Goetze (Götze), Albrecht
Abitur in Darmstadt 1915. Danach Studium der Indogermanistik und Semitistik zunächst in München, dann in Leipzig. 1916 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen (den er mit Tapferkeitsauszeichnung und der Beförderung zum Leutnant absolvierte). Nach Kriegsende setzte er sein Studium zunächst in Berlin, dann in Heidelberg fort, wo er 1922 mit einer indogermanistischen Dissertation promoviert wurde: »Über die relative Chronologie der Lautentwicklung in den italischen Dialekten«.[1] Diese zeigt ihn als strengen »Junggrammatiker«, der die Ausgliederung der italischen Dialekte strikt auf der Grundlage der internen Rekonstruktion vornimmt, in dem publizierten Teil der Dissertation in Hinblick auf die silbenstrukturellen Änderungen (Synkopierungen/Epenthesen), die dem gemeinitalischen (Anfangs-)Akzent geschuldet sind und eine sorgfältige Differenzierung nach den phonotaktischen Faktoren verlangen (bei Sonoranten anders als bei Okklusiven sonst). Detailliert diskutiert er kritische Einzelerscheinungen (z.B. eine vorgebliche Entwicklung von Oskisch -ns → f, S. 136-139). Grundsätzlich wendet er sich gegen eine dogmatische Sichtweise im Sinne von Stammbäumen und argumentiert mit der Verteilung von sprachlichen Erscheinungen im Sinne einer Diffusionstheorie.
1922 (im gleichen Jahr wie die Promotion) wurde er in Heidelberg in der Semitistik aufgrund einer philologischen Untersuchung zu einem gnostischen Text habilitiert: »Die Schatzhöhle. Überlieferung und Quellen«,[2] in dem die Kontroverse einer jüdisch-christlichen Position mit dem orthodoxen Judentum ausgetragen wird (in Bezug auf die Kosmogonie, vor allem in Hinblick auf die Figur Maria). G. rekonstruiert die komplexe Überlieferung dieses syrischen Textes aus dem 4. Jhd., vor allem in Hinblick auf die spätere Überlieferung in arabischen Texten (seit dem 9. Jhd.) sowie in äthiopischen Quellen. Neben formalen Fragen, die die relative Chronologie der Manuskripte zu bestimmen erlauben, diskutiert er ausführlich die ideengeschichtlichen Zusammenhänge in den verschiedenen Versionen, sowohl die griechischen Vorlagen wie die textlichen Veränderungen in den späteren Rezeptionen.
Bereits in der Dissertation hatte er schon auf das Hethitische bei der vergleichenden Rekonstruktion zurückgegriffen, das sein späteres Hauptarbeitsgebiet wurde. Diese Schwerpunktverlagerung deutete sich auch schon im gleichen Jahr an, als er 1922 einen Aufsatz »Akkadisch-Hethitisches« veröffentlichte,[3] in dem er die Bilinguen aus den Funden von Boğazköy edierte und erläuterte, wobei er die Möglichkeit der Rekonstruktion dieser fragmentarischen Überlieferungen als Indiz dafür nimmt, daß die Deutung des Hethitischen gesichert ist. Im einzelnen nutzt er vor allem auch Dubletten in diesen Fragmenten, um die phonetische Leseweise von sonst nur ideographisch überlieferten Formen zu sichern.
In Heidelberg lehrte er Altorientalistik i. S. seines Lehrers Carl Bezold, dessen nachgelassenes akkadisches Wörterbuch er 1926 auch herausgab (»Babylonisch-assyrisches Glossar«), das in der Folgezeit angesichts des rudimentären Stands der akkadischen Lexikographie (s. Textband, Kap. 2.1) zu einem Standard-Studienwerk wurde. In Heidelberg wurde er 1927 a.o. Professor, 1930 Ordinarius für Orientalistik in Marburg.
Bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hatte er sich mit pazifistischen Äußerungen (mündlich, aber auch gedruckt) Angriffe von rechts eingehandelt; in den 20er Jahren hatte er dann öffentlich gegen die Nationalsozialisten Stellung bezogen und war Anfang der 30er Jahre in Heidelberg gegen die Nazi-Agitation aufgetreten, die in Heidelberg gegen E. Gumbel gerichtet war (die Solidaritätserklärung hatte er ebenfalls unterzeichnet, s. dazu auch Heiber 1991: 81).
