Falko Schmieder: SOZIODIZEE DES KAPITALISMUS

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Glossare zu Leitvokabeln der Gegenwart entstanden, auffällig oft konzipiert von Soziolog*innen. Mit diesem flexiblen Genre lässt sich auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen reagieren, die auch in der Sprache ihren Niederschlag finden. Die Transformationen der Semantik indizieren tiefgreifende Wandlungen kollektiver Wahrnehmungsweisen, Erwartungshaltungen sowie Zeitvorstellungen; ihre Analyse dient so einer historischen Selbstaufklärung der Gegenwart, die sich mit wachsender Geschwindigkeit selbst überholt und ins Präzedenzlose vorstößt. Armin Nassehis Buch zu gesellschaftlichen Grundbegriffen setzt diese Reihe soziologischer Standortbestimmungen im Medium der Sprachreflexion fort (Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede, München: Beck 2023).

In seiner Einleitung nimmt der Münchner Soziologe Bezug auf die großen, bereits in den 1960er Jahren konzipierten begriffsgeschichtlichen Lexika, die Geschichtlichen Grundbegriffe und das Historische Wörterbuch der Philosophie, die er als Dokumente »einer historischen Situation« versteht, »in der womöglich zum letzten Mal eine kanonisierbare Bestandsaufnahme gemacht werden konnte« (15). Die Gegenwart sieht er im Unterschied dazu durch eine wachsende Beliebigkeit und »geradezu programmatische Fluidität und Freihändigkeit« (ebd.) charakterisiert, der er mit seinem Buch entgegenwirken möchte. Zu diesem Zweck nimmt er sich in eigenständigen Essays insgesamt 19 Begriffe vor, die in der öffentlichen Kommunikation den Status von Grundbegriffen erlangt haben: Demokratie, Freiheit, Fremdheit/der Fremde, Gesellschaft, Gleichheit/Ungleichheit, Handeln, Identität, Kommunikation, Konflikt, Krise, Kritik, Kultur, Lebenswelt, Macht, Natur, Öffentlichkeit, Populismus, Technik, Wissen. Seine soziologische Begriffsarbeit verfolgt das Ziel, die gesellschaftlichen Debatten über sich selbst aufzuklären und auf ein höheres Niveau zu heben. Diesem Anspruch liegt die These zugrunde, dass die gesellschaftlichen Grundbegriffe theoriehaltig und die öffentlichen Debatten, in denen sie Verwendung finden, daher theoriebedürftig sind. Theoriehaltig sind die Begriffe, weil sie Nassehi zufolge ihren Ursprung in der Soziologie haben und von hier in allgemeinere Diskurse eingewandert sind. Im Zuge dieser Diffusion seien die theoretischen Gehalte sukzessive in die Latenz abgedrängt worden oder ganz in Vergessenheit geraten.

Mittels einer soziologischen »Rückholaktion« (9), die er zugleich als »Wiedereinführung von Selbsteinschränkungen« (15) oder auch als »begriffshygienische Maßnahme« (22) versteht, möchte Nassehi nun prüfen, ob die Begriffe noch angemessen funktionieren, bzw. sie durch eine Neubestimmung ihres jeweiligen theoretischen Gehalts schärfen. In einiger Spannung zu diesem normativen Anliegen steht Nassehis Behauptung, es solle keineswegs darum gehen, »irgendjemanden auf einen richtigen oder legitimen Begriffsgebrauch festzulegen« (9). Vielmehr gehe es um eine funktionalistische Analyse, die danach fragt, welche Funktion der jeweilige Begriff im öffentlichen Gebrauch hat, für welches Problem er die Lösung ist und worin sich das wissenschaftliche vom außerwissenschaftlichen Bezugsproblem der Begriffe unterscheidet.

Aus der Perspektive der historischen Semantik erscheinen einige Grundannahmen aus der Einleitung Nassehis problematisch. Zum einen ist es erstaunlich, dass Nassehi den Ursprung der von ihm behandelten Begriffe in der Soziologie verortet. Denn etliche von ihnen haben ihre Wurzeln bereits in der Antike, während die Soziologie doch, wie er selbst zeigt, erst um die Wende zum 20. Jahrhundert als eigenständige akademische Disziplin entstanden ist. Statt von einer »Rückholaktion« der Begriffe zu sprechen, wäre es demnach wohl angemessener, nach den spezifischen soziologischen Perspektivierungen in der Geschichte der Begriffe und nach ihrer Relevanz für die Orientierungsversuche in der Gegenwart zu fragen. Damit verbunden erscheint es nicht unproblematisch, den wissenschaftlichen (soziologischen) Sprachgebrauch derart strikt vom öffentlichen Sprachgebrauch abzusetzen. Diese Entgegensetzung ist auch insofern unplausibel, als Nassehi selbst nicht die Perspektive der Soziologie im Allgemeinen, sondern mit der Systemtheorie einen Ansatz unter vielen anderen vertritt. Nassehi versteht dann auch sein Buch »als eine (Selbst-)Kritik der Soziologie« (17), als Einsatz, »der einen Unterschied machen« soll, der sich »aus einer bestimmten Art des soziologischen Argumentierens« (18, Hervorhebungen im Original) ergibt – des systemtheoretischen nämlich. Gerade hier, in der kritischen Auseinandersetzung mit konkurrierenden soziologischen Deutungen, besteht ein großer Reiz von Nassehis begrifflicher Aufklärungsarbeit.

Jeder Begriffsessay folgt demselben Schema und ist an der Leitfrage orientiert, für welches Problem der jeweilige Begriff die Lösung ist. Wenn das Buch im Untertitel als Glossar der öffentlichen Rede vorgestellt wird, dann ist das missverständlich, denn Nassehi ist nicht am Facettenreichtum und den verschiedenen, je nach Sprechergruppen differierenden Bedeutungen, sondern eher an allgemeineren Argumentationsfiguren interessiert, ohne dass allerdings klar wird, für wen diese Argumentationen charakteristisch sein sollen. Idiosynkratisch erscheinen auch die Rückgriffe auf soziologische Theorietraditionen. Eine durchgehende Konstante ist der Rekurs auf eigene Arbeiten, deren Befunde zuweilen als Versatzstücke übernommen werden. Der organisierende Zentralbegriff Nassehis, von dem her Licht auf viele andere Begriffsanalysen fällt, ist der der Gesellschaft, dem ein eigener Essay gewidmet ist. Nassehi macht vielen soziologischen Ansätzen, etwa dem Konstruktivismus oder der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours, den Vorwurf, keinen Sinn für die Form des Gesellschaftlichen zu haben (vgl. 287). In der öffentlichen Debatte setze sich dieses Defizit fort. Einen Tiefpunkt, der Nassehi schaudern lässt, markiert die Wendung »Wir als Gesellschaft«, die immer dann strapaziert wird, wenn ein großer Problemdruck konstatiert und ein entsprechender Veränderungsbedarf angemahnt wird (vgl. 94). An dieser Wendung deutet sich bereits an, zur Bewältigung welches Problems der Gesellschaftsbegriff verwendet wird – nämlich des Problems, einem abstrakten, in verschiedene autonome Teilsysteme mit jeweils eigener Logik ausdifferenzierten System eine Adresse zu geben, die es erlaubt, strukturelle Probleme zurechenbar zu machen:

»Gesellschaft dient zumeist als Imaginationsbegriff für eine soziale Einheit, der begrifflich mehr Einheit unterstellt wird, als tatsächlich vorzufinden ist.« (71)

Mit dieser Lösung, die eine Scheinlösung sei, werde verdeckt, dass es in der Gesellschaft kein Zentrum gibt und dass auf allgemeine Probleme keine Antwort aus einem Guss möglich ist. Hier wie auch in etlichen anderen Begriffsessays führt Nassehi das Beispiel des Klimawandels an, der zwar als allgemeine Bedrohung der Überlebensbedingungen erscheint, aber dennoch nicht zentral und nach Maßgabe der besten wissenschaftlichen Einsichten angegangen werden kann, weil es eben kein einheitliches, mit sich identisches Handlungssubjekt gibt. Die Reduktion der Gesellschaft auf ein kollektives Wir muss somit ein ums andere Mal die von der Systemtheorie exponierte Komplexität der Gesellschaft verfehlen und bleibt so im Wiederholungszwang von Forderungen fixiert, die sich nicht einlösen lassen.

