Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz

Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen (Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz: Konstanz University Press 2022). Ausgerechnet der Autor, der uns 2009 in seinem Buch Kurven, Karten, Stammbäume mit originellen Anwendungsmöglichkeiten datengetriebener, messender Literaturwissenschaft die Augen geöffnet und Hoffnungen auf ganz andere Literaturgeschichten gemacht hatte,[1] bilanziert jetzt Verluste und »Illusions perdues«[2]: abgebrochen die Verbindung »zur großen theoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts« (9), der erhoffte »intellektuelle[] Schlagabtausch« (164) zwischen close und distant reading, Hermeneutik des Einzelgebildes und quantitativer Analyse fand nicht statt. Die »Lawine kleinerer Studien« blieb »ohne jede geistige Synthese« (165). »Die Literaturforschung wurde mathematisiert – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen« (ebd.). Und verloren ging auch ein Konzept der »Form« (9). „Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz“ weiterlesen

Barbara Picht: ABY WARBURG, DIE REPRODUKTION UND DAS ORIGINAL

Abb. 1: Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original, 04.09.–30.11.2020, Ausstellungsansicht, © Silke Briel / HKW

Bis Ende Oktober 2020 waren in Berlin zwei bemerkenswerte, aufeinander bezogene Ausstellungen zu sehen.[1] Unter dem Titel »Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne. Das Original« zeigte das Haus der Kulturen der Welt Warburgs Bilderatlas, wie ihn die Kuratoren Roberto Ohrt und Axel Heil anhand der letzten dokumentierten Version vom Herbst 1929 unter Nutzung von Warburgs originalem Bildmaterial wieder hergestellt haben. Eindrucksvoll wurden die 63 großen Tafeln mit insgesamt 971 Abbildungen in dem abgedunkelten Ausstellungsraum präsentiert, in der Aufstellung an die charakteristische Ellipsenform des Lesesaals der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) erinnernd (Abb. 1). Wer sich nach dem Besuch dieser Ausstellung auf einen spätsommerlichen Gang durch den Tiergarten machte, konnte anschließend in der Gemäldegalerie 50 der insgesamt etwa 80 Werke, die Warburg in den Bilderatlas aufgenommen hatte und die sich im Besitz der Staatlichen Museen zu Berlin befinden, im Original sehen. Darunter neben Gemälden auch Skulpturen, Münzen, Briefmarken und ein Reklameplakat. „Barbara Picht: ABY WARBURG, DIE REPRODUKTION UND DAS ORIGINAL“ weiterlesen

Carlo Ginzburg: GERTRUD BING ÜBER ABY WARBURG UND EINE PHILOLOGIE DER ÜBERLIEFERUNG

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Habent sua fata libelli, »Bücher haben ihre Schicksale.« – Diese oft zitierten Worte des lateinischen Grammatikers Terentianus Maurus lassen sich auch auf ein ungeschriebenes Buch beziehen: die Biographie Aby Warburgs, an der seine Assistentin Gertrud Bing bis an ihr Lebensende gearbeitet hat. Ihr unvollendetes Projekt wurde später von Ernst Gombrich wieder aufgegriffen, der damit seine Dankbarkeit gegenüber Bing zum Ausdruck brachte. Der große Wiener Kunsthistoriker hat es dann zu Ende geführt, mit stupender Gelehrsamkeit, aber nur begrenzter intellektueller Sympathie für den, der Objekt dieser Biographie war.[1] Ganz entgegen Gombrichs Absicht hat das Buch eine wahre Warburg-Renaissance ausgelöst, die bis heute andauert. Man könnte also sagen, dass Bings Projekt Erfolg beschieden war, wenn auch auf verschlungenen und unvorhersehbaren Wegen. „Carlo Ginzburg: GERTRUD BING ÜBER ABY WARBURG UND EINE PHILOLOGIE DER ÜBERLIEFERUNG“ weiterlesen