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Brinkmann, Hennig

 

Geb. 29.8.1901 in Königsberg, gest. 8.7.2000 in Lüdinghausen/Westf.

Promotion in Bonn 1923 (zur Dissertation »Anfänge lateinischer Lie­besdichtung im Mit­telalter«, s.u.). 1923-1925 Schulunterricht in Jena, wo er 1924 habilitierte; danach unterrichtete er an der dortigen Universität zunächst Latein, dann ab 1929 als Assistent am Deutschen Seminar. 1930 wurde er zum a.o. Prof. ernannt und vertrat für eine Jahr das vakante Ordinariat. 1937 Vertretung einer Pro­fessur in Berlin, 1938 o. Prof. in Frankfurt/M., 1938-1941 Kriegsdienst, 1943 für zwei Jahre beurlaubt, um in Istanbul eine Abteilung für deut­sche Philologie aufzu­bauen (nach eige­nen Angaben wurde er 1942 von der Univ. Istan­bul berufen und erhielt 1943 einen Zweijahresver­trag). Dort Vertretung des ge­samten Faches und Beteiligung an der Reform des Deutschunter­richts.[1] Bei Kriegs­eintritt der Tür­kei 1944 Wechsel nach Zagreb (damals Agram; Lehrstuhl für deut­sche Sprache und Litera­tur).[2] Bis Mai 1945 (?, so nach Auskunft von H. B.) dort Lehrtätig­keit, dann Rückkehr nach Deutschland.[3] Seine alte Fakultät in Frankfurt war geschlossen für seine Entlas­sung, da B.s Verhalten (nicht nur seine Gesinnung) seine Wiederbeschäftigung dort unmög­lich machte (so Ham­merstein 1989: 631). B. erhielt Berufsver­bot. Später wurde er zwar »entnazifiziert«, aber zunächst nicht wieder in den Hoch­schuldienst übernommen (insbes. nicht in Frankfurt, wo seine Professur 1952 wieder zu besetzen war).[4]

B. ent­faltete aber eine ausgedehnte Tätigkeit als Pri­vatgelehrter mit zahlrei­chen Veröf­fentlichungen. Von 1948-1956 unterrichtete er an Gymnasien in Lippstadt und Düsseldorf; 1951 hatte er dazu noch das 2. Staatsexamen abgelegt. 1956 wurde er vom Schuldienst für die Mitarbeit an dem von Leo Weisger­ber geleiteten DFG-Schwerpunkt »Sprache und Ge­meinschaft« freigestellt. 1957 wurde er a.o. Prof. für mittellateini­sche Phi­lologie an der Universität Münster, 1959 o. Prof. und von 1963-1969 bis zur Emeritierung Direktor des mittellateini­schen Semi­nars.[5] In dem Kreis seiner po­litisch-fach­lich affinen Kollegen zeichnet ihn das ehr­liche Bekenntnis zu seiner Vergangenheit als NS-Aktivist aus (aktives SA-Mitglied seit 1933, NSDAP-Mitglied seit 1937 – zu seinen Schriften s.u.): Sein entsprechendes Eingeständnis in Seeliger, Heft 3/1965, ist in die­sem Kreis eine beachtli­che Aus­nahme.

B. hat in seinem Werk die philologische Einheit des Fa­ches prakti­ziert, obwohl er nach eigenen Aussagen von Anfang an stark unter dem Einfluß der Bonner »Frings-Schule« gestanden hat, der bis in die späten Arbeiten an der Vorliebe für große Entwürfe mit glo­balen Perspekti­ven deut­lich ist (s. etwa »Sprachwandel und Sprach­bewegung in althochdeutscher Zeit«).[6] Die Ak­kumulation von Ein­zelbelegen wird von ihm dabei direkt auf großräu­mige Verhältnisse bezogen: Die Her­ausbildung der (ahd). Schriftsprache auf die ge­samtgermanische Entwicklung (vom Altnor­dischen bis zum Langobardi­schen) auf der einen Seite, einzel­sprachübergreifende »Sprachbünde« (ohne daß sich der Termi­nus al­lerdings bei ihm fin­det) auf der anderen Seite: Die fränkische Di­phthongierung, die binnendeutsche Konsonan­tenschwächung usw. ver­binden das Hochdeut­sche mit dem Fran­zösischen (ähnliche Thesen vertrat auch Frings), die oberdeut­schen Geminaten, Konsonanten­schärfung etc. das Hoch­deutsche mit dem Ita­lienischen usw. (s. noch »Frühgeschichte der deutschen Sprache«,[7] auch in seinen »Studien zur Ge­schichte der deut­schen Sprache und Lite­ratur«).[8]