Der Vorwurf der Komplexitätsreduktion zieht sich leitmotivisch durch das ganze Buch. In der Analyse des Begriffs Handeln wird als ein zentrales Problem herausgestellt, dass das Handeln von vorgelagerten Bedingungen abhängig ist, die durch den Handlungsakt selber nicht kontrolliert oder bestimmt werden können – ebenso wenig wie die Konsequenzen, die sich aus den Handlungen ergeben. Gerade die für aktivistische Bewegungen charakteristische emphatische Beschwörung, endlich ins (transformative) Handeln zu kommen, täuscht für Nassehi über die Bedingtheit und die begrenzte Reichweite des Handelns hinweg. Im Pathos des Handelns sieht Nassehi eine Soziodizee par excellence. Er versteht darunter kognitive Formen,

»die dabei helfen, die Komplexität der Welt bzw. der Gesellschaft durch semantische Anker und Signale gewissermaßen unsichtbar zu machen. Solche begrifflichen Soziodizeen verdecken die Komplexität ihres Bezugsproblems und erzeugen […] illusorische Vorstellungen darüber, wie die Dinge funktionieren.« (139)

Ähnlich gelagert ist die Argumentation im Essay zum Begriff Konflikt. Der Konfliktbegriff hat für Nassehi in den öffentlichen Debatten die Funktion, in komplexen Verhältnissen durch die Konzentration auf eine Konfliktlinie oder einen binären Grundkonflikt eine Eindeutigkeit zu generieren und damit die wahren, vielfach überdeterminierten Konfliktverhältnisse zu simplifizieren. Auch der Einsatz des Begriffs Öffentlichkeit evoziere mehr Einheit, als empirisch nachvollziehbar sei. Seine performative Funktion sieht Nassehi darin, die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft kommunikativ adressierbar zu machen und eine Sphäre zu simulieren, in der sich die Gesellschaft über sich selbst verständigen kann (vgl. 310). In Bezug auf seinen eigenen Ansatz muss sich Nassehi allerdings fragen lassen, ob er in seiner Gegenüberstellung von soziologischem und öffentlichem Diskurs nicht selber eine krasse Simplifizierung vornimmt, wenn er die öffentlichen Diskurse auf zentrale Argumentationsstränge reduziert und die Vielstimmigkeit der Semantiken in den diversen Begriffsstreitigkeiten einebnet.

Die Spezifik des kritischen Einsatzes Nassehis tritt vielleicht am deutlichsten in seinem Essay zum Begriff der Kritik selbst hervor. Als eine Art argumentativer Leitfaden dient hier Reinhart Kosellecks Dissertationsschrift Kritik und Krise, an der Nassehi vor allem die Diagnose der fortschreitenden Abstraktion von den konkreten Anlässen und Verhältnissen und der daraus resultierenden Verselbständigung der Kritik hervorhebt, ohne jedoch ein Wort über die verschwörungsmythischen und aufklärungsfeindlichen Dimensionen dieser Arbeit zu verlieren. Wenn Nassehi zustimmend Wendungen Kosellecks zitiert wie diejenige von der sich selbst Absolution erteilenden Kritik, die »alles und jedes in den Strudel der Öffentlichkeit« ziehe mit der Konsequenz, dass die Kritik zu einer »geheimnisvollen Herrschaft« anwachse, »die alle Lebensäußerungen verfremdet« (214), dann schreibt er diesen Verschwörungsmythos fort. Kosellecks Ausführungen dienen Nassehi als Blaupause für seine eigene Kritik an kapitalismuskritischen Protestbewegungen, denen er die Abstraktifizierung der Kritik zum Vorwurf macht. Der kritische Habitus habe sich hier verselbständigt und gerate zur selbstgefälligen Pose, bei der Kritik sich gegen alles richte und dabei jeden Bezug verliere. Die Protestierenden könnten sich darin umso bequemer einrichten, als sie keine Probleme lösen müssten. Sachlich begründet Nassehi die Verselbständigung der Kritik mit dem Umstand, dass die aufs Ganze des Kapitalismus zielende Kritik keinen Angriffspunkt findet. Dies ergebe sich zwangsläufig, da der Kapitalismus, den er als »Chiffre für die Struktur der modernen Gesellschaft« oder als »Platzhalter für das Unbehagen an der Unübersichtlichkeit der Moderne« (220) versteht, kein Gegenstand für emanzipatorisches Handeln sein kann.

