Der Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert wurde von den Zeitgenoss*innen als markante Epochenwende erfahren. Die deutsche Literatur sei »an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung angelangt, von welchem sich der Blick auf eine eigenartige bedeutsame Epoche eröffnet«[1] – so sah es die dem Naturalismus nahestehende Berliner Freie litterarische Vereinigung »Durch!« in ihren 1886 im Organ des Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverbandes formulierten Thesen zur Moderne. In ähnlich programmatischer Weise beschrieb wenig später der Feuilletonist Friedrich Michael Fels in Wien den Zeitgeist:
»Wir stehen an der Grenzscheide zweier Welten; was wir schaffen, ist nur Vorbereitung auf ein künftiges Großes, das wir nicht kennen, kaum ahnen.«[2]
Insbesondere dieses Zitat wird immer wieder angeführt, um das Epochenbewusstsein der literarischen Moderne zu beschreiben. Es drückt sowohl das Gefühl des Aufbruchs als auch die Verunsicherung über das aus, was kommt. Gründe für das Gefühl, an einer Zeitenwende zu stehen, gab es genug. Die Industrialisierung und die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft hatten zu einer Auflösung überlieferter Semantiken und dem Empfinden geführt, dass gemeinsame Werte und Praktiken langsam zerbrachen.[3] Auch der rasante Aufstieg der Massenmedien Fotografie und Film sowie die Entstehung einer urbanen Unterhaltungs- und Zerstreuungskultur erodierten die bisher relativ festgefügten Wertungs- und Geschmackskonventionen. Die Kunst geriet darüber in eine (Subjekt- und Sprach-)Krise und fand sich angesichts der einschneidenden gesellschaftlichen und ästhetischen Veränderungen auf der Suche nach neuen Gegenständen und Darstellungsformen. Dadurch rückten Stilfragen in den Fokus, was im Magazin für die Litteratur zu erklären versucht wurde:
»Die Sprache verändert sich immer nach den jeweiligen Tendenzen der Zeitperiode. So ist auch der Stil wandelbar. In einer Zeit, wo eine alte Welt zur Neige geht und eine neue beginnt, da tauchen große Probleme auf, da erfüllt die Gemüter neues Streben, neue Gedanken brechen sich Bahn. Und alles dieses Neue will sich in der Schreibweise einen Ausdruck verschaffen. Aber noch ist es unklar, gährend [sic!], verworren, dieses Neue. Die verschiedensten Anschauungen stoßen gegeneinander, und jede einzelne will sich schon äußerlich als etwas Besonderes dokumentieren. So haben wir diese Menge von neuen eigentümlichen Stilarten in der Gegenwart.«[4]
Nicht von ungefähr spricht die Literaturwissenschaft vom Stilpluralismus der Jahrhundertwende, der durch eine Gleichzeitigkeit und Überbietungslogik der verschiedenen literarischen Strömungen gekennzeichnet ist. Besonders deutlich wird dieses Nebeneinander mit Blick auf das Jahr 1892, in dem Hauptwerke des poetischen Realismus (Fontanes Frau Jenny Treibel) und des Naturalismus (Hauptmanns Weber) ebenso erschienen wie Stefan Georges Gedichtzyklus Algabal, der dem Fin de Siècle zugerechnet wird.[5] Und im selben Jahr, in dem Hermann Bahr die Überwindung des Naturalismus proklamierte – der in der deutschsprachigen Literatur gerade erst seine Blütezeit erreicht hatte –, wandte der Philosoph Fritz Mauthner sich bereits vehement gegen die Literatur des Fin de Siècle, die ebenfalls gerade erst im Entstehen begriffen war. Kurz darauf polemisierte Karl Kraus in seinem Artikel Zur Überwindung des Hermann Bahr gegen die permanente Suche nach dem »allerneuesten Stil«.[6]
