Oliver Precht: GEGEN-WELTEN UND ULTRA-DINGE: DON QANON DE LA MANCHA

Gegenwelten, so eine sozialwissenschaftliche Definition, entstehen, wenn sich Teile der Gesellschaft von »etablierten Denk- und Verhaltensweisen« abwenden und »alternative Vorstellungen über bestehende politische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten« entwickeln.[1] Häufig verweist das Wort auf das viel diskutierte und schwer fassbare Phänomen des ›Postfaktischen‹. Zugleich legt die Rede von ›Gegenwelten‹ die Frage nahe, ob jene Teile der Gesellschaft tatsächlich nur »alternative Vorstellungen« entwickeln oder nicht vielmehr ›in ihrer eigenen Welt leben‹.

Im gängigen Verständnis des Postfaktischen werden die menschliche Psyche charakterisierende Mechanismen (die als confirmation bias bezeichnete Neigung, Informationen gemäß unseren Erwartungen und Interessen auszuwählen) durch neuere technologische Entwicklungen verstärkt (die Möglichkeit, durch Algorithmen und bewusste Selektion in Social-Media- und Messengerdiensten ›Filterblasen‹ oder ›Echokammern‹ zu kreieren) und durch eine Manipulationsstrategie (die verzerrte Darstellung des wissenschaftlichen Konsenses durch eine vermeintlich ausgeglichene Berichterstattung mittels sogenanntem balanced coverage) gezielt ausgenutzt.[2] Kommen diese Faktoren zusammen, lassen sich geschlossene ›Weltbilder‹ erzeugen, die in wahnhafte Weltverschwörungstheorien umschlagen können. Die inzwischen weltweit bekannte QAnon-Bewegung dürfte das bekannteste Beispiel sein. Viele Analysen des Postfaktischen beschreiben zwar wie, erklären aber nicht, warum es zu einer weltweiten Bedrohung geworden ist.

Mitte des 20. Jahrhunderts argumentierte der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, dass ein ›Weltbild‹ oder eine ›Welt­anschauung‹ ein relativ spätes Produkt der kindlichen Entwicklung ist. Bis dahin lebe das Kind in einer vor-objektiven Wahrnehmungswelt, die weniger durch einen Mangel an Rationalität oder Kohärenz, als vielmehr durch deren Beschränkung auf einen engeren Radius bestimmt sei. Um den Unterschied zwischen der kindlichen und der Erwachsenenwelt zu begreifen, berief sich Merleau-Ponty in seinen entwicklungspsychologischen Vorlesungen auf den von Henri Wallon eingeführten Begriff der »Ultra-Dinge«:

»Dinge, die sich nicht in seiner [des Kindes] Reichweite befinden, die es nicht durch den Blick zu erfassen vermag und deren Aspekte es durch kontrollierte Ortsveränderungen seines Leibes nicht willkürlich variieren kann.«[3]

Entgegen der damals weit verbreiteten Auffassung, Kinder lebten in einer ›magischen‹ Welt, in der die Beziehungen zwischen den Dingen unbeständig, unlogisch und inkohärent seien, ging Merleau-Ponty davon aus, dass derartige ›magische‹ Beziehungen allein im Verhältnis zu den Ultra-Dingen an der Peripherie der Wahrnehmungswelt, beispielsweise zu den Himmelskörpern, bestehen. Das Kind würde auf eine magische Erklärung nur widerstrebend und in Ausnahmefällen zurückgreifen, etwa um sich die Sterne am Himmel zu erklären, die Bewegung näherer Dinge jedoch kausal konsistent und kohärent erfassen.

Nach Merleau-Ponty bestehen Ultra-Dinge an den Rändern der Erwachsenenwelt, wenn auch stark dezimiert, fort. Erwachsene verlassen die Situation des Kindes demnach nie vollständig, sondern erweitern lediglich den Radius ihrer Wahrnehmung und ihres Verhaltens. Umgekehrt können sie den Radius aber auch wieder verkleinern. Durch eine Art Rückzug kann dann eine große Anzahl von Ultra-Dingen entstehen, die weitaus näher sind als der Mond, die Sterne oder andere Ultra-Dinge der Kinderwelt. So entsteht ein fruchtbarer Boden, auf dem Gegenwelten gedeihen und als Weltverschwörung zur Blüte kommen können. Diese Gegenwelten verdanken sich in dieser Perspektive dann nicht in erster Linie einem gesteigerten Kohärenzbedürfnis,[4] sondern einer Proliferation von Ultra-Dingen, die wie die berühmten Windmühlen und Hammelherden in Cer­vantes’ Don Quijote am Horizont der Wahrnehmung zu magischen Interpretationen einladen. Die Ritterromane, die Don Qui­jote liest, wären demnach nicht der Grund für das Entstehen seiner Gegenwelt. Sie liefern nur das Material, um die Ränder mit Ultra-Dingen zu befüllen, die durch Regression in eine heroische Welt entstanden sind.

Wenn es ein die Bewohner verschiedener Gegenwelten vereinendes Band gäbe, dann könnte es die Flucht aus der als fremdbestimmt wahrgenommenen Welt in eine heroisch geprägte Gegenwelt sein, die sich dem Verstehen und Handeln nicht länger entzieht, sondern sich in eine Bühne für die jeweils eigenen, individuellen Abenteuer verwandelt. Entscheidend ist nicht so sehr, was auf dieser Bühne erscheint, sondern wie es erscheint. Die eigenen Abenteuer kennen nur solche Widerstände, die sich durch die Willenskraft, den Scharfsinn und den Heroismus des Individuums überwinden lassen.[5]

Die für die Gegenwelten charakteristische Mischung aus Fragilität und Stabilität könnte dann eine Erklärung finden: Immer wenn eines der Ultra-Dinge in den engeren, durch­aus kohärenten Bereich der Lebenswelt vordringt, kann die Gegenwelt entweder zusammenbrechen oder der heroische Weltbezug kann die Oberhand behalten. Nach dem Eindringen der Ultra-Dinge in die vertraute Lebenswelt meldet sich Sancho Panza zu Wort: »Habe ich Euch nicht gesagt, Ihr sollt achtgeben, es sind nichts als Windmühlen, was nur einer in den Wind schlagen kann, dem sich selbst eine Mühle im Kopf dreht?« Der Ritter von der traurigen Gestalt antwortet: »Still Sancho […], das Kriegsglück ist, mehr denn jedes andere, stetem Wandel unterworfen, und erst recht, weil ich denke, und so ist es auch, dass der weise Zauberer Fréston […] die Riesen in Mühlen verwandelt hat, um mir den Ruhm des Sieges zu nehmen, so sehr ist er mir feind.«[6]

Den Don Quijotes der Gegenwart ist solche ›Zauberei‹ nicht fremd. Bei dem heroischen Sturm auf eine Pizzeria in Washington D.C., in deren Keller QAnon-Anhänger einen satanistischen Pädophilenring vermuteten, stellte der Angreifer Edgar Maddison Welch zwar fest, dass das Gebäude gar nicht unterkellert war. Doch der Bann war damit keineswegs gebrochen. Der Moment der Entzauberung wurde vielmehr zum Beweis, dass mächtigere Kräfte am Werk sein müssten. Vielen QAnon-Anhängern erschien der Angreifer bereits wenige Tage nach der Tat als ›Marionette‹, deren inszeniertes Scheitern ihre Bewegung diskreditieren und zerstören sollte. Die Konsolidierung der Gegenwelt ist hier der eigentliche Moment der Zauberei, die dann zur Erklärung für das eigene Scheitern und den punktuellen Zusammenbruch der Gegenwelt umfunktioniert wird. Der heroische Ritter wird selbst zu einem Ultra-Ding.

Wie aber lässt sich die Konsolidierung von Gegenwelten verhindern? Indem man ihren Bewohnern, wie Sancho Panza, an den Kopf wirft: »Wir haben es euch doch immer schon gesagt«? Nein, denn das setzte voraus, dass Gegenwelten nichts weiter als Fehlinterpretationen einer geteilten Welt sind, die durch Belehrung und Überzeugungsarbeit ausgeräumt werden können. Die um den heroischen Ritter zentrierte Gegenwelt lässt sich nicht durch einen wissenