Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz

Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen (Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz: Konstanz University Press 2022). Ausgerechnet der Autor, der uns 2009 in seinem Buch Kurven, Karten, Stammbäume mit originellen Anwendungsmöglichkeiten datengetriebener, messender Literaturwissenschaft die Augen geöffnet und Hoffnungen auf ganz andere Literaturgeschichten gemacht hatte,[1] bilanziert jetzt Verluste und »Illusions perdues«[2]: abgebrochen die Verbindung »zur großen theoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts« (9), der erhoffte »intellektuelle[] Schlagabtausch« (164) zwischen close und distant reading, Hermeneutik des Einzelgebildes und quantitativer Analyse fand nicht statt. Die »Lawine kleinerer Studien« blieb »ohne jede geistige Synthese« (165). »Die Literaturforschung wurde mathematisiert – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen« (ebd.). Und verloren ging auch ein Konzept der »Form« (9).

Bei der ›verlorenen Form‹ stutzt man erst einmal. Denn kaum einem Begriff wurde im vergangenen Jahrzehnt in den Literatur- und Kulturwissenschaften mehr Aufmerksamkeit geschenkt.[3] Die zahlreichen Ausprägungen dieser Form-Obsession sind sicher zu vielgestaltig, um sie auf einen Nenner zu bringen. Doch mit Blick auf die besonders intensiv und auch kontrovers rezipierte Studie Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network (2015) von Caroline Levine[4] kann man festhalten, dass sich das jüngere Interesse an der Form einem Ungenügen an der Reduktion von Literatur auf ihre Inhalte oder Themen verdankt. Gerade der gesellschaftlichen und sozialen Dimension der Kunst will man mit der Form auf neue Weise habhaft werden. Ein erweiterter Formbegriff soll den Königsweg zur sozialen und historischen Dimension des Kunstwerks bahnen. Diese Rückbesinnung auf die Form von Literatur ist überraschend und neu, weil die Beschäftigung mit Form lange als ahistorisch und unpolitisch galt.

Der Lukács- und Spitzer-Leser, Marxist und Morphologe Moretti hatte solche Rückbesinnung nie nötig. Lange vor ›Neuen Formalismen‹ und quantitativen Methoden war Form für ihn die zentrale Kategorie der Literaturwissenschaften, weil in ihr die »wahrhaft soziale Dimension der Literatur« (9) stecke: Künstlerische Form ist Arbeit an der Wirklichkeit, Kampf um Organisation und, mit einem Wort Aby Warburgs, »›antichaotisch[]‹« (89), sie unterwirft historisches Material der Umgestaltung. Aber die Widerstände, denen diese Intervention ausgesetzt ist, haben ebenfalls Anteil an der Form. Mit dem Biologen Wentworth D’Arcy Thompson, dessen Studie On Growth and Form (1917) Moretti immer schon gerne zitiert hat, ist jede Form auch ein Parallelogramm der auf sie einwirkenden Kräfte (vgl. 41). Die Form ist also die Schnittstelle zwischen historischen Kräften, die auf sie einwirken, und dem gestaltend-umwandelnden Eingriff: Schauplatz eines Kampfes zwischen Kräften und Gegenkräften. Diese »antagonistische Qualität« der Form (89), die aus ihr ein Indiz, einen »Fingerabdruck der Geschichte« macht,[5] gehe jedoch in den quantifizierenden Methoden des topic modelling und data mining, die Texte »wie ›Wortsäcke‹« analysieren (9 u.ö.), auf verschiedenen Ebenen verloren.

Diese Verfahren unterbrechen und suspendieren zunächst den Bezug zur Formerfahrung in der Lektüre eines Einzelgebildes. Und das ist für einen analog geschulten und brillanten Leser wie Moretti durchaus ein Problem (vgl. 157). Die Aufgabe, aber auch die Chance statistischer Verfahren besteht jedoch nun einmal darin, eine komplexe Struktur mit vielen Elementen und Beziehungen auf wenige Merkmale zu reduzieren, um so gleichsam synthetisch eine Form zweiter Ordnung zu generieren, die über große Textmengen und Zeiträume hinweg beobachtet werden kann. Mit anderen Worten: In den DH wird Hamlet nicht nur nicht gelesen, sondern Hamlet wird ›gemacht‹ (47), d.h. durch strategisch bestimmte Reduktion, Selektion und Abstraktion formaler Merkmale analysierbar und sogar simulierbar gemacht (vgl. das Kapitel zur »Simulation dramatischer Netzwerke«).

