Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES

Der Nachlass des 1961 gestorbenen Louis-Ferdinand Céline war das Ereignis im literarischen Frankreich der letzten Monate. Neben der Tatsache, dass Célines Vulgarität und sein Antisemitismus unverändert zum Skandal taugen, dürften dazu auch die absonderlichen Begleitumstände beigetragen haben, unter denen dieser Nachlass ans Licht kam.[1] Als zeitweiliger Nazi-Sympathisant hatte Céline 1944 die Flucht aus Paris ergriffen und dabei umfangreiche Manuskriptkonvolute zurückgelassen, die jahrzehntelang als verschollen galten. Céline selbst war fest davon überzeugt, sie seien ihm gestohlen und möglicherweise auf dem Flohmarkt verkauft worden.[2] „Claude Haas: Viel Lärm um alles. ÜBER DAS ROMANFRAGMENT »GUERRE« AUS DEM NACHLASS LOUIS-FERDINAND CÉLINES“ weiterlesen

Claude Haas: WAS IST STIL UND WIE SAGT MAN ES AM BESTEN?

Zu den größten Zumutungen, die uns das 18. Jahrhundert vererbt hat, gehört eine streng individualistische Vorstellung des literarischen Stils. Stil soll keinem erlernbaren Regelwerk entstammen, sondern den Aus- wie Abdruck einer einzigartigen schreibenden Person bilden. In den letzten Jahrzehnten hatte die Literaturwissenschaft diese Provokation in immer neuen Anläufen zurückzuweisen oder wenigstens in Schach zu halten versucht. Mit einer an Roland Barthes oder an Michel Foucault angelehnten Verabschiedung des ›Autors‹ (wie schreibende Personen seinerzeit noch genannt wurden), schien sich auch die Frage nach dem literarischen Stil weitgehend erledigt zu haben. Stil und Autorschaft galten vielen als kulturelle Mystifikation. Nun wurde in der Literaturwissenschaft der letzten Jahre eine »Wiederkehr« nach der anderen ausgerufen, und da dürfen natürlich auch Stil und Autor nicht fehlen. „Claude Haas: WAS IST STIL UND WIE SAGT MAN ES AM BESTEN?“ weiterlesen

Pola Groß: SEHNSUCHT NACH STIL (um 1900)

Der Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert wurde von den Zeitgenoss*innen als markante Epochenwende erfahren. Die deutsche Literatur sei »an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung angelangt, von welchem sich der Blick auf eine eigenartige bedeutsame Epoche eröffnet«[1] – so sah es die dem Naturalismus nahestehende Berliner Freie litterarische Vereinigung »Durch!« in ihren 1886 im Organ des Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverbandes formulierten Thesen zur Moderne. In ähnlich programmatischer Weise beschrieb wenig später der Feuilletonist Friedrich Michael Fels in Wien den Zeitgeist:

»Wir stehen an der Grenzscheide zweier Welten; was wir schaffen, ist nur Vorbereitung auf ein künftiges Großes, das wir nicht kennen, kaum ahnen.«[2] „Pola Groß: SEHNSUCHT NACH STIL (um 1900)“ weiterlesen

Eva Geulen: GEHEIMNIS GUTACHTEN (MIT HINWEISEN)

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Es ist nicht absehbar, was die Corona-Krise einmal alles zu verantworten haben wird. Zu den Dingen, von denen man behauptet, dass sie ›nicht mehr so sein werden wie vorher‹, könnte die Präsenzlehre an den Universitäten gehören. Gemessen an anderen Vorstellungen, wie etwa dem vorbeugenden Einsatz biometrischer Überwachung aller, wäre das ein kleineres Übel. Hier wie dort gilt jedoch: Sind bestimmte Praktiken erst einmal, sei es auch temporär und zwangsweise, eingeführt, dann kann daraus rasch Alltag werden.[1] Die universitäre Lehre betreffend wäre es dann vorbei mit dem, was Heidegger einmal raunend das »Geheimnis des Seminars«[2] genannt hat. „Eva Geulen: GEHEIMNIS GUTACHTEN (MIT HINWEISEN)“ weiterlesen

Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? STIL UND SOCIAL MEDIA IN DER GEGENWARTSLITERATUR

»Manchmal entstehen große Textteile auf Twitter. Ich kommentiere dort, woran ich gerade arbeite, und probiere aus«, beschreibt Buchpreis-Gewinner Saša Stanišić in einem Interview seinen Umgang mit Twitter, »aber ich würde nie versuchen, Twitter in meinen Texten zu imitieren.«[1] Der Autor weist auf eine intrikate Verbindung von Social Media mit dem Prozess des literarischen Schreibens hin. Denn wenn, wie Stanišić angibt, »große Textteile« auf Twitter entstehen, haben soziale Medien von Beginn an einen wesentlichen Anteil an der Textproduktion – unabhängig davon, ob der spätere Roman Tweets mimetisch abbildet oder nicht. Das Phänomen der so genannten »Twitteratur« ist zwar bereits seit einiger Zeit bekannt, vielleicht sogar schon wieder überholt.[2] Was allerdings geblieben ist, das ist Twitter als Notizbuch, als Bühne für die literarische Selbstinszenierung und als Ort der sozialen – und möglicherweise auch stilistischen – Kontrolle. „Pola Groß / Hanna Hamel: Neue Nachbarschaften? STIL UND SOCIAL MEDIA IN DER GEGENWARTSLITERATUR“ weiterlesen

Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«

Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf »erstaunliche Parallelen« zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den »gegenwärtigen Entwicklungen«.[2] Die meisten Rezensionen, von der Süddeutschen Zeitung über die Welt bis zur ZEIT, konstatieren in eben diesem Sinne eine verblüffende Aktualität von Adornos Vortrag, die Redaktion von Spiegel Online attestiert Adorno gar hellseherische Fähigkeiten, wenn sie titelt: »Was Adorno 1967 schon über die Neue Rechte wusste„Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«“ weiterlesen

Eva Geulen: WAS STIL SAGT

Seit der Aufdeckung der Fälschungen des Journalisten Claas Relotius im Dezember vergangenen Jahres rauscht es im betroffenen Blätterwald. Viele Stimmen beharren auf verbindlichen Abgrenzungen zwischen Fakt und Fiktion, Journalismus und Literatur. Das geschieht auf mal mehr und mal weniger intelligente Weise. In der Frankfurter Rundschau wurde der Hang des jüngeren Journalismus zum ›Geschichtenerzählen‹ insgesamt verdammt, denn seine Aufgabe sei doch, »der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen«. Subtiler wies Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung nach, dass die jedem Faktencheck standhaltenden Details einer Hafenszene bei Flaubert gleichwohl Literatur bleiben, weil es ein episches Präteritum und einen unsichtbaren Erzähler gibt. Im Journalismus müsse man aber wissen, ob der Autor wirklich dabei gewesen sei oder nicht. Augenzeugenschaft bezeugt Wirklichkeit; literarische Erzähler bezeugen sie auch, aber anders. Eine Grenze bleibt, aber sie verläuft nicht entlang von Faktualität und Fiktionalität. „Eva Geulen: WAS STIL SAGT“ weiterlesen