissenschaftliche Arbeiten, publizierte aber sonst auf einem breiten kulturgeschichtlichen Feld. Eine ausführliche Würdigung seines umfangreichen Werkes findet sich bei Evans (Q). Die Vertreibung aus Deutschland hatte mit seinem modernen sprachsoziologischen Projekt gebrochen. In persönlichen Briefen der letzten Jahre wird denn auch seine Verbitterung über das Schicksal seiner Vertreibung deutlich.[11]
Q: V; LdS: temporary; BHE; NDB (S. Strobach-Brillinger); Walk 1988; Drüll; Mußgnug; DBE 2005. Nachruf von A. R. Evans, in: Romance Philology 31/1977: 17-54; R. Baum, »L. O. und die Tradition der Romanistik«, in: Christmann/Hausmann: 177-199 (dort Bibliographie); T. Izbicki, »L. O.: a comprehensive bibliography«, in: La bibliofilia 88/1986: 297-308; A. Dörner, »La vita spezzata. L. O.: ein jüdischer Romanist zwischen Integration und Emigration«, Tübingen: Stauffenburg 2005;[12] Hinweise von H. Wallravens.
[1] Leipzig: Haessel 1908.
[2] Heidelberg: Winter 1913.
[3] Der Heidelberger Verlag Groos druckte die italienische Sprachlehre schließlich unter einem »arisierten« Decknamen A. Buck nach, wogegen O. nach dem Krieg klagte, s. Izbicki (Q): 298.
[4] Heidelberg: Winter 1919 – Repr. Vaduz: Kraus 1965.
[5] Halle/S.: Niemeyer 1927 – Repr. Vaduz: Kraus 1965.
[6] Bari: Laterza.
[7] Übersetzung von U. M.; civile, civiltà sind hier in Hinblick auf ihre Konnotationen kaum zu übersetzen.
[8] Später schrieb er sogar Gedichte in Klassischem Chinesisch, s. Evans (Q), Beispiele dort S. 42.
[9] In Berkeley hatte er aber auch engere Beziehungen zu den anderen Kulturwissenschaftlern dort, u.a. auch zu dem Ethnologen Kroeber.
[10] S. Evans (Q: S. 43) für O.s Haltung in diesem Konflikt. Malkiel hat diese Konstellation in seiner Würdigung des mit O. befreundeten E. Kantorowicz geschildert, s. bei Malkiel.
[11] S. Hausmann 2000: 255-256.
Zuletzt aktualisiert am Montag, 29. Juli 2013 um 11:08 Uhr