Neben der verführerischen Verfügbarkeit von immer mehr Daten spielen bei der Anwendung statistischer Verfahren die unverzichtbaren Visualisierungsstrategien häufig eine fatale Rolle. Das wird im fünften von insgesamt sechs Kapiteln anhand einer Metanalyse zu »Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften« gezeigt (verfasst gemeinsam mit Oleg Sobchuk). Auf den inzwischen vertrauten Wimmelbildern mit den vielen mehr oder weniger dicht geclusterten Punkten schafft der Trend in Gestalt der Trendlinie Klarheit. Deren Problematik erhellt eine Studie zur durchschnittlichen Einstellungslänge in Filmen der vergangenen hundert Jahre.[6] Der sichtbare Trend zur kürzeren Dauer ›beweist‹ schrumpfende Aufmerksamkeitsspannen. Verborgen bleibt der Umstand, dass die US-amerikanische Action-Film-Industrie andere Filmgattungen sukzessive vom Markt verdrängt hat. Die Dominanz dieses auf kurze Einstellungen abonnierten Genres steckt hinter dem Trend. Die schöne Linie kaschiert bzw. verleugnet überdies deutlich sichtbare Sprünge in der Entwicklung. Moretti fragt: »Sehen sie ihre eigenen Daten nicht? Natürlich sehen sie sie; Trendlinien haben aber verändert, wie wir sehen« (123). Mit der Trendlinie haben wir »eine Möglichkeit gefunden«, das zu »übersehen«, was »durch die Dominanz des Kanons« verdeckt wird (ebd.).

Natürlich weiß Moretti, dass nicht nur Datenvisualisierungen anfällig für solche Interpretationsfehler sind. Auch hermeneutische Interpretationen schießen beim Versuch, durch den interpretierenden Rückbau der Form – Moretti bezeichnet das Verfahren als »Reverse Engineering« (28) – die historische Welt (wieder) zu entdecken, der das Kunstwerk und seine Form entstammen, oft genug über ihre Daten hinaus und verlegen sich aufs Fabulieren. Dass hermeneutische und statistische Methode noch in ihren Irrtümern divergieren, liegt an der Inkompatibilität der Welten, in denen sie operieren: »Die Interpretation bewegt sich zwischen Form und Welt« (30), also in der Vertikalen. Die Quantifizierung bewegt sich immer nur zwischen Form und Form, also auf der Horizontalen: »Es sind entgegengesetzte Impulse. Dionysos, Apollo. […] Beides große Leidenschaften. Doch zu exklusiv, um ihre Kräfte auf ein gemeinsames Ziel hin zu bündeln« (30f.). Aber wie hieß es bei Nietzsche? »Und siehe! Apollon konnte nicht ohne Dionysus leben!«[7] Ergebnis ihrer Kollaboration war das Wunderwerk der attischen Tragödie. Und in der Tat, auch wenn die Königskinder der Hermeneutik und der statistisch-quantitativen Literaturwissenschaft »nicht wechselseitig in ihre jeweilige Arbeit eingreifen« (31) können, scheint ihre komplementäre Ergänzung zu wundersamen Zwecken möglich.[8]

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Morettis Buch bilanziert also nicht nur Verluste, sondern macht auch eine Gegenrechnung auf. Die versammelten Best-of-Praktiken erheben den Anspruch, den dokumentierten Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre etwas entgegenzusetzen. Sie wollen Wege zu einer fruchtbaren Koexistenz von close und distant reading weisen. In einer im fünften Kapitel angeführten Dostojewski-Studie wurde beispielsweise die »Lautstärke« der Figuren ›gemessen‹ nach Maßgabe der ihren Aussagen von der Erzählstimme attribuierten Verben »schreien«, »sagen« und »flüstern«. Heraus kam eine Art Partitur von Dostojewskis Romanen, die Bachtins Formkonzept der Polyphonie eindrucksvoll bestätigt (vgl. 133). Morettis Begeisterungsfähigkeit für empirische Verifikation oder »Operationalisierung« (137 u.ö.) ästhetischer Kategorien ungeachtet, ist allein die Bestätigung dessen, was man schon vorher wusste, etwas dürftig. Gleichwohl erhellt das Beispiel sowohl die praxeologische Dimension von Morettis Auseinandersetzung mit Glanz und Elend der digitalen Methoden wie auch den hohen Stellenwert, den ästhetische Theoreme und Formkonzepte bei ihm genießen.