Die Zeit vor der Jahrhundertwende ist also einerseits durch eine extreme Beschleunigung und ein Modernitätsstreben charakterisiert, das sich gegen alles ›Alte‹ richtete. Andererseits führte die Krisenerfahrung zum Wunsch nach einem einheitlichen Stil, wie es ihn in der Vergangenheit gegeben habe. An einer Äußerung Hugo von Hofmannsthals lässt sich erkennen, dass der Ästhetizismus der Moderne eine Auseinandersetzung mit vergangenen Kunstformen also keineswegs ausschloss:
»Wir sind fast alle in der einen oder anderen Weise in eine durch das Medium der Künste angeschaute, stilisierte Vergangenheit verliebt.«[7]
Selbst naturalistische Autoren bezogen sich bei ihrer Suche nach dem neuen Stil auf die ›Alten‹: Der Schriftsteller Conrad Alberti etwa sprach von einem »Shakespeare- und einem Molière-Stil« als den »allein vollendeten Kunststilen«, an denen sich zeitgenössische Schriftsteller*innen zu orientieren hätten.[8]
Diese Ausrichtung an der Tradition ist angesichts von Überwindungspostulaten und der permanenten Suche nach dem ›Neuen‹ mehr als erstaunlich. Denn die Rede von der Stilisierung der Vergangenheit beschreibt genau jenes ästhetische Verfahren, das gemeinhin als Hauptvorwurf gegen Kitsch gerichtet wird. Nicht von ungefähr entsteht auch der Kitschbegriff um die Jahrhundertwende, zu einer Zeit, als neue industrielle Produktionsverfahren die Voraussetzung dafür schufen, künstlerische und kunstgewerbliche Artefakte massenhaft und billig herzustellen. Außer ihrer Gleichzeitigkeit gibt es jedoch noch weitere Berührungspunkte von Stil und Kitsch um 1900: Kitsch wird über die Nachahmung von vergangenen Stilen und Epochen bestimmt und zugleich reagieren die Stilbemühungen der Moderne auf Kitsch, wie Hans Ulrich Gumbrecht bemerkt:
»Erst in der Reaktion auf vergangenheitsorientierte Massenproduktion wurde ›Stil‹ zum Programmbegriff eines seine Unabhängigkeit vom Vergangenen affirmierenden Welten-Schaffens der Künstler«.[9]
Dass dieses ›Welten-Schaffen‹ längst nicht so unabhängig von der Tradition war, wie hier von ihm angedeutet, entgeht auch Gumbrecht nicht. Seine Einschätzung beschreibt allerdings recht genau das Selbstverständnis fast aller künstlerischen Stilrichtungen um 1900. Demnach ist Kitsch das absolute Gegenteil von Kunst. Jede Strömung versuchte, den eigenen Stil zu profilieren, indem andere Stile als Kitsch diskreditiert wurden. Die Naturalisten von »Durch!« kündigten den »Kampf« gegen »die überlebte Epigonenklassizität« an[10] und richteten sich damit gegen die ästhetizistische Verehrung der Antike. Bahr wiederum stellte Oscar Wildes Schwelgen in der Vergangenheit ebenso unter Kitschverdacht wie Georges radikalen Ästhetizismus. Aber auch er selbst bekam sein Fett weg; der Feuilletonist Curt Grottewitz bezeichnete seine Schreibweise als »Schwulst«, der keineswegs einen neuen Stil präge, sondern bloß »ein Zeichen des Ausgangs einer alten Richtung« sei.[11]
Sowohl Stil als auch Kitsch wurden von Kunstschaffenden und Kritiker*innen als Kampfbegriffe eingesetzt, um sich von unliebsamen ästhetischen Positionen abzugrenzen. Mit Blick auf die Jahrhundertwende stellt sich daher die Frage, ob die allgegenwärtige Suche nach dem angemessenen Stil um 1900 möglicherweise gar nicht ohne den Kitsch als Kippfigur zu verstehen ist. Denn was an der angewandten Kunst als Kitsch abgewertet wird, schlägt etwa im Jugendstil in Stil um. Umgekehrt wird Stil zu Kitsch, wenn der Ästhetizismus den naturalistischen Stil zum Sozialkitsch erklärt oder der Naturalist Arno Holz die als Trivialschriftstellerinnen verschrienen Lyrikerinnen Friederike Kempner und Johanna Ambrosius in einem Atemzug mit den Mitgliedern des ästhetizistischen George-Kreises nennt und diesen die Produktion ganz ähnlichen Kitschs vorwirft: »Noch nie waren so abenteuerlich gestopfte Wortwürste in so kunstvolle Ornamentik gebunden.«[12]
