So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen. „Lukas Laier: EDIEREN AUS DEM NACHLASS. Zur Werkausgabe Hermann Borchardts“ weiterlesen
Schlagwort: Weltliteratur
Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME
Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.[1] „Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME“ weiterlesen
Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen
I.
Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm Solaris. Auf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen ›besucht‹, die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station.
Ich hatte das Glück, bei der einmaligen Filmvorführung dabei zu sein.[1] Aus der DDR kommend, war ich damals Studentin der russischen Sprache und Literatur an der Lomonossow-Universität und wohnte im Wohnheim in einem Seitenflügel des markanten Stalinhochhauses auf den Sperlingsbergen, die damals Leninberge hießen. Das genaue Datum vermag ich nicht mehr zu rekonstruieren. Der Kinoabend ist mir allerdings schon durch seine ungewöhnlichen äußeren Umstände in Erinnerung geblieben. An Eintrittskarten gelangten meine Freunde und ich nur, weil die russische Freundin eines DDR-Promotionsstipendiaten an der Kasse aushalf. Der Andrang unmittelbar vor der Aufführung war enorm. Im Innern, im Vestibül des Kulturhauses, das sich im Hauptgebäude befindet, versuchte berittene Miliz der von außen immer weiter nachdrängenden Massen Herr zu werden. Ihr Anblick erschreckte mich, obwohl kaum mehr als ein oder zwei Pferde in den Raum gepasst haben konnten. „Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen“ weiterlesen
Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES
Der Nachlass des 1961 gestorbenen Louis-Ferdinand Céline war das Ereignis im literarischen Frankreich der letzten Monate. Neben der Tatsache, dass Célines Vulgarität und sein Antisemitismus unverändert zum Skandal taugen, dürften dazu auch die absonderlichen Begleitumstände beigetragen haben, unter denen dieser Nachlass ans Licht kam.[1] Als zeitweiliger Nazi-Sympathisant hatte Céline 1944 die Flucht aus Paris ergriffen und dabei umfangreiche Manuskriptkonvolute zurückgelassen, die jahrzehntelang als verschollen galten. Céline selbst war fest davon überzeugt, sie seien ihm gestohlen und möglicherweise auf dem Flohmarkt verkauft worden.[2] „Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES“ weiterlesen
Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović
Die Prominenz ist anwesend
Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett.[1] Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. Die Szene beginnt in ihrem Schlafgemach am Morgen ihres Todes. Nach einigen Minuten schlägt die Verstorbene ihre Augen auf, womit die Darstellerin eine immense Körperbeherrschung demonstriert, denn zuvor lag sie so regungslos, dass man nicht sicher sein konnte, ob sich unter der Totenmaske tatsächlich eine Performerin verbarg. Sie muss mehrfach in das direkt auf ihr Gesicht gerichtete Scheinwerferlicht blinzeln, verzieht aber ansonsten keine Miene. Minutenlang ist dieses Blinzeln die einzig wahrnehmbare Bewegung in dem großen Bühnenraum, während uns eine Tonspur mit dem Bewusstseinsstrom der Verstorbenen konfrontiert. „Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović“ weiterlesen
Brett Winestock: MUSEUMS OF SHAME: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance
In early 1944, shortly after the liberation of Kyiv, the Yiddish poet Dovid Hofshteyn (1889–1952) returned home from evacuation and was confronted firsthand with the horrors of the Holocaust. This encounter moved him to pen the passionate essay Muzeyen fun shand (Museums of Shame).[1] As a writer who had lived through pogroms and civil war, Hofshteyn was no stranger to expressing his reaction to violence and destruction through literature. When Nazi Germany invaded the Soviet Union in June 1941, he became a member of the Jewish Anti-Fascist Committee (JAC), a group largely made up of Soviet Jewish cultural figures whose work was meant to reach a Jewish audience both within and outside the Soviet Union. In an attempt to rally political, financial, and military support for the Soviet war effort, their work was regularly sent to Yiddish presses in the United States, Canada, and Great Britain but also as far as Argentina and South Africa. It was this position as a member of the JAC which made it possible for Hofshteyn to receive information from the front while he was evacuated, to write, and eventually, along with a group of other writers, return home and survey the devastation. „Brett Winestock: MUSEUMS OF SHAME: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance“ weiterlesen
David Anderson: THE ‘END OF HISTORY’ REVISITED: Christa Wolf’s ‘Kassandra’ and Jeanette Winterson’s ‘Sexing the Cherry’
In his article ‘The End of History?’, originally published in the journal The National Interest in Summer 1989, Frances Fukuyama argued that ‘the triumph of the West, of the Western idea, is evident first of all in the total exhaustion of viable systemic alternatives to Western liberalism.’[1] It was in this respect that history had reached its ‘end’: the course of history in the sense of ‘mankind’s logical evolution’ had arrived at ‘the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government’ (Fukuyama, p. 4). Despite all the suggestion of apocalypse in its title, Fukuyama’s essay is actually quite upbeat. The answer to all our problems is already here. And yet, in his final paragraph, he strikes a melancholy note: „David Anderson: THE ‘END OF HISTORY’ REVISITED: Christa Wolf’s ‘Kassandra’ and Jeanette Winterson’s ‘Sexing the Cherry’“ weiterlesen
David Anderson: ‘Novel-seeming goods’: RE-READING SALMAN RUSHDIE’S ‘MIDNIGHT’S CHILDREN’ AND PATRICK SÜSKIND’S ‘DAS PARFUM’ 40 YEARS LATER
In a 1984 essay, the American critic Fredric Jameson famously diagnosed postmodernism to be ‘the cultural logic of late capitalism’. Among its distinguishing features was a new mode of ‘aesthetic populism’ grounded in an
effacement […] of the older (essentially high-modernist) frontier between high culture and so-called mass or commercial culture, and the emergence of new kinds of texts infused with the forms, categories and contents of that very Culture Industry so passionately denounced by all the ideologues of the modern.[1]
A new alignment between the twin spheres of culture and the marketplace meant that ‘aesthetic production today has become integrated into commodity production generally’. Wherever one looked, one saw ‘the frantic economic urgency of producing fresh waves of ever more novel-seeming goods (from clothing to airplanes), at ever greater waves of turnover’ (Jameson, p. 56). „David Anderson: ‘Novel-seeming goods’: RE-READING SALMAN RUSHDIE’S ‘MIDNIGHT’S CHILDREN’ AND PATRICK SÜSKIND’S ‘DAS PARFUM’ 40 YEARS LATER“ weiterlesen
Dirk Naguschewski: Entwicklungshilfe 2.0? AFRIKANISCHES KINO IN BERLIN
Am letzten Tag der Veranstaltungsreihe Kizobazoba! im Berliner Humboldt Forum kam sie dann endlich, die provozierend, leicht nervös vorgetragene Frage aus dem Publikum an die südafrikanische Kino-Aktivistin Sydelle Willow Smith, wie sie sich denn damit fühle, dass sie eine Partnerschaft mit dieser doch so umstrittenen Einrichtung eingehe. Angesichts der Kontroversen um den richtigen Umgang mit geraubten Kulturgütern und so … Die Antwort war so entspannt wie souverän. Wo, wenn nicht an Orten wie diesem, ließe sich der Dialog über die komplizierten Beziehungen zwischen dem ›Globalen Norden‹ und dem ›Globalen Süden‹ besser führen? In nuce steckte in dieser Auseinandersetzung jedoch auch das Dilemma, in dem sich das afrikanische Kino seit Anbeginn befindet. Die Kunstform Film, das Kino als soziale Institution sind existenziell auf nicht unerhebliche Finanzmittel angewiesen. Wo es an Geld mangelt, hat es das Kino schwer. ›Kizobazoba‹ stammt übrigens aus dem Lingala und bedeutet so viel wie ›Mach das Beste draus!‹. „Dirk Naguschewski: Entwicklungshilfe 2.0? AFRIKANISCHES KINO IN BERLIN“ weiterlesen
Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. Highsmith und Houellebecq über Literatur
Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Romane. Beide sind recht umfangreich, und die Lektüreerfahrungen ähneln sich. Nach der Hälfte stellt sich ein Gefühl von Enge ein; die Lust, die Bücher zu Ende zu lesen, nimmt ab. Aber obwohl das Erzählte zeitweise in verfestigten Bahnen zu laufen scheint, die ausweglosen Abläufe und möglichen Szenarien in der Lektüre fast absehbar sind, bleibt die Neugier – denn das kann es nicht gewesen sein, nicht bei dieser Autorin, nicht bei diesem Autor. Ab einem gewissen Moment, eher im letzten Drittel der Texte, bricht die enge Alltäglichkeit des erzählten Lebens angesichts unerwarteter Geschehnisse dann auch tatsächlich zusammen. Spätestens mit den abschließenden Seiten müssen das gesamte Erzählgeschehen und seine zentralen Figuren neu bewertet werden. Bei den zwei Büchern handelt es sich um Patricia Highsmiths Ediths Tagebuch (engl. Edith’s Diary, 1977) und Michel Houellebecqs gerade erschienenes Vernichten (frz. Anéantir, 2022).[1] „Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. Highsmith und Houellebecq über Literatur“ weiterlesen