Das in dieser Beziehung vielleicht aufregendste, weil Theorie nicht bloß bestätigende, sondern sie erweiternde Beispiel für die Operationalisierung eines theoretischen Konzeptes liefert das vierte Kapitel zu Aby Warburg, das Moretti zusammen mit Leonardo Impett verfasst hat. Wie D’Arcy Thompson und Moretti selbst war auch Warburg ein passionierter Morphologe. Sein berühmter Bilderatlas Mnemosyne galt dem Versuch, über Zeiten, Gattungen und Formate hinweg wiederkehrende figürliche Bewegungsmuster zu identifizieren, die er Pathosformeln nannte. Was das sei, wollten Moretti und sein Team genauer wissen. Und warum Warburg von Formeln statt von Formen sprach, haben sie bei der Arbeit auch herausgefunden. Wenn Formen gelernt haben, sich zu replizieren, werden daraus Formeln, die von Menschen und Maschinen problemlos wiedererkannt werden, obwohl es weder den einen noch den anderen gelingt, die innere Logik der wahrgenommenen Familienähnlichkeiten verbindlich zu formulieren (vgl. 89).

Moretti und sein Team unternahmen also den abenteuerlichen Versuch, Pathosformeln zu ›messen‹. Zu diesem Zweck waren Hunderte bewegter Gestalten auf den 63 Tafeln von Warburgs Atlas in eine statistisch analysierbare Form mit für Algorithmen hinreichendem Abstraktionsgrad zu verwandeln. Heraus kamen zwölf Strichmännchen mit Armen, Beinen und Rumpf, die aber immerhin den Gliederpuppen glichen, die ältere Maler bekanntlich oft zur Hand hatten. Daraus ergaben sich insgesamt elf verschiedene Winkelformationen der einzelnen Körperteile, die den Algorithmus auf die Spur von Pathosformeln setzen sollten. Und siehe da, der Algorithmus clusterte richtig; er ›erkannte‹ die Pathosformeln, die Warburg auch schon erkannt hatte. Jetzt schien der Weg frei für einen Atlas von sehr viel größeren Ausmaßen.

Das gemeinsame morphologische Merkmal, das der Algorithmus zum Clustern verwendet hatte, war die gleichzeitige Bewegung der Arme und Beine. Erwin Panofskys Gegenüberstellung von Pathosformeln und der Technik des Kontrapost leistete klärende Amtshilfe. Die durch Symmetrisierung im Kontrapost erreichte Einheit wird vom Pathos aufgebrochen; unter seinem Einfluss machen sich Beine und Arme gewissermaßen gegeneinander selbständig: »Es geht hier um Körper, die zugleich an zwei Fronten kämpfen« (105). Von einem Biomechaniker lernte das Team, dass es sich dabei um hochgradig instabile Posen handelt, denen auch der beste Tänzer keine Dauer verleihen kann. (Deshalb sehen die der Pathosformel »Nymphe« zugehörigen Figuren stets so aus, als würden sie gleich stolpern oder ihre Last verlieren.) Die andernorts entwickelte »LifeForms«-Software vermag diese instabilen Posen so ins Bild zu setzen, wie es natürlichen Körpern nie gelingen könnte. Fazit: Pathosformeln zerbrechen die Einheit und sprengen die anatomisch-physischen Möglichkeiten eines natürlichen Körpers mithilfe einer Dissonanz, über die der Körper mit sich selbst in Konflikt gerät (vgl. 106).