So reklamierte er aus­drücklich eine anti-jung­grammatische Program­matik (mehrfach im Rück­griff auf Schuchardt, vor al­lem aber auf Vossler, dessen Frankreichbuch ihm auch bei Einzelargumentatio­nen als Vorbild dient, s. z.B. in dem »Sprachwandel«-Buch zur Aus­bildung des Arti­kelsystems S. 8, des (periphrastischen) Tempussy­stems S. 16 u.ö. Program­matisch prak­tizierte er so eine histori­sche Sprachso­ziologie, s. etwa die zusammenfassende Schlußbemer­kung in dem Buch von 1931: »Dies war die be­freiende Erkenntnis des Untersuchungs­ganges: Sprachge­schichte fügt sich der Ge­schichte zwischen­menschlicher Bezie­hungen ein. Die Geschichte der althoch­deutschen Sprachbewe­gungen beleuchtet die Frühgeschichte des deut­schen Vol­kes« (S. 236) – praktisch verblieb er aber in »kul­turgeschichtlichen« Stereotypen, ohne eine so­ziale Differenzie­rung zu versuchen (trotz seines Pro­testes gegen derar­tige Kritik von Rezensenten).

So ist der Umgang mit dem Material auch ambivalent: Auf der einen Seite forderte (und praktizierte) er philologische Kon­trolle der Be­lege am (Kon-)Text, nicht nur, aber ins­bes. auch dem syntak­tischen Zusammenhang gegen junggrammati­sches Operieren mit Einzelworten (hier be­zog er sich gelegent­lich auf Spitzer als Vorbild), auf der ande­ren Seite griff er di­rekt durch den sprachli­chen Befund hindurch auf ethni­sche Katego­rien (die ger­manischen Stämme) und ver­band formale Charakterisie­rungen mit Wertungen: Der germanische Sprachbau ist »einfach«, »großartig« u. dgl., in ihm drückt sich eine be­sondere »Haltung« aus... Obwohl so die Ana­lysen im Sinne struk­turaler Methodologie unzu­reichend kontrolliert sind, ist doch die durch­gehend funktio­nale Betrachtungsweise bei ihm bemer­kenswert, mit der er sich von dem üblichen Po­sitivismus ab­hob, so z.B. wenn er die Durchset­zung/Ausbreitung einer sprachlichen In­novation an ihre funk­tionale Nutzung im gramma­tischen System bin­det, den Umlaut z.B. nicht auf eine »lautgeschichtliche« Erschei­nung redu­ziert, sondern als Mar­kierung grammatischer Formklassen be­trachtet (s. etwa ebd. S. 88 u.ö.).

Die gleiche Ambivalenz ist in seinen »geistesgeschichtlichen« Ar­beiten deutlich, wo er denn auch schon einmal die methodische Kon­trolle an der Form­analyse ablegt und sich ganz auf die Extrapola­tion von Haltungen »hinter« den Texten ver­legt (etwa »Die Idee des Lebens in der deutschen Ro­mantik«)[9] – vor allem »heroischer«, »wesentlicher« Haltungen.

Das Epigonen­hafte vieler seiner Äußerun­gen kompen­sierte er mit ei­ner Vorliebe für einen heroi­schen Monumen­talstil. So passen seine Arbeiten in das völkische Umfeld, in dem der Nationalsozialis­mus ein akade­misches Echo fand. Hier war B. expliziter als die meisten seiner Kolle­gen, s. bes. »Die deut­sche Beru­fung des Nationalso­zialismus«[10] – eine Rekonstruk­tion der »deutschen Bewe­gung« von Karl dem Großen bis Adolf Hit­ler. Wieviel davon Anbiederung oder Naivität war, ist schwer auszu­machen – manches liest sich heute eher komisch, so wenn dem Mes­sias Hitler auch ein Prophet vorausgeschickt wird (»Es war Zeit, daß der von George verkündete Täter kam«, S. 69). Sieht man von der Ausdehnung des Textcor­pus auf das Parteiprogramm der NSDAP ab, das dort z.T. paraphra­siert wird, so handelt es sich überwiegend um eine kultur­soziologisch orientierte Lite­raturgeschichte, die in den Po­len von »schöpferisch-we­sentlichem Den­ken« (dem germanischen Erbe) und fremdem »Rationalismus« (der Aufklärung, vor allem den französi­schen Einflüssen) ope­riert.

Ist diese Arbeit in dieser Hinsicht noch eher epigonenhaft-tri­vial, so ist sie es weniger in dem »entschiedenen« Ras­sismus. Ras­sische Zersetzung wirkt demnach durch die ganze deutsche Ge­schichte: »osti­sche« Einflüsse in den mittelalterlichen Städten (zu ihren Lasten geht der Trend zur »Gemütlichkeit«, S. 51), »südische« Ein­flüsse seit dem Christentum – vor al­lem aber jüdi­sche Zersetzung durch den Intellekt: Nur dem ober­flächlichen Schein nach gehö­ren die Ju­den zur deut­schen Sprachgemeinschaft (S. 76). Die Ar­beit war schon 1934 ge­spickt mit den Topoi des na­tionalsozialistischen Diskurses des totalen Staa­tes, der Inszenierung von Vernichtung und Welt­krieg: deutsch – das ist »rücksichtsloses Durchgreifen«, totale (S. 72) staatliche Kon­trolle bis zur Euthanasie (S. 84), das ist Herois­mus dem tragischen Schicksal ge­genüber (S. 96), der »Stimme des Blu­tes« folgen, von der Vernunft nicht »angekränkelt« (S. 101). Die Einord­nung in den fa­schistischen Staat geschieht dabei bruch­los von zivilisationskri­tischen Prämissen aus, die in den 20er Jahren die Jugendbewegung bestimm­ten: Es ging um Dienst an der Ganzheit (S. 83), an dem Volk gegen alles Trennende (insbes. den Klassenkampf (S. 79)), den Rück­gang auf seine »wesentliche« »bäuerliche Gesittung« (S. 48-49), die Ableh­nung des »Kapitalismus«, der »erwerbsgierigen Kräfte« (S. 45), die die Welt »mechanisieren«, mit Werbung überzie­hen und das Leben pervertieren (S. 42) usw.

B. engagierte sich i. S. der damals institutiona­lisierten Wehrkunde und führte Lehramtsveran­staltungen über den »Krieg als schöpferi­sches Ereig­nis« durch, s. den gleichnamigen Auf­satz,[11] eine Apo­theose der Geburt des »organisch geglie­derte(n) Volk(s) mit einem Führer an der Spitze« (S. 13) aus dem Geist des Kriegs, der jetzt endlich »die Macht der Ich­sucht (Liberalismus, Kapita­lismus und Juden­tum)« (S. 14) in Deutschland überwunden hat. So han­delte es sich bei diesen Äußerungen nicht um eine einmalige Entgleisung in der eupho­risch erlebten »Machter­greifungsperiode«. 1939 ver­faßte er für das zur politischen Re­form des Deutschunterrichts be­stimmte Grundlagenwerk von Huhnhäuser u.a. (Hgg.)[12] den alt­germanistisch-li­teraturwissenschaftlichen Beitrag »Die land­schaftlichen und rassi­schen Kräfte in der deut­schen Dichtung des Mittelalters« (a.a.O., S. 122-169), in dem die deutsche Lite­ratur/Kultur als Ergebnis des »historischen Ringens« zwi­schen Ger­manischem bzw. Nordi­schem und Welschem bzw. Mediter­ranem präsen­tiert wurde. Biologisch-rassische Kräfte behalten immer in der Ge­schichte die Oberhand: deut­sches, nordisches Rittertum wehrt sich gegen welsche (»höfische«) Ein­flüsse in der Ostkolonisation (S. 127), und so ist der Bogen zur im­perialistischen Kriegsvor­bereitung ge­schlagen (die domi­nant-nordi­sche Eigenschaft ist die Treue, S. 132,…). Ent­sprechend wurde er bei den Frankfurter Hoch­schulwochen bestimmt, die Politisierung der Univer­sität in einem öffent­lichen Vortrag zu repräsentie­ren (Hammerstein 1989: 409-410).

Dieses spezifische Amalgam von Gedan­kenformationen hat B. auch später immer wieder in seine wissen­schaftlichen Arbei­ten hin­eingenommen. Aufschlußreich ist ein Aufsatz von 1951 (»Magie des Wortes«[13] – bemerkenswerter­weise in dem der Lite­ratur gewidme­ten Band: Sprachwissenschaft begreift er also sehr eng gramma­tisch-philologisch!). Auch hier findet sich wie­der die Kri­tik an der mo­dernen entseelten Welt, in der das le­bendige Wort durch die Herrschaft der to­talen Schrift be­droht ist (u.a. auch mit Bezug auf die Wer­bung!). Damit befand er sich in Über­einstimmung mit der domi­nanten Auf­fassung der Sprachwissenschaft­ler von den Junggrammati­kern bis zu den Strukturalisten – aber eben auch mit den national­sozialistischen Propa­gandaspezialisten, deren Lob auf die Macht des gespro­chenen Wortes er reprodu­zierte bis hin zur Apotheose des Rundfunks, der die alten Verhält­nisse von Mündlich­keit wieder er­wecken könne...

Ich gehe hier nicht auf das philologisch-literaturwissenschaftli­che Œuvre von B. ein. Die mei­sten Arbeiten sind in den »Studien« zu­gänglich; sie zei­gen über­wiegend den Philolo­gen, der kul­turelle Zusammen­hänge explo­riert – und gegen seine völkischen Obertöne deutlich macht, wie sich die kulturellen Ressourcen im Deutschen (in Litera­tur wie Sprache) in der Aus­einandersetzung mit der latei­nisch-romanischen Tradition herausgebildet haben. Die mittelalter­liche Latinität war ohnehin von An­fang an eines seiner Hauptar­beitsgebiete, ange­fangen bei der Dissertation, s. den Teil-Druck »Anfänge lateinischer Liebes­dichtung im Mittelal­ter«,[14] woran die Habilitationsschrift zur »Entstehungsgeschichte des Minnesangs« anschloß. In Jena hielt er regelmäßig Lehrveranstal­tungen zum Mit­tellateinischen ab, daraus ist dann sein spä­teres Ar­beitsgebiet an der Uni­versität Mün­ster ge­worden – wo ihm als spezifi­sche Form der »Vergangenheitsbewältigung« in der Lehre die Vertre­tung ger­man(ist)ischer Be­lange ver­wehrt wurde; mit­tellat. Publikationen sind invers dazu in die »Studien« nicht aufgenom­men.

Für die deutsche Nachkriegssprachwissenschaft ist B. vor al­lem durch seine Arbeiten zur Ge­genwartsgrammatik wich­tig gewor­den, die er z.T. im Rahmen des von Weisgerber geleite­ten DFG-Ar­beitskreises »Sprache und Gemeinschaft« vorge­legt hat (zusammen­fassend als »Die deut­sche Sprache. Gestalt und Leistung«).[15] Für diese Orien­tierung seiner Arbeit wer­den vielleicht auch die Anforde­rungen bei der Ver­tretung der »Auslandsgermanistik«, bes. ihre sprach­praktischen Anteile, wäh­rend des Krieges in Istanbul und Zagreb wichtig gewe­sen sein:[16] nach ei­gener Auskunft hat er sich dort insbes. schon mit der deutschen Syntax befaßt und nach­haltige Wirkun­gen für die spätere einheimische germanistische Sprachwis­senschaft hinterlas­sen (so etwa in Jugosla­wien über sei­nen damali­gen Mitar­beiter Zdenko Skreb; in Istanbul er­schien 1950 auch noch eine li­teraturwissenschaftliche Arbeit von ihm).