Kritik, so Nassehi, müsse konstruktiv sein und brauche stets eine konkrete Adresse, sonst laufe sie ins Leere. Der frei flottierenden Kritik, die sich von konkreten Gegenständen ablöse, hält Nassehi die im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft breit ausdifferenzierten institutionalisierten Formen der Kritik und des Widerspruchs entgegen, die etwa in politischen und rechtlichen Verfahren, in der Bildung, in der Kultur und Kulturkritik etabliert sind und die sich um die Bewältigung konkreter Probleme bemühen. Nassehi weist aber auch darauf hin, dass die Protestbewegungen ihre radikalisierte Kritik nicht zuletzt damit begründen, dass die institutionalisierten Formen der Kritik angesichts der immer drängender werdenden Probleme versagen (vgl. 217). Der Konflikt, der sich hier abzeichnet, ist ein politischer und kann auf dem Papier nicht gelöst werden. Mit Bezug auf die Klimakrise als wohl größte Herausforderung räumt Nassehi ein, dass es gerade die Erfolge der Moderne sind, die zur Gefährdung der Überlebensbedingungen geführt haben:

»Daraus aber abzuleiten, dass es sich um geradezu notwendige Entwicklungen handelt, wäre insofern naiv, als es die Möglichkeit von Selbstkorrekturen ausschlösse. Die Entwicklung des Kapitalismus ist jedenfalls eindeutig ein Gegenbeispiel, weil er eben stets und immer wieder zu Selbstanpassungen in der Lage war, und für die ökologische Krise sollten wir dies zumindest hoffen.« (194)

Mit Blick auf die ungebrochenen Trends der Großen Beschleunigung erscheint Nassehis Position allerdings reichlich naiv. Sie lädt dazu ein, seinen Kampfbegriff der Soziodizee auf seinen Ansatz selbst anzuwenden, als semantische Form der Naturalisierung und Sakralisierung der Gesellschaft. Eine sachliche Ursache liegt paradoxerweise in Nassehis Gesellschaftsbegriff, dessen Unzulänglichkeit schon darin zum Ausdruck kommt, dass er ›Kapitalismus‹ lediglich als Chiffre statt als adäquaten wissenschaftlichen Begriff ansehen kann, der die spezifische Form der modernen Gesellschaft erfasst. Ein Grundcharakteristikum dieser Gesellschaft ist der mit dem Profitmotiv verbundene permanente Wachstumszwang. In den 1970er Jahren erschien es den Kritikern der politischen Ökologie noch als Binsenweisheit, dass auf endlicher Grundlage kein unendliches Wachstum möglich ist. Es wurde ein notwendiger Zusammenhang zwischen kapitalistischem Wachstum und Naturzerstörung konstatiert. Hans Magnus Enzensberger, der Begründer des Kursbuchs, dessen heutiger Herausgeber Nassehi ist, war nur einer unter vielen, die daraus das existenzielle Erfordernis der Überschreitung der kapitalistischen Wirtschaftsweise abgeleitet haben. Selbst Niklas Luhmann hatte in den 1980er Jahren die Möglichkeit erwogen, dass das System so auf seine Umwelt einwirkt, dass es später in dieser Umwelt nicht mehr existieren kann. Nassehi hält unter deutlich verschärften Gefährdungsbedingungen an der Illusion einer ökologischen Selbstkorrektur der Gesellschaft fest. Von vielen Aktivist*innen der Protestbewegungen wird diese Illusion eines grünen Kapitalismus nicht mehr geteilt. Nicht wenige scheinen resigniert und den Glauben an eine Veränderung der Gesellschaft verloren zu haben. In diesem Sinne lässt sich vielleicht auch die allgemeinere Wende zur Identitätspolitik und die Konzentration auf Identitätsfragen deuten, die Nassehi einmal mehr als Kompensation für die »Nicht-Erreichbarkeit« von strukturellen gesellschaftlichen Problemen ansieht (vgl. 157).

Falko Schmieder leitet am ZfL das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland«.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Falko Schmieder: Soziodizee des Kapitalismus, in: ZfL Blog, 17.4.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/04/17/falko-schmieder-soziodizee-des-kapitalismus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240417-01

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