Dass man zu diesem Ergebnis auch auf konventionelle Weise gelangen kann, zeigt der in diesem Kapitel von Anfang an mitlaufende Aufsatz der Kunsthistorikerin Maria Luisa Catoni, die anhand eines einzelnen Bildes einer »Verzweifelte[n] Frau in Bewegung« denselben Effekt festgestellt und im Register der Rhetorik als »Oxymoron« des Körpers bezeichnet hatte (107). Das von ihr analysierte Bild findet sich in Warburgs Atlas nicht. Aber die verzerrte Haltung der verzweifelten Frau ähnelt einer von Warburg aufgenommenen Mänade, die der Algorithmus im Schaubild weitab von den anderen Figuren mit Pathosformeln platziert hatte: ein »absolute[r] Ausreißer« (108). Aber gerade dieser Ausreißer ist der vorgeschobenste Posten – die Avantgarde – und gibt der »kleine[n] Armee« (109) auf dem Schaubild die Richtung vor: »dass der-Körper-als-Oxymoron keine singuläre Anomalie ist, sondern die logische Entfaltung der inneren Struktur der Pathosformeln« (109).

Man kann fast nicht anders, als in dem Pathosformeln charakterisierenden Widerstreit der Gliedmaßen ein Emblem der auseinanderstrebenden Vektoren von close und distant reading zu entdecken. Durch sie geht dieselbe Dissonanz, die im Begriff der Pathosformel quasi hegelianisch punktuell aufgehoben erscheint. Denn ohne Cantonis Exegese wäre die Mänade am äußersten Rand des Schaubildes eine Anomalie geblieben. Ohne die Arbeit des Algorithmus nach Maßgabe der Strichmännchen wäre Catonis Lektüre singulär geblieben. Das eine erhellt das andere, und gemeinsam enthüllen sie Logik und inneren Zusammenhang aller Pathosformeln: »Und das ist genug« (109). Wechselseitige Erhellung der Methoden und besondere Aufmerksamkeit für Ausreißer sind entscheidend.[9] Beides hatte schon im zweiten Kapitel »Ausnahmen, Normen, Extremfälle« zu Carlo Ginzburg eine Rolle gespielt. Und auch im dritten Kapitel erweisen sich gerade die Fehler der Simulationen als aufschlussreich, weil sie Interpretationen herausfordern, die das Verfahren nicht mitliefert. Auch eingefleischte DH-Skeptiker werden sich vom Potential der Methoden überzeugen lassen, wenn sie so theorieaffin und kenntnisreich eingesetzt werden, dass sie sogar ein paar Rätsel von Warburgs Pathosformeln lösen helfen.

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Aber wo ist die Geschichte geblieben, der sich diese Formen und Formeln verdanken und der sie entstammen? Sie hat sich förmlich verflüchtigt. Hinter (oder auch: unter) dem so eindrücklich veranschaulichten Zusammenspiel (nicht: der Zusammenarbeit) von Hermeneutik und quantitativ-statistischen Methoden lauert jene Kluft, die Form und Geschichte trennt. Moretti schließt nicht aus, dass es sich dabei um eine »objektive Antinomie« handeln könnte (70). Denn auch als Kräftediagramm oder »Fingerabdruck der Geschichte« tendiert Form zur Statik; nur indem sie sich aus dem geschichtlichen Prozess herauslöst, wird sie überhaupt als Form erkennbar. Schon Goethe wollte schier daran verzweifeln, dass er die Übergänge von einer Form zur anderen nicht »rund herausbringen« konnte, weil wir die »unmerklichen Übergänge« weder wahrnehmen noch diskursiv darstellen können.[10] Bei Nietzsche heißt es: »[U]nser Intellekt ist zu stumpf, um die fortwährende Verwandlung wahrzunehmen: das ihm Erkennbare nennt er Form. In Wahrheit kann es keine Form geben, weil in jedem Punkte eine Unendlichkeit sitzt.«[11] Und Moretti weiß ebenfalls, »wie radikal sich die Morphologie, wenn sie ihrem Dämon folgt – und was ist Forschung anderes, als dem eigenen Dämon zu folgen? – aus der Geschichte zurückziehen kann« (70). »Es gibt keine Formen ohne Geschichte« (142). Und es gibt auch keine Geschichte ohne Formen. Aber wie Formen und Geschichte aufeinander bezogen werden können, bleibt ein Rätsel.

