Clarice Lispector (1920-1977) gilt als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Während ihr umfangreiches Werk im angelsächsischen, lateinamerikanischen und französischsprachigen Raum mittlerweile im Kontext von Feminismus, Posthumanismus und postkolonialer Literatur diskutiert wird, ist die brasilianische Autorin im deutschsprachigen Raum nur Wenigen bekannt.[1] Das mag vor allem an veralteten, vergriffenen, zuweilen schlicht mangelhaften Übersetzungen liegen. Doch auch die Literaturkritik hat dazu beigetragen: Eine vorrangig biographische Lektüre hat Lispectors Romane und Erzählungen einerseits viel zu lange in Richtung ›Frauenliteratur‹ gerückt, andererseits wurde sie vorschnell als zu komplex bzw. unverständlich abgetan oder als ›hermetisch‹ verklärt.[2] Lispectors literarische Ausdrucksformen und ihr spezifischer Zugriff auf Sprache und Welt lassen sich mit derartigen Etiketten nicht fassen. „Pola Groß: SCHREIBEN UND LEBEN – CLARICE LISPECTORS CRÔNICAS“ weiterlesen
Schlagwort: Weltliteratur
Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024
»Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen und es wird Teil der Ceremonie.«
Franz Kafka: Tagebücher
Die intellektuelle Ausbeute literarischer Jubiläen und Gedenkjahre fällt in der Regel mager aus. Viel Nippes wird zu solchen Anlässen auf den Markt geworfen. Runde Geburts- oder Todestage von Schriftsteller*innen zeugen so oft unfreiwillig von jenem vielfach beklagten Prestigeverlust der Literatur, gegen den ihre mediale Verwertung gerade anzurennen versucht. Große Namen sind für diese Schieflage besonders anfällig, nur selten erscheinen zu ihren Jahrestagen ambitionierte Neudeutungen ihrer Werke. Es dominiert die gediegene Traditionspflege und ein mitunter verschmitzter Respekt – der schlimmste von allen. Aus diesen Gründen haben Gedenkjahre aber stets eine seismographische Funktion, denn an ihnen lässt sich ablesen, wo ihre Jubilar*innen und deren – oder gar die – Literatur öffentlich gerade stehen. Das Kafka-Jahr 2024 macht hier keine Ausnahme.[1] „Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024“ weiterlesen
Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges
Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. ›Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3] „Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges“ weiterlesen
Sandra Folie: ASPEKTE SCHWARZER GESCHICHTE(N) IN »BERLIN GLOBAL«. Eine Führungs- und Ausstellungsreflexion
Februar ist Black History Month[1] und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir – Gianna Zocco und Sandra Folie – im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung« besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen.[2] Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, »wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind«[3]. Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen.
Unter dem Titel »Sichtbar werden« führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch – miteinander, aber auch mit der Gruppe – durch die Spuren Schwarzer[4] Geschichte(n) in der Ausstellung.[5] Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung »sichtbar werden«, fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des narrating back und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums[6] begreifen lassen? „Sandra Folie: ASPEKTE SCHWARZER GESCHICHTE(N) IN »BERLIN GLOBAL«. Eine Führungs- und Ausstellungsreflexion“ weiterlesen
Lukas Laier: EDIEREN AUS DEM NACHLASS. Zur Werkausgabe Hermann Borchardts
So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen. „Lukas Laier: EDIEREN AUS DEM NACHLASS. Zur Werkausgabe Hermann Borchardts“ weiterlesen
Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME
Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.[1] „Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME“ weiterlesen
Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen
I.
Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm Solaris. Auf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen ›besucht‹, die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station.
Ich hatte das Glück, bei der einmaligen Filmvorführung dabei zu sein.[1] Aus der DDR kommend, war ich damals Studentin der russischen Sprache und Literatur an der Lomonossow-Universität und wohnte im Wohnheim in einem Seitenflügel des markanten Stalinhochhauses auf den Sperlingsbergen, die damals Leninberge hießen. Das genaue Datum vermag ich nicht mehr zu rekonstruieren. Der Kinoabend ist mir allerdings schon durch seine ungewöhnlichen äußeren Umstände in Erinnerung geblieben. An Eintrittskarten gelangten meine Freunde und ich nur, weil die russische Freundin eines DDR-Promotionsstipendiaten an der Kasse aushalf. Der Andrang unmittelbar vor der Aufführung war enorm. Im Innern, im Vestibül des Kulturhauses, das sich im Hauptgebäude befindet, versuchte berittene Miliz der von außen immer weiter nachdrängenden Massen Herr zu werden. Ihr Anblick erschreckte mich, obwohl kaum mehr als ein oder zwei Pferde in den Raum gepasst haben konnten. „Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen“ weiterlesen
Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES
Der Nachlass des 1961 gestorbenen Louis-Ferdinand Céline war das Ereignis im literarischen Frankreich der letzten Monate. Neben der Tatsache, dass Célines Vulgarität und sein Antisemitismus unverändert zum Skandal taugen, dürften dazu auch die absonderlichen Begleitumstände beigetragen haben, unter denen dieser Nachlass ans Licht kam.[1] Als zeitweiliger Nazi-Sympathisant hatte Céline 1944 die Flucht aus Paris ergriffen und dabei umfangreiche Manuskriptkonvolute zurückgelassen, die jahrzehntelang als verschollen galten. Céline selbst war fest davon überzeugt, sie seien ihm gestohlen und möglicherweise auf dem Flohmarkt verkauft worden.[2] „Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES“ weiterlesen
Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović
Die Prominenz ist anwesend
Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett.[1] Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. Die Szene beginnt in ihrem Schlafgemach am Morgen ihres Todes. Nach einigen Minuten schlägt die Verstorbene ihre Augen auf, womit die Darstellerin eine immense Körperbeherrschung demonstriert, denn zuvor lag sie so regungslos, dass man nicht sicher sein konnte, ob sich unter der Totenmaske tatsächlich eine Performerin verbarg. Sie muss mehrfach in das direkt auf ihr Gesicht gerichtete Scheinwerferlicht blinzeln, verzieht aber ansonsten keine Miene. Minutenlang ist dieses Blinzeln die einzig wahrnehmbare Bewegung in dem großen Bühnenraum, während uns eine Tonspur mit dem Bewusstseinsstrom der Verstorbenen konfrontiert. „Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović“ weiterlesen
Brett Winestock: MUSEUMS OF SHAME: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance
In early 1944, shortly after the liberation of Kyiv, the Yiddish poet Dovid Hofshteyn (1889–1952) returned home from evacuation and was confronted firsthand with the horrors of the Holocaust. This encounter moved him to pen the passionate essay Muzeyen fun shand (Museums of Shame).[1] As a writer who had lived through pogroms and civil war, Hofshteyn was no stranger to expressing his reaction to violence and destruction through literature. When Nazi Germany invaded the Soviet Union in June 1941, he became a member of the Jewish Anti-Fascist Committee (JAC), a group largely made up of Soviet Jewish cultural figures whose work was meant to reach a Jewish audience both within and outside the Soviet Union. In an attempt to rally political, financial, and military support for the Soviet war effort, their work was regularly sent to Yiddish presses in the United States, Canada, and Great Britain but also as far as Argentina and South Africa. It was this position as a member of the JAC which made it possible for Hofshteyn to receive information from the front while he was evacuated, to write, and eventually, along with a group of other writers, return home and survey the devastation. „Brett Winestock: MUSEUMS OF SHAME: Dovid Hofshteyn’s Vision of Holocaust Remembrance“ weiterlesen