Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME

Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.[1] „Hanna Hamel: SPIELE UND IHRE RÄUME“ weiterlesen

Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen

I.

Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm SolarisAuf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen ›besucht‹, die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station.

Ich hatte das Glück, bei der einmaligen Filmvorführung dabei zu sein.[1] Aus der DDR kommend, war ich damals Studentin der russischen Sprache und Literatur an der Lomonossow-Universität und wohnte im Wohnheim in einem Seitenflügel des markanten Stalinhochhauses auf den Sperlingsbergen, die damals Leninberge hießen. Das genaue Datum vermag ich nicht mehr zu rekonstruieren. Der Kinoabend ist mir allerdings schon durch seine ungewöhnlichen äußeren Umstände in Erinnerung geblieben. An Eintrittskarten gelangten meine Freunde und ich nur, weil die russische Freundin eines DDR-Promotionsstipendiaten an der Kasse aushalf. Der Andrang unmittelbar vor der Aufführung war enorm. Im Innern, im Vestibül des Kulturhauses, das sich im Hauptgebäude befindet, versuchte berittene Miliz der von außen immer weiter nachdrängenden Massen Herr zu werden. Ihr Anblick erschreckte mich, obwohl kaum mehr als ein oder zwei Pferde in den Raum gepasst haben konnten. „Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen“ weiterlesen

David Anderson: THE ‘END OF HISTORY’ REVISITED: Christa Wolf’s ‘Kassandra’ and Jeanette Winterson’s ‘Sexing the Cherry’

In his article ‘The End of History?’, originally published in the journal The National Interest in Summer 1989, Frances Fukuyama argued that ‘the triumph of the West, of the Western idea, is evident first of all in the total exhaustion of viable systemic alternatives to Western liberalism.’[1] It was in this respect that history had reached its ‘end’: the course of history in the sense of ‘mankind’s logical evolution’ had arrived at ‘the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government’ (Fukuyama, p. 4). Despite all the suggestion of apocalypse in its title, Fukuyama’s essay is actually quite upbeat. The answer to all our problems is already here. And yet, in his final paragraph, he strikes a melancholy note: „David Anderson: THE ‘END OF HISTORY’ REVISITED: Christa Wolf’s ‘Kassandra’ and Jeanette Winterson’s ‘Sexing the Cherry’“ weiterlesen

Leander Scholz: SYMBIOTISCHE EXISTENZEN – ZUR GESCHICHTE DES ÖKOLOGISCHEN IMAGINÄREN

I.

Am zweiten Wochenende des Oktobers 1913 versammelten sich weit über zweitausend junge Frauen und Männer auf dem Hohen Meißner in Hessen. Eingeladen zu diesem Treffen hatte eine lose Vereinigung von Jugendbünden, die den patriotischen Auswüchsen des Kaiserreichs etwas entgegensetzen wollten. Denn im gleichen Monat fanden die offiziellen Festakte zum hundertjährigen Jubiläum der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig statt, in der die napoleonischen Truppen ihre entscheidende Niederlage erlitten hatten. Anlässlich des Rückblicks auf dieses historische Ereignis sollte ein monumentales Denkmal eingeweiht werden. „Leander Scholz: SYMBIOTISCHE EXISTENZEN – ZUR GESCHICHTE DES ÖKOLOGISCHEN IMAGINÄREN“ weiterlesen

Maud Meyzaud: AL-ANDALUS – EINE GEGENWELT INMITTEN EUROPAS

I.

Noch in den 1980er Jahren stand in französischen Geschichtslehrbüchern dieser Satz: »732: Charles Martel arrête les Arabes à Poitiers.« Wie konnte ein Mann namens Charles Martel im Alleingang so viele Menschen auf­halten, mag sich so manches Schulkind gefragt haben. Und was machten die sogenannten Araber überhaupt im tiefen französischen Westen? Der Satz über die Schlacht von Poitiers fand im 19. Jahrhundert Eingang in Unterrichtsmaterialien, als die Kolonialpolitik Frankreichs sich auf den Maghreb ausdehnte. Er brachte die mutmaßliche Überlegenheit des Westens über die vermeintlich rückständige islamische Welt zum Ausdruck und fügte sich somit nahtlos in jenen Orient-Diskurs ein, den Edward Said in seinem grundlegenden Werk Orientalism analysiert hat. So erklärt sich auch, dass der Satz in Algerien noch während des Unabhängigkeitskriegs 1954–­1962 von den einheimischen Kindern auswendig gelernt werden musste.[1] „Maud Meyzaud: AL-ANDALUS – EINE GEGENWELT INMITTEN EUROPAS“ weiterlesen

Oliver Precht: GEGEN-WELTEN UND ULTRA-DINGE: DON QANON DE LA MANCHA

Gegenwelten, so eine sozialwissenschaftliche Definition, entstehen, wenn sich Teile der Gesellschaft von »etablierten Denk- und Verhaltensweisen« abwenden und »alternative Vorstellungen über bestehende politische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten« entwickeln.[1] Häufig verweist das Wort auf das viel diskutierte und schwer fassbare Phänomen des ›Postfaktischen‹. Zugleich legt die Rede von ›Gegenwelten‹ die Frage nahe, ob jene Teile der Gesellschaft tatsächlich nur »alternative Vorstellungen« entwickeln oder nicht vielmehr ›in ihrer eigenen Welt leben‹. „Oliver Precht: GEGEN-WELTEN UND ULTRA-DINGE: DON QANON DE LA MANCHA“ weiterlesen

Eva Axer: ZfL-JAHRESTHEMA 2022/23 – GEGENWELTEN

Die Pandemie hat uns einen neuen Zeitgenossen beschert – den ›Corona-Leugner‹. Wo etwas geleugnet wird, gibt es eine Wahrheit, die verdeckt, verfälscht oder verneint wird. Schon beim Begriff ›Klimawandel-­Leugner‹ drängte sich die Einsicht auf, dass uns eine gemeinsame Welt abhanden gekommen ist, in der man auf der Grundlage allseits anerkannter Fakten verschiedene Meinungen haben und unterschiedliche Ansichten vertreten kann. Die Rede von Corona- und Klimawandel-Leugnern verweist auf die Existenz von Gegenwelten. Das Spektrum reicht von tendenziell paranoischer Wissenschaftsskepsis bis hin zur Negation anerkannter Tatsachen. „Eva Axer: ZfL-JAHRESTHEMA 2022/23 – GEGENWELTEN“ weiterlesen