Als Weltkriegsveteran war er zunächst noch vor rassistischen Sanktionen geschützt,[4] nicht aber vor einer Verfolgung als politischer Gegner, die auch im Herbst 1933 exekutiert wurde (nach § 4 des Beamtengesetzes). G. war den Konsequenzen zuvorgekommen, indem er im Sommer schon nach Dänemark gereist war, wo er mit Holger Pedersen zusammenarbeitete (eine gemeinsame Edition und Kommentierung eines hethitischen Textes erschien 1934 in Kopenhagen). G. verdankte seine ausgesprochen erfolgreiche Emigrationskarriere Indogermanisten, die seine Autorität als Hethitologen schätzten und ihn einluden: im Anschluß an Kopenhagen zu einer Gastprofessur im Herbst 1934 in Oslo, schließlich noch im gleichen Jahr nach Yale (wo er mit E. H. Sturtevant gemeinsam hethitologische Werke verfaßte). In Yale blieb er: bis 1936 als Gastprofessor, dann auf einer regulären Professur bis zur Emeritierung 1965 – mit dem Lehrauftrag für Assyriologie. Seine sprachfamilienübergreifende Forschungs- und Lehrtätigkeit spiegelt sich deutlich in dem von ihm 1946 geschaffenen und bis 1968 herausgegebenen Journal of Cuneiform Studies, erschloß er doch mit seinen Arbeiten einen Kulturverbund, der nicht durch eine gemeinsame Sprache (erst recht nicht im Sinne ethnischer oder sonst wie fundamentalistischer Prämissen), sondern durch eine gemeinsame Schrift definiert war.
Dieses Interesse bestimmte seine Forschungen von Anfang an. Seine indogermanistische Ausbildung nutzte er auf dem neuentdeckten Feld des Hethitischen,[5] wo er bald durch eigene Umschriften und Editionen (so die insgesamt sechs Bände von »Urkunden« aus den Boğazköy-Ausgrabungen aus dem Berliner Museum, die er 1926 bis 1933 publizierte)[6] zu einer aus dem halben Dutzend damaliger Autoritäten wurde; seine sprachwissenschaftlich akribisch aufbereiteten, bei Interpretationsschwierigkeiten mit kulturgeschichtlichen Erläuterungen versehenen Ausgaben in der von Ferdinand Sommer herausgegebenen Reihe »Hethitische Texte«, 1925ff., setzten Standards (die letzte erschien 1933: »Die Annalen des Muršiliš«, wie die vorausgehenden in den »Mitteilungen der vorderasiatisch-ägyptischen Gesellschaft«).[7]
Daß für G. die sprachwissenschaftliche (vergleichende) Methodologie das Handwerkszeug für seine kulturwissenschaftliche Forschung bildete, nicht aber deren Horizont begrenzte, machen seine im weiteren Sinne kulturgeschichtlichen Arbeiten deutlich, die sich auf eigene Feldforschungen (insbes. Teilnahme an archäologischen Expeditionen) stützten: in diesem Sinne hat er zahlreiche Handbuchdarstellungen verfaßt, so auch die für ein allgemeines Publikum bestimmte (und ausgiebig mit Karten und fotografischen Abbildungen versehene) »Hethiter, Churriter und Assyrer. Hauptlinien der vorderasiatischen Kulturentwicklung im II. Jahrtausend vor Chr. Geb.«[8] (auf der Grundlage seiner Gastvorlesung in Oslo), zwar »den skandinavischen Freunden« gewidmet, aber außer dem Hinweis »Die Umstände, unter denen sie (sc. die Einladung zu diesen Gastvorlesungen, U.M.) erfolgte, machen mir den Aufenthalt in Oslo doppelt unvergeßlich« (Vorwort, S. 4) ohne Kommentar zu seiner Emigrantensituation.
Die Rekonstruktion der kulturellen Verhältnisse hat er monographisch vertieft, so etwa das »geographische Weltbild«: die implizite Topographie der hethitischen Texte durch eine etymologische Rekonstruktion der dort zu findenden toponymischen Termini (»Kleinasien zur Hethiterzeit. Eine geographische Untersuchung«).[9] Seine kommentierende Edition der Texte war sensibel für deren kulturelle Artikulation nicht zuletzt durch eine sorgfältige Stilanalyse, die ihm durch seinen Zugang zu einem ausgedehnten Vergleichsmaterial möglich war.
Seine Ausreise nach Dänemark 1933 war für ihn eine Zäsur: bereits hier änderte er die Schreibweise seines Namens in Goetze. In den USA fühlte er sich von vornherein zuhause: schließlich war er auch nicht als Bittsteller ins Land geflüchtet, Sturtevant, selbst einer der Sprachwissenschaftspäpste, hatte ihn gebeten. So war er mit seinem beeindruckenden kulturwissenschaftlichen Hintergrund, den er mit methodisch-akribischen sprachwissenschaftlichen Studien unterbaut hatte, von Anfang an eine Autorität in der amerikanischen philologischen Szene; 1940 ließ er sich einbürgern. In Yale war er im Zentrum der damaligen methodologischen sprachwissenschaftlichen Diskussionen (s. bei Sapir), die er für seine eigenen altorientalistischen Arbeiten nutzbar machte. Er war ein aktives Mitglied der LSA, lehrte in den Linguistic Instituts der LSA und publizierte in Language. 1946 wurde er zum Präsidenten der LSA gewählt – zu einem Zeitpunkt, als die strukturale Orthodoxie sich dort etablierte (Bernhard Bloch war seit 1940 Herausgeber von Language) und als die meisten Emigranten mit materiellen und kulturellen Integrationsproblemen zu kämpfen hatten (s. bei Spitzer zu dessen Kontroversen im gleichen Jahr!). G. nahm denn auch selbstbewußt an den öffentlichen Auseinandersetzungen der amerikanischen Sprachwissenschaftler teil und qualifizierte deren methodologische Verselbständigung recht abfällig. Umgekehrt waren seine Arbeiten aber für einige der späteren »harten« Strukturalisten Referenzwerke in ihren frühen Karrierearbeiten, so etwa in den vergleichenden altsemitistischen Arbeiten von Zellig Harris. Als Leiter der Forschungseinrichtungen der »American Schools of Oriental Research«, der Baghdad School, organisierte er nicht nur seit 1955 Ausgrabungen im Irak, sondern beteiligte sich mit der gleichen Begeisterung an der epigraphischen Bearbeitung der Befunde vor Ort wie an der Auswertung und Publikation der Ergebnisse.
Sprachwissenschaftlich genau kontrollierte Analysen waren für ihn bei der ungeheuren Menge an von ihm edierten Texten immer nur ein Weg zum Erschließen der alten vorderasiatischen kulturellen Verhältnisse. So stehen in seinem Werk (das Schriftenverzeichnis führt insgesamt 369 Titel auf) neben Detailstudien immer auch kulturgeschichtliche Synopsen. Seine geplante große altbabylonische Grammatik hat er nicht mehr vollenden können.
In der gleichen Souveränität, mit der er sich in der US-Szene bewegte, führte er wohl auch seine Beziehungen zu deutschen Kollegen fort, z.B. zu seinem früheren Mentor Ferdinand Sommer, s. etwa seinen Beitrag »Hittite Dress« in der Festschrift für diesen,[10] wo er die weitgehend nur ideographisch überlieferten Kleidungsbezeichnungen auf ihre hethitische Interpretation überprüft (mit einer souveränen Kombination von kulturgeschichtlichen und sprachinternen, z.B. syntaktischen Gesichtspunkten). Anders war es in seinem Verhältnis zu deutschen Institutionen. Als die Universität Marburg ihn nach dem Weltkrieg wieder berufen wollte, zudem ohne die politische Vorgeschichte (seine Entlassung) zu thematisieren, lehnte er das schroff ab (Jakobsen, Q). Seit seiner Einreise in die USA publizierte er nie wieder auf deutsch (trotz offensichtlicher Probleme, im Englischen zuhause zu werden). Auch seine wissenschaftlichen Vorträge, ggf. sogar in Deutschland, hielt er auf englisch. Das hinderte ihn aber nicht daran, regelmäßig in Deutschland seine Ferien zu verbringen. Bei seinem letzten Ferienaufenthalt im Sommer 1971 verstarb er nach einem Herzschlag.
Q: LdS: permanent; DBE 2005; Nachrufe von Hans G. Güterbock in: A. Orientf. 24/1973: 243-245; Th. Jakobsen in: Bull. Amer. School Orient. Research 206/1972: 3-6; J. J. Finkelstein in. J. Amer. Orient. Soc. 92 (2)/1972: 197-203; R. Oberheid in: http://www.hethitologie.de/Hethitologie.de/Goetze,_Albrecht.html (Jan. 2009); Bibliographie: J. J. Finkelstein in: J. Cuneiform St. 26 (1)/1974; Hinweise auf seine Position in den USA von K. H. Menges und H. Penzl; Hanisch 2001.
[1] Auszugsweise abgedruckt (»Relative Chronologie von Lauterscheinungen im Italischen«) in: Idg. F. 41/1922: 78-149.
[2] SB Heidelberger AdW, Ph. Hist. Kl., Jg. 1922/4 (Heidelberg: Winter 1922) – die Arbeit hatte er im November 1922 vorgelegt.
[3] In: Z. f. Assyriologie 34/1922: 170-188.
[4] Kaznelson 1962: 1049 vermerkt zwar, daß G. zu Unrecht als Jude betrachtet wurde, er bekannte sich aber offensichtlich zur mosaischen Religion, s. Drüll 1986.
[5] Das erst kurz vorher mit Hroznys 1917 publizierter Entzifferung der Forschung zugänglich geworden war.
[6] Zu dem nicht spannungsfreien Verhältnis zu den Fachkollegen am Berliner Museum, wo die Boğazköy-Quellen archiviert waren, s. Oberheid (Q).
[7] Hier: als Band 38, Leipzig: Hinrich.
[8] Oslo: Aschehoug 1936, erschienen als Bd. 17 der Publikationen des »Instituttet for sammenlignende Kulturforskning« in Oslo.
[9] Heidelberg: Winter 1924 – von J. Friedrich in seiner Rezension in Idg. F./Anzeiger 43/1926: 20f. als »Pionierarbeit« begrüßt.
[10] »Corolla linguistica«, (FS F. Sommer), Heidelberg: Winter 1955: 48-62.