Dirk Naguschewski: DIVERSITÄT, PHILATELISTISCH

I.

Briefmarke der Deutschen Post zu 85 Cent. Mittig ist eine aus bunten Symbolen geformte Deutschlandkarte zu sehen, links der Schriftzug »Vielfalt in Deutschland«.
Abb. 1: Sondermarke »Diversität. Vielfalt in Deutschland«, Entwurf: Bettina Walter*

Seit mehr als 40 Jahren erscheinen in Deutschland Briefmarken, die sich dem widmen, was wir heute gesellschaftliche Vielfalt oder Diversität nennen. Im November 2022 wurde unter dem Titel »Vielfalt in Deutschland« eine neue Marke präsentiert. An deren Motiv, vor allem aber ihrer Präsentation durch die Deutsche Post DHL Group (wie die Deutsche Post heute offiziell heißt) wird deutlich, wie schwer es ist, zeitgemäße Bilder für ›Diversität‹ zu finden. 1981 gab es zum ersten Mal eine Sondermarke mit dem Bild zweier Familien und der auch als Aufforderung zu verstehenden Aufschrift »Integration ausländischer Arbeitnehmerfamilien«. Dass Deutschland ein Einwanderungsland sein könnte, wurde seinerzeit noch hartnäckig bestritten. In den Jahren nach der deutschen Einheit entwickelte sich dann der als Fremdenfeindlichkeit diskutierte Rassismus zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. In Hoyerswerda und anderorts wurden mehr und mehr Menschen (vermeintlich) nichtdeutscher Herkunft angegriffen, woraufhin 1994 eine Marke mit unmissverständlichem Appellcharakter erschien: Elf Menschen unterschiedlicher Haut- und Haarfarbe stehen nebeneinander und halten gemeinsam ein Banner vor sich, auf dem »Miteinander leben!« zu lesen ist. 2012 verausgabte die Deutsche Post eine Briefmarke, die das Motiv der gesellschaftlichen Diversität zum dritten Mal aufgriff. Auf dem Klingelschild einer Gegensprechanlage sind sechs Namen zu lesen, die von mutmaßlich unterschiedlichen Herkünften und nachbarschaftlichem Zusammenleben erzählen: Yilmaz, Kaminski, Hanke, Peters, Krüger und Tozzi. Als Aufschrift ein Claim, der von dem gemeinsam zurückgelegten Weg kündet: »Vielfalt« und »in Deutschland zu Hause«.[1] „Dirk Naguschewski: DIVERSITÄT, PHILATELISTISCH“ weiterlesen

Stefani Engelstein: HOW TO WRITE AS AN OUTSIDER ABOUT WHAT IT MEANS TO BE GERMAN

First as a student of comparative literature with a focus on German and then as a professor of German Studies, I’ve been traveling back and forth to Germany for three decades, almost exactly the age of the reunified German state. I have stayed for weeks, for months, or for more than a year at a time. I have lived in Leipzig, in Cologne, and in Munich, but I have spent by far the most time in Berlin, a place that I have come to consider a second home. Throughout that time, Germany has changed enormously, both demographically and attitudinally. In relation to diversity in general and in its relationship to Jews. „Stefani Engelstein: HOW TO WRITE AS AN OUTSIDER ABOUT WHAT IT MEANS TO BE GERMAN“ weiterlesen

A “MODEST MONUMENT” AWAITING COMPLETION. Gianna Zocco talks to Jean-Ulrick Désert and Dorothea Löbbermann about the W. E. B. Du Bois Memorial at the Humboldt University of Berlin

W. E. B Du Bois in Berlin
Fig. 1: W. E. B. Du Bois in Berlin, ca. 1894 © Department of Special Collections and University Archives, W. E. B. Du Bois Library, University of Massachusetts Amherst, reproduced by permission

A picture from the late nineteenth century showing about one-hundred students (fig. 1) – all of them male and similarly dressed in suits and neckties, some of them wearing hats. They display a degree of homogeneity unusual by today’s standards. An attentive observer will nonetheless detect that one of the students differs from his colleagues: he has significantly darker skin. The young man, seated in the second row from the top, is the African-American W. E. B. Du Bois (1868–1963), who was enrolled at the University of Berlin from 1892 to 1894.[1] When, in the hopefully not too distant future, the bustling university life resumes, when students cram into crowded lecture halls again, push through full corridors, past perhaps intimidating, perhaps inspiring sculptures, portraits, and other visual reminders of the apparently glorious past their alma mater is connected to, students of the Humboldt University will come across a memorial for Du Bois, one of the first American sociologists, co-founder of Pan-Africanism, civil rights activist, and prolific author of books such as The Souls of Black Folk (1903). „A “MODEST MONUMENT” AWAITING COMPLETION. Gianna Zocco talks to Jean-Ulrick Désert and Dorothea Löbbermann about the W. E. B. Du Bois Memorial at the Humboldt University of Berlin“ weiterlesen