Morphologie und Geschichte: Das ist ein sehr langes, sehr abwechslungsreiches, zuletzt – aber vielleicht geht es ja gar nicht um das Letzte – immer aporetisches und zuzeiten auch abgründiges Kapitel, insbesondere in den Literaturwissenschaften. In ihm spielt Goethe eine wichtige Rolle, viele Biologen vor und nach D’Arcy Thompson. Auch Außenseiter wie der Wiener Paul Kammerer mit seinem Gesetz der Serie (1919) kommen darin vor, die russischen Formalisten, Gestalttheoretiker, die Germanisten André Jolles, Günther Müller, Horst Oppel und Eberhard Lämmert, Kunsthistoriker wie Warburg, Panofsky und George Kubler, Architekten wie Gilbert Simondon, Filmtheoretiker wie Siegfried Kracauer, Philosophen wie Ernst Cassirer und Hans Blumenberg.[12] Sie alle waren auf der Suche nach dem Kreuzungs- und Konvergenzpunkt, an dem die Form in einem antagonistischen Prozess geschichtlich emergiert, und haben dabei entweder die Form oder die Geschichte verloren.

Moretti beschließt das Buch im sechsten und letzten Kapitel mit einem Selbstrückblick: seine frühe Begegnung mit Fernand Braudel, seine hoffnungsfrohen Erwartungen an die quantitativen Methoden, die Aussichten auf eine »Literaturgeschichte ohne Texte« (20) in Analogie zu Wölfflins »Kunstgeschichte ohne Namen« – und dann die Desillusionierung angesichts der stattgehabten Entwicklungen. Es fehle, so resümiert Moretti, an der »wissenschaftlichen Phantasie […], die den Naturwissenschaften ihre grandiose intellektuelle Verwegenheit verleiht. Wenn wir doch nur so schöne Theorien hätten …« (166).

Geblieben ist dem enttäuschten Moretti sein unerschütterliches Vertrauen in die Phantasie der Naturwissenschaften. Das ist beim Marxisten Moretti unter Umständen verständlich, mit dem Morphologen verträgt es sich schlecht. Die Morphologie zählte nämlich noch nie zu den anerkannten naturwissenschaftlichen Ideen oder Theorien. Allenfalls als Hilfsdisziplin wird sie in einem breiten Fächerspektrum sowohl natur- wie humanwissenschaftlicher Provenienzen geduldet. Morphologen wie der tendenziell anti-darwinistische D’Arcy Thompson (der allerdings die Computer-Technik des Morphing vorwegnahm und auch die später validierte Theorie der Constraints evolutionärer Entwicklung),[13] waren keineswegs wohlgelittene Mitglieder der naturwissenschaftlichen Zunft. Carlo Ginzburg, auch er ein Morphologe, der mit seiner Mikrostudie zu Menocchio an dem einen Ende der methodischen Formanalysen angesiedelt ist, an deren anderem die quantitativen Verfahren liegen, hat jüngst noch einmal die morphologische Intuition betont, die ihn geleitet habe und oft jahrzehntelang auf empirische Substanziierung warten musste.[14] Morphologische Intuition ist kein naturwissenschaftliches Verfahren. Und wenn Moretti angesichts des berühmten Darwin-Diagramms über den Ursprung der Arten drei quantitative Studien anführt, bei denen man fast »Zeuge der Entstehung einer neuen kulturellen Art« sei (146), dann ist das kein Beweis für die »Verwegenheit« der Naturwissenschaften, sondern für die Macht morphologischer Intuitionen.

Nicht nur zwischen Morphologie und Geschichte klafft ein Bruch. Schon durch die Morphologie selbst geht ein Schisma. Wie Warburgs Pathosformeln war Morphologie stets ein Oxymoron und in sich gespalten. Sie war einerseits methodisch kontrollierte Reihenbildung und daneben immer auch Intuition, morphologische Schau, wie sie Kracauer noch geltend machte für die Aufgabe des Historikers, wenn er aus den erhobenen Daten der Vergangenheit so etwas wie Geschichte machen wollte.[15] Die Morphologie ist wirklich ein Dämon: »janusköpfig mit einem Antlitz der Zeitlichkeit und einem der Struktur zugewandt«.[16]

Aber das sind ›letzte Dinge‹, über die man unweigerlich ins Fabulieren gerät. Vorläufig wäre dafür zu sorgen, dass Morettis jüngstes Buch Pflichtlektüre für alle wird, die weiterhin besinnungs- und geistlos in die digitale Wende in den Literatur- und Geisteswissenschaften investieren.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

[1] Vgl. Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, übers. von Florian Kessler, Frankfurt a.M. 2009.