Versteht man die Stil- und Kitschdiskurse um 1900 als aufeinander bezogen, erscheinen der »Wille nach Stil«[13] und die Abwertung anderer ästhetischer Positionen als Kitsch allerdings nicht nur als Abgrenzungs- und Distinktionsversuche, sondern auch als Krisenlösungsstrategien zur Bewältigung der einschneidenden gesellschaftlichen wie ästhetischen Veränderungsprozesse der Epochenwende. Die Frage, inwiefern das, was im Kitsch abgewertet wird, bereits im Stil – auch im »allerneusten Stil« – drinsteckt, wurde übrigens schon 1922 von Robert Musil beantwortet, der das zeitgenössische Verständnis von Stil und Kitsch augenzwinkernd umkehrte:
»[A]ber man gebiert nicht auf geheimnisvolle Weise einen neuen Stil: Stil wird immer von den Nachläufern gemacht; wenn sie ganz weit hintendreinlaufen, so daß sie die Spitze nicht mehr sehen, werden sie Vorläufer.«[14]
Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß arbeitet am ZfL an ihrem Projekt »Stil und Kitsch um 1900«. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltblatt zum Jahresthema des ZfL 2020/21, »Epochenwenden«.
[1] »Zehn Thesen der freien litterarischen Vereinigung ›Durch!‹«, in: Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes 55 (1886), S. 810.
[2] Friedrich Michael Fels: »Die Moderne«, in: Moderne Rundschau 4 (1891), S. 79–81, hier S. 80.
[3] Vgl. Horst Thomé: »Modernität und Bewusstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle«, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 7: Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus, 1890–1918, hg. von York-Gothart Mix, München/Wien 2000, S. 15–27, insb. S. 16–18.
[4] Curt Grottewitz: »Neuer Stil und neue Schönheit«, in: Das Magazin für Litteratur 60 (1891), S. 85–87, hier S. 85.
[5] Vgl. Philip Ajouri: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus, Berlin 2009, S. 43.
[6] Karl Kraus: »Zur Überwindung des Hermann Bahr«, in: Die Gesellschaft 9 (1893), S. 631.
[7] Hugo von Hofmannsthal: »Walter Pater« [1894], in: ders.: Blicke. Essays, hg. von Thomas Fritz, Leipzig 1987, S. 57.
[8] Conrad Alberti: »Die beiden Stile«, in: Neue Revue 46 (1895), S. 1443–1449, hier S. 1449.
[9] Hans Ulrich Gumbrecht: »Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs«, in: ders./K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, S. 766 f.
[10] Vgl. Anm. 1.
[11] Vgl. Anm. 4, S. 86.
[12] Arno Holz: »Selbstanzeige. Phantasus«, in: Die Zukunft 23 (1898), S. 210–219, hier S. 210.
[13] Rudolf Wustmann: Weimar und Deutschland 1815–1915, Weimar 1915, S. 358.
[14] Robert Musil: »Stilgeneration und Generationsstil«, in: ders.: Gesammelte Werke 7: Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches, Reinbek 1978, S. 664–667, hier S. 666.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Pola Groß: Sehnsucht nach Stil (um 1900), in: ZfL BLOG, 18.11.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/11/18/pola-gross-sehnsucht-nach-stil-um-1900/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20201118-01