Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME

Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.[1]

Es ist den Spielen eigen, dass sie Ausflüchte und »Gegenregion[en]« eröffnen können, dass sie ein »Abtasten von Möglichkeiten unter Wahrung einer geschlossenen Immanenz«[2] erlauben – oder schlicht: dass sie Experimentierräume sind. Dabei haben sie häufig bildende, wenn nicht sogar pädagogische Funktionen. Schon Alexander Gottlieb Baumgarten verschränkte Spiel und Übung im Kontext seiner Ästhetik. Spiele sind für ihn Teil der angeleiteten ästhetischen Übung, die die »Kraft« der »schönen Natur« vermehren soll,[3] zum Beispiel »wenn [ein Knabe] plaudert, wenn er spielt, vor allem, wo er Spiele erfindet oder ein kleiner Anführer unter seinen Spielgefährten ist und, mit rührigem Eifer dem Spiel gewidmet, schon ins Schwitzen kommt und vieles aushält«.[4]

Nicht nur Kinder durchlaufen herausfordernde Bildungsprozesse, wenn sie spielen. Noch weitreichender als Baumgarten fasst Schiller die Rolle des Spiels im Kontext ästhetischer Erziehung. Rund um die kanonische Stelle aus den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen – »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« – schreibt er: »[D]er Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen[5] Wie schon zuvor bei Kant und dessen Vorstellung vom freien Spiel‹ der Erkenntniskräfte ohne Begriff und Zweck wird die Untersuchung des menschlichen bzw. subjektiven Potentials von Schiller eng mit der Ästhetik verflochten. Bei Kant steht in diesem Zusammenhang das Naturschöne im Zentrum der ästhetischen Erfahrung, bei Schiller die hervorbringende ästhetische Praxis und damit die Kunst. Die ästhetische Erfahrung wird bei beiden zu einem entscheidenden Spielraum für die Ausbildung menschlicher Lebens- und Gesellschaftsformen.

Im 19. und 20. Jahrhundert tritt die Idee eines »Zwang[s] zum Spiel«[6] (Huizinga, Plessner) in den Vordergrund, genauso wie der gesellschaftliche Druck, Rollenerwartungen zu erfüllen. Gleichzeitg haben selbstauferlegte Zwänge und Regeln zentralen Anteil an der Lust am Spielen. Darauf verweist nicht zuletzt die umfangreiche Literatur, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Spiel widmet – wobei die Zahl entsprechender Abhandlungen bemerkenswerterweise mit derjenigen zur Diätetik konkurriert.[7] Der Zwang als integraler Teil des Spiels hat für Autor:innen bis heute poetologische Relevanz, zum Beispiel für Peter Handke: »Die Kunst ist das Große Spiel (es gibt natürlich viele kleine); oder besser: die Kunst ist das zwingende Spiel.«[8] Unschuldig und leicht zu haben ist das Spiel auch im ästhetischen Kontext nicht: »Viele können nur unernst spielen, und zerstören das Spiel; lieber will ich nicht spielen«,[9] schreibt Handke an anderer Stelle. Sich auf das Spielen einzulassen, führt außerdem nicht zwangsläufig in die Kunstproduktion, im Gegenteil: »Kunst, die im Spiel ihre Rettung vorm Schein sucht, läuft über zum Sport«,[10] konstatiert Adorno. Zwar befreie das Spiel die Kunst von Zwecken und unmittelbarer Praxis, aber es führe sie auch in die Regression, weil »Spielformen« stets »Wiederholung« seien.[11] Wer und was sich nur noch wiederholt und einmal gesetzten Normen blind folgt, wird unfrei.