[2] Ders.: Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz 2022, S. 164. Weitere Zitate daraus werden durch Angabe der Seitenanzahl in Klammern im Fließtext nachgewiesen.

[3] Vgl. den Überblick im Einleitungskapitel von Eva Axer/Eva Geulen/Alexandra Heimes (Hg.): Aus dem Leben der Form. Studien zum Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2021, S. 7–40.

[4] Caroline Levine: Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton 2015. Zur Diskussion vgl. Eva Axer: »›Einfache Formen‹: Eine doppelte Perspektive auf Form. André Jolles, Caroline Levine«, in: Axer/Geulen/Heimes (Hg.): Aus dem Leben der Form (Anm. 3), S. 235–270.

[5] Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume (Anm. 1), S. 71.

[6] Die Bevorzugung des Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum ist übrigens auch ein Zeichen dafür, dass sich die Literaturgeschichte »nicht merklich verändert« hat (8) und viele ältere Annahmen und Usancen die Umstellung auf neue Verfahren unbeschadet überlebt haben.

[7] Friedrich Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, in: ders.: Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, München 1988, S. 9–156, hier S. 40.

[8] In dem aus den Sozialwissenschaften importierten Jargon spricht man auch von mixed methods approaches. Ob der zu einem entangled methods approach erweitert werden kann, hat Rabea Kleymann untersucht in »Datendiffraktion: Von Mixed zu Entangled Methods in den Digital Humanities«, in: ZfDGZeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Sonderband 5: Fabrikation von Erkenntnis – Experimente in den Digital Humanities (2021–2022). Über Formfragen habe ich mich mit Rabea Kleymann für den ZfL Podcast Bücher im Gespräch (Episode 9, 2022) unterhalten.

[9] Schon im Vorwort zu Morettis großer Studie über den Entwicklungsroman spielte das Motiv der imperfections eine wichtige Rolle; vgl. Franco Moretti: The Way of the World. The Bildungsroman in European Culture, London 2000, S. xii. Im Übergang zum distant reading zerfiel allerdings die im Zeichen der morphologischen Bricolage hergestellte Äquivalenz von Einzelwerk, Gattung und Geschichte. Vgl. dazu Eva Geulen: »Formen der Zeit in Geschichtstheorie und Literaturforschung. Wilhelm Dilthey, Siegfried Kracauer, Hans Jonas, Hans Blumenberg/Günther Müller, Horst Oppel, Eberhard Lämmert, Franco Moretti«, in: Axer/Geulen/Heimes: Aus dem Leben der Form (Anm. 3), S. 271–317, hier S. 316.

[10] Vgl. Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016.

[11] Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften, Bd. III, Schriften der Studenten- und Militärzeit 1864–1868, hg. von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta, München 1994, S. 387.

[12] Vgl. Axer/Geulen/Heimes: Aus dem Leben der Form (Anm. 3).

[13] Vgl. Stephen Jay Gould: »D’Arcy Thompson and the Science of Form«, in: New Literary History 2.2 (1971), S. 229–258.

[14] Vgl. Carlo Ginzburg: »Medals and Shells. On Morphology and History, Once again«, in: Critical Inquiry 45.2 (2019), S. 380–395.

[15] Vgl. Eva Geulen: »Morphologie in der Geschichtstheorie nach 1945. Zum Verhältnis von Epochen und Chronologie bei Kracauer, Kubler und Blumenberg«, in: Timothy Attanucci/Ulrich Breuer (Hg.): Leistungsbeschreibung/Describing Cultural Achievements. Literarische Strategien bei Hans Blumenberg/Hans Blumenberg’s Literary Strategies, Heidelberg 2020, S. 199–210.

[16] Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume (Anm. 1), S. 25.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Distant Reading Up Close: Moretti zieht Bilanz, in: ZfL Blog, 25.11.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/25/eva-geulen-distant-reading-up-close-moretti-zieht-bilanz/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221125-01