Matthias Schwartz: GESCHICHTE ALS UNUNTERBROCHENE PERFORMANCE: Das Queer Archives Institute

Zum 50. Jahrestag des Stonewall-Aufstands berichteten die Medien einmal mehr über die angespannten und vielerorts sich sogar verschlechternden rechtlichen und sozialen Lebensumstände queerer Menschen in Osteuropa. Regelmäßig gibt es Meldungen von LGBTIQ*-Demonstrationen in den Hauptstädten der Ukraine, Russlands, Polens oder Georgiens, die von nationalistischen und religiösen Gruppierungen attackiert werden oder nur mithilfe von massivem Polizeieinsatz durchgeführt werden können – wenn sie nicht gleich ganz verboten werden. Der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und autoritärer Staatsführer, die ihre gottgewollte Ordnung und nationale Tradition durch ein aus dem Westen eindringendes Sodom und Gomorrha bedroht sehen, verschärft diese Lage noch. „Matthias Schwartz: GESCHICHTE ALS UNUNTERBROCHENE PERFORMANCE: Das Queer Archives Institute“ weiterlesen

Sharon Macdonald: DIVERSE MUSEUM DIVERSITIES

‘Diversity’ has become a lively key word in contemporary museum discourse and practice, with numerous policies and initiatives being conducted under its banner. Achieving ‘diversity’ is seen as something to be celebrated – a good thing in itself. But quite what ‘diversity’ refers to is itself heterogeneous, with this only rarely explicitly articulated or even recognised. As such, what exists is a shifting field of diverse diversities, which variously interlink and reinforce each other but which may also mask critical discrepancies, disconnects, incompatibilities and even contrary ambitions. „Sharon Macdonald: DIVERSE MUSEUM DIVERSITIES“ weiterlesen

Albrecht Koschorke: AUF DER ANDEREN SEITE DES GRABENS

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Wer die öffentliche Debatte über populistische Bewegungen verfolgt, dem könnte leicht Karl Valentins Spruch in den Sinn kommen, es sei schon alles gesagt, nur noch nicht von allen. Seit Brexit und Trump laufen poli­tische Gegenwarts­analy­sen fast automatisch darauf hinaus, sich am Rätsel des Rechtspopulismus abzuarbeiten. Immerhin ist dabei eine anstei­gen­de Lernkurve zu verzeich­nen. Die ersten Reaktionen auf rechtspopulistische Abstim­mungserfolge waren von Schock und völligem Unverständnis gekennzeichnet. Kommen­tato­ren mit akademischem Hintergrund (den Ver­fasser dieser Zeilen ein­ge­schlos­sen) glaubten sich einer Spezies »verrückter An­de­rer« gegen­über, von denen sie bis dahin keine Notiz genommen und mit denen sie keiner­lei soziale Berührung hatten. Die auch in den etablier­ten Medien vor­herr­schen­de Meinung war, dass hier Menschen nicht wussten, was sie taten, und bald aus ihrem Irrglauben aufwachen müssten.   „Albrecht Koschorke: AUF DER ANDEREN SEITE DES GRABENS“ weiterlesen

David Kaldewey: »In the Name of Diversity«: ZUR NEUFORMIERUNG STUDENTISCHEN PROTESTS AN AMERIKANISCHEN UNIVERSITÄTEN

Diversität scheint auf den ersten Blick ein wenig umstrittener gesellschaftlicher Wert zu sein. Die jüngeren Entwicklungen in der politischen Landschaft der USA haben in den letzten Jahren jedoch gezeigt, dass ›Diversität‹ als hochgradig umkämpfter Begriff verstanden werden muss. Einen Tag nach der Wahl von Donald Trump am 8. November 2016 kursierte an der Texas State University folgender Flyer:

Diese triumphierende Geste von Studierenden, die sich vom linksliberalen Konsens der amerikanischen Colleges und Universitäten distanzieren, macht die Spannung sichtbar zwischen einem im universitären Raum seit den 1990er Jahren stabilisierten identitätspolitischen Diskurs, für den Diversität und Multikulturalismus zentrale Werte sind, und einer alten sowie neuen Rechten, die sich, durchaus genussvoll, gegen die etablierte Political Correctness und angebliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit wendet. „David Kaldewey: »In the Name of Diversity«: ZUR NEUFORMIERUNG STUDENTISCHEN PROTESTS AN AMERIKANISCHEN UNIVERSITÄTEN“ weiterlesen

Jutta Müller-Tamm: ORDNUNG DES DIVERSEN. Typeneinteilungen um 1900

Mit einiger Berechtigung könnte man das 19. Jahrhundert nicht nur als Jahrhundert nationaler Einheitstendenzen, sondern auch als Jahrhundert der Diversität beschreiben: einerseits der biologischen Diversität, insofern die Anzahl der bekannten Arten exponentiell zunimmt und die Evolutionslehre den Naturprozess selbst als Entstehung organischer Diversität bestimmt, andererseits aber auch als Jahrhundert der kulturellen und sozialen Diversifizierung: Unübersehbarkeit des empirischen Wissens, Differenzierung der Disziplinen, Vervielfältigung der kulturellen Tendenzen, Pluralisierung der Lebensformen und Weltanschauungen, die – mit Nietzsches Formulierung – »unkräftige Vielseitigkeit des modernen Lebens«,[1] all das gehört jedenfalls zu den gängigen Selbstbeschreibungen der Zeit. Dabei taucht Diversität in den Gegenwartsdiagnosen um 1900 weniger als Wert oder gar Forderung auf, sondern vor allem als krisenhaft oder ambivalent wahrgenommenes Phänomen: „Jutta Müller-Tamm: ORDNUNG DES DIVERSEN. Typeneinteilungen um 1900“ weiterlesen

Mona Körte, Georg Toepfer & Stefan Willer: Einleitung zur ZfL-Jahrestagung »Diversität darstellen« (11./12. Januar 2018)

Diversität – und mehr noch das englische diversity – ist ein Zauberwort, das für die verschiedensten Anliegen verwendet werden kann: vom bloßen Lobpreis der Vielfalt über den Appell bis hin zur regulativen Idee globalen politischen Handelns. Der Anthropologe Steven Vertovec sieht in diesem Wort Potential für ein »organizing concept« der Sozial- und Lebenswissenschaften.[1] In der Tat ist Diversität nicht nur ein Bezugspunkt verschiedener Wissenschaften. Auch Körperschaften wie Schule und Universität regeln Chancengleichheit und Zugang im Namen von Diversität, und Unternehmen betreiben ein sogenanntes Diversitätsmanagement, bei dem heterogene Belegschaften zu einer wirtschaftlichen Ressource funktionalisiert werden. Vermutlich ist es gerade der vielfachen Adressierbarkeit geschuldet, dass wir es bei ›Diversität‹ mit einem politisch hochgradig überformten, theoretisch jedoch weithin unterbestimmten Begriff zu tun haben. „Mona Körte, Georg Toepfer & Stefan Willer: Einleitung zur ZfL-Jahrestagung »Diversität darstellen« (11./12. Januar 2018)“ weiterlesen

Stefan Willer: Zum »Europäischen Jahr des Kulturerbes« (I): KULTUR ALS ERBE

2018 ist das »Europäische Jahr des Kulturerbes«. Mit dem Begriff ›Kulturerbe‹ bezeichnet die Europäische Kommission »kulturelle und kreative Ressourcen materieller oder immaterieller Art, deren Wert für die Gesellschaft öffentlich anerkannt wurde, damit sie für künftige Generationen bewahrt werden.« Damit wird einmal mehr ein Verständnis von kulturellem Erbe bekräftigt, das mit der am 16. November 1972 verabschiedeten World-Heritage-Konvention der Unesco international verbindlich wurde. Darin verpflichtet sich jeder Unterzeichnerstaat zu »Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen […] Kultur- und Naturerbes« sowie zu dessen »Weitergabe an künftige Generationen« (Artikel 4). „Stefan Willer: Zum »Europäischen Jahr des Kulturerbes« (I): KULTUR ALS ERBE“ weiterlesen