Im Nach­kriegs(west)deutschland hat B. im Rahmen der Sprachin­haltsforschung neben H. Glinz die de­skriptiv am wei­testen abge­stützten und operativ ent­wickelten Arbei­ten vor­gelegt (vor al­lem zur Syntax). Ein Beispiel für seine »synchrone« Reinter­pretation des histo­risch-rekonstruierten Handbuch­wissens ist seine Analyse »Zum grammatischen Ge­schlecht im Deut­schen«,[17] wo er ge­gen die etymolo­gische Blick­richtung (die auf die Sexus-Moti­viertheit der Formdif­ferenzen fixiert ist) die funktio­nale Nutzung der Wortbil­dungs- bzw. Flexionsdiffe­renzen herausarbeitet, dabei semanti­sche Teil­klassen mit syn­taktischen Funktionen kop­pelt: Maskulina als Agentive, primär in Sub­jektfunktion; Neutra und Feminina in Objekt­funktion; Feminina als »durative« Verbalab­strakta in Opposi­tion zu punktuellen Mas­kulina, syntak­tisch bedingte Neutralisierun­gen (in prädikativer Funk­tion) u.dgl. Hier griff er ältere Tradi­tionen auf, ins­bes. die funktionalistischen Ansätze, rezi­pierte aber auch neuere struktu­rale Arbeiten (vor al­lem aus Frankreich: Tesnière; er be­zog sich auch auf die Glos­sematik – vermutlich hatte der französische Sprachwissenschaftler Jean Fourquet [1899-2001], der im Ar­beitskreis öf­ters zu Gast war, eine vermittelnde Rolle).

Der von ihm so entwickelte Ansatz er­hielt in den 60er Jahren nahezu eine Monopol­stellung in der Schulgramma­tik. Dabei ist die gleiche Ambivalenz im Heran­gehen deutlich, die ich oben schon für die frü­hen Arbeiten angesprochen habe. Der Zugang zu den Daten ist durchaus deskrip­tiv, geht von formalen Kontrasten aus, bildet Formklassen, die distributio­nell kon­trolliert sind. Aber diese z.T. ad hoc gebilde­ten Formklassen wer­den direkt als »sprachliche Kategorien« im »Weltbild« der deutschen Sprache ge­deutet – in den mei­sten Fällen liefert das nicht mehr als eine an­sprüchlich reformulierte Wieder­holung des de­skriptiven Be­fundes, in anderen Fällen sind sie weit­gehend inhaltsleer (z.B. »In Bil­dungen wie er­finden, erzeugen bekundet sich der ent­werfende Mensch, der sich Ziele setzt, die dem Vorhan­densein vor­aus sind, und sie zu erreichen sucht«, »Die deut­sche Sprache«, S. 245). Der durch­gängig be­merkenswerte Ver­such zur methodologi­schen Reflexion (z.B. in der Kritik an sprachgeschicht­lich anachronisti­scher Gleichset­zung iso­lierter Formen, etwa zu den Kasus ebd. 66-67; der Rekonstruk­tion der histo­rischen Dynamik im sprachli­chen Feld – also ei­ner Struk­tur, nicht am Einzel­wort u.dgl.) und auch die formale Explika­tion der Ana­lyse (etwa das abhängigkeitsgrammati­sche Satzmo­dell S. 510ff.) weisen durchaus Affinitäten zu den struk­turalen Entwick­lungen in der neueren Sprachwis­senschaft auf. Aber der Drang zu einer direk­ten »kulturmorphologischen« Deutung des Befundes ver­hindert eine methodisch-theoretisch be­friedigende Durchfüh­rung einer kul­turanalytisch aus­gewiesenen Grammatikbe­schreibung.

B. hatte in den letzten Jahren einen ambitionierten Ver­such gemacht (er selbst sprach von einer »wissenschaftstheoreti­schen« Begrün­dung), die eige­nen Arbeiten mit den jüngsten Entwick­lungen der Sprachwis­senschaft (bis hin zur Generati­ven Transforma­tionsgrammatik) zu harmonisieren (s. »Sprache als Teil­habe. Auf­sätze zur Sprachwis­senschaft«);[18] im Bezug zur lebendigen, gespro­chenen Sprache sah er die gemeinsame Prä­misse, und er konnte so insbes. die jüngsten An­sätze zur Pragma­tik aufnehmen (S. 54 – oh­nehin ist Bühler hier die von ihm am meisten zi­tierte Autori­tät); interessant sind in die­sem Zusam­menhang seine Überlegungen zur sprachlichen He­terogenität (»erlebte Rede« u.dgl.), die entspre­chende An­sätze der 20er Jahre fortfüh­ren. Prä­misse seiner Überle­gungen ist aber ein »organi­scher« Sprachbegriff, den er ungebro­chen im Stil der »ganzheitli­chen« Ansätze der 20er Jahre gegen eine tech­nische Reduktion der Spra­che hochhielt, die mit den infor­mationswissenschaftlichen An­sätzen droht (S. 17 u.ä.). Dieser umfassende Zugang zu deskriptiven Sprachpro­blemen er­klärt, daß er in seiner Festschrift[19] als Pionier der Text­linguistik gewürdigt wurde. Bemer­kenswert ist dabei, daß von den zwölf Beiträgern vier Japaner sind – der einzige andere Ausländer dort ist J. Fourquet.

Q: IGL (H. Rüter); DBE 2005. Zum Werk s. auch die Laudationes von J. Er­ben[20] und H. Rü­ter;[21] Hammerstein 1989; Bundesarchiv; briefli­che Aus­künfte von H. B.



[1] Nach Anstock (s. dessen »Erinnerungen«) hatte die Istanbuler Universität über das deutsche Konsulat Vorschläge für die Besetzung der neu eingerichteten Professur angefordert. B. war einer von vier vorgeschlagenen Kandidaten, für den die fachliche Breite und vor allem die schulpraktische Erfahrung sprach. Anstock berichtet auch von politischen Vorbehalten, die zunächst bestanden, da B. seine Einstellung sehr offen vertrat, denen später aber eine sehr professionelle und kollegiale Arbeit beim Aufbau des Instituts gegenüberstand. Demnach soll B. sich sogar dafür ausgesprochen haben, daß der rassistisch verfolgte Klass. Philologe Kranz, den die Universität angefordert hatte, nach Istanbul kommen konnte (W. Kranz (1884-1960), wegen seiner »nicht-arischen« Frau 1933 als Lehrer entlassen, 1937 ebenso als Honorarprof. an der Univ. Halle, 1943 Emigration in die Türkei).

[2] S. dazu Hutton 1999: 74-77 (Antritt der Stelle in Agram am 16.11.1944). Nach Hausmann (2001) übernahm B. im Dezember 1944 kommissarisch die Leitung des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Agram, dessen Leiter Maximilian Stadler seit September 1944 bei der Waffen-SS war (MS, 1906 - 1984, a.o.Prof. für Wirtschaftswissenschaft in Wien, [illegaler] NS-Aktivist seit 1930).

 

[3] Zu einem Gespräch über seine Tätigkeit in diesen Jahren war B. nicht bereit; er antwortete nur brieflich auf einige Fragen.

[4] S. Hammerstein 1989: 337-338.

[5] Zu den Einzelheiten dieser Wiedereinsetzung eines massiv belasteten Hochschullehrers, s. Pilger 2004: 429-454.

[6] Jena: Frommann 1921.

[7] Zuerst 1943, wiederabgedruckt in »Studien« (s.u.) Bd. 1/1965: 279-342.

[8] Bd. 1, Düsseldorf: Schwann 1965, dort auch auf S. 9-236 Wiederabdruck der Arbeit von 1931.

[9] Augsburg/Köln: Fi­scher 1926.

[10] Jena: Frommann 1934.

[11] In: Z. f. dt. Bildung 12/1936: 1-14.

[12] »Beiträge zum neuen Deutschunterricht«, Frankfurt a. M.: Diesterweg 1939.

 

[13] In den erwähnten »Studien« nachgedruckt in Bd. 2, 1966: 436-442.

[14] In: Neophilologus 9/1923 (!): 49-60.

[15] Düsseldorf: Schwann 1962. Nach eigener Aussage war eine erste Fassung des Werkes unter dem Titel »Morphologie der deutschen Sprache« schon 1948 fertig – der Titel markiert den ganzheitlichen Anspruch seines Vorhabens.

[16] Aus­weislich der Vor­lesungsverzeichnisse in Jena hat er dort noch keine sprachwissen­schaftlichen sondern nur phi­lologisch-literari­sche Veranstaltungen durchgeführt.

[17] In: Ann. Academicae Scient. Fennicae, Bd. 84/1954: 371-428 (= FS E. Öhmann).

[18] Düsseldorf: Schwann 1989.

[19] R. Harweg u.a. (Hgg.), »Die deutsche Sprache – Ge­stalt und Leistung. H. B. in der Diskussion«, Münster: Nodus 1991.

[20] In: Wirk. Wort 16/1966: 288.

[21] ebd. 21/1971.