Ernsthaftigkeit und selbstreflexiver Anspruch gehören zur Geschichte der Spiele ebenso wie der Spaß und die Lust an ihnen, nicht zuletzt, weil das Spielen ernsthafte Folgen haben kann. Dabei ist es immer auch eine Frage politischer oder ökonomischer Entwicklungen, wie im jeweiligen Kontext das Spielverhalten von einzelnen Akteur:innen oder Gruppen gedeutet wird. In Schlagwörtern wie ›Gamification‹ oder ›Serious Games‹ findet aktuell das Bewusstsein Ausdruck, dass man den ausgreifenden sozialen Einfluss von Spielen nicht unterschätzen sollte. Besonders deutlich wird das auch in Debatten um die Relevanz von Computerspielen sowie in den Sorgen und Ängsten, die sich mit der laufenden Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz – insbesondere der Large Language Models GPT3 bzw. GPT4 – verbinden. (Computer-)Spiele und KI-Entwicklung sind ihrerseits eng verflochten. Die Leistungsfähigkeit einer KI bemaß sich lange an ihren Erfolgen in Spielen wie Schach oder Go.[12] Heute artikuliert sich der moderne Kurzschluss von ästhetischer Fähigkeit zum Spiel (und damit zum Menschsein) in der Angst oder auch im Begehren, die Maschine könnte Literatur (bzw. Kunst) genauso gut wie oder sogar besser als ein menschlicher Autor produzieren. Das Zugeständnis, so gut zu spielen, dass dabei Kunst herauskommt, wäre in diesem Zusammenhang die höchste Nobilitierung, die der moderne Mensch aussprechen kann.

Aber so einfach ist es nicht. Es ist nie ein einzelner Akteur, weder Mensch noch KI, der oder die alleine spielt, und, wie man beispielsweise bei Adorno nachlesen kann, geht es (auch in der Kunst) nie allein ums Spielen. Entscheidend ist deshalb, welches Verständnis von Spiel man zugrunde legt, um daraus abzuleiten, ob ein Mensch oder eine KI ein ausgezeichneter Spieler ist – und welche Konsequenzen man aus dieser Fähigkeit ziehen möchte. Spiele sind immer eingebunden in einen sozialen Raum und eine Assemblage aus interagierenden Akteur:innen, zwischen denen sich die Spielpraxis konstituiert. Man könnte auch sagen: Ohne Interaktion existieren weder Spiel noch Spieler:innen. Konkurrenz und Wettstreit sind nur zwei mögliche Formen dieser Interaktionen. Die Frage, wer der oder die Bessere oder wer der »kleine Anführer« (Baumgarten) ist, stellt sich gar nicht bei jeder Form des Spiels. Spiele-Entwickler:innen haben das schon lang durchschaut. Abseits klassischer Gesellschaftsspiele wie Monopoly oder Mensch ärgere dich nicht gibt es komplexe, kooperative Spiele, in denen etwa gemeinsam gegen das Spiel gespielt wird. Man gewinnt zusammen oder gar nicht.

Vor diesem Hintergrund kann es auch erhellend sein, in den Blick zu nehmen, welcher Status Spielen in literarischen oder theoretischen Texten selbst zuwächst und welche Rolle Spiele in unterschiedlichen historischen Situationen einnehmen können – zum Beispiel bei der Wiederentdeckung von Gesellschaftsspielen in der Pandemie oder in den scheinbar spielerischen Formen ästhetischer Selbstinszenierung im Netz. Selbst und gerade im Spiel kann man das Spielen verlieren, wenn man Wiederholungszwängen unterliegt. Deshalb geht es in künstlerischen Arbeiten heute noch und wieder darum, Räume für neue (ästhetische) Erfahrungen offenzuhalten, indem zum Beispiel eine Sache spielerisch unter dem Blickwinkel einer anderen betrachtet wird: »Wie ließe sich, was hiermit folgte, umschreiben, wollte man ausschließlich vom Essen sprechen?«, fragt Teresa Präauer in ihrem jüngst erschienen Buch Kochen im falschen Jahrhundert und lässt als Antwort auf das selbstverordnete Rezept, nur vom Essen zu sprechen (und dabei wörtlich mit dem Essen zu spielen), eine Kaskade von Kirschen, Zitronen, Melonen, aber auch von »benutzten Teller[n]« und »Thunfischdosen« folgen, um vom perpetuierten Internet-Foodporn zu einer anderen Form des Begehrens zurückzufinden.[13]

In der vielstimmigen Literatur und Theorie zum Spiel wird vor allem deutlich, dass es nicht um den einzelnen Spieler und dessen Eigenschaften geht, sondern dass in Spielen kollektive Aushandlungsprozesse stattfinden: über Rollenzuschreibungen und Rollenerwartungen, über Aufgabenverteilung und Formen der Kollaboration, über den Rekurs auf Regeln, ihre Auslegung und Variation. In ihrem Umgang mit Spielen wird so nicht zuletzt ein Einsatz der Texte offenbar, sich zu diesen Aushandlungsprozessen zu verhalten und sie mitzugestalten. Dabei geht es besonders auch um unerwartete, geteilte Räume;[14] zwischen Poker- und Interface, im Spiel zwischen Tier, Mensch und KI, Lesenden und Schreibenden oder auch zwischen Literatur und Theorie. In diesen Zwischenräumen bewegen sich in diesem Jahr die ZfL-Literaturtage im Literaturhaus Berlin, die sich dem Thema ›Spiele‹ widmen – mit literarischen Lesungen und Gesprächen und nicht zuletzt einem gemeinsamen Spieleabend mit Autor:innen und Publikum.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«. Sie ist Mitveranstalterin der diesjährigen ZfL-Literaturtage im Literaturhaus Berlin, die unter dem Titel »Spiele« stehen. 

[1] Vgl. Tanja Wetzel: »Spiel«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, 577–618, hier 586; zum Spiel in der Literatur des Realismus im 19. Jahrhundert vgl. Stefan Willer: »Gesellschaftsspiele. Fontanes Irrungen, Wirrungen«, in: Peter Uwe Hohendahl/Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg, Berlin, Wien 2018, 123–141; sowie Dorothea Kühme: Bürger und Spiel. Gesellschaftsspiele im deutschen Bürgertum zwischen 1750 und 1850, Frankfurt, New York 1997.

[2] Helmuth Plessner: »Der Mensch im Spiel«, in: ders.: Conditio humana. Gesammelte Schriften VIII, hg. v. Günter Dux u.a., Frankfurt a.M. 22015, 307–313, hier 307 und 313.

[3] Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik, Bd.1, hg. u. übers. v. Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, 41.

[4] Ebd., 45.

[5] Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000, 62–63.

[6] Plessner, »Der Mensch im Spiel« (Anm. 2), 310.

[7] Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: »Mediale Anthropologie, Spiel und Anthropozentrismuskritik«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4.1 (2013), 133–148, hier 144. Deuber-Mankowsky verweist darin auf die Abhandlung von Moritz Lazarus, Die Reize des Spiels (1883), die sich eingangs mit der Popularität und dem Umfang der Literatur zu »Spiel« im Vergleich zur Literatur zu »Diätetik« befasst.

[8] Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts, Berlin, Darmstadt, Wien 1982, 215.

[9] Ebd., 227.

[10] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 192012, 154.

[11] Ebd., 469.

[12] Vgl. zur verflochtenen Geschichte von Computerspiel und KI: Gabriele Gramelsberger u.a.: »›Mind the Game!‹ Die Exteriorisierung des Geistes ins Spiel gebracht«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 21 (2019), 29–38, hier 29. 

[13] Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert, Göttingen 2023, 168.

[14] Gramelsberger u.a., »›Mind the Game!‹« (Anm. 12), 36.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Spiele und ihre Räume, in: ZfL Blog, 2.6.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/06/02/hanna-hamel-spiele-und-ihre-raeume/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230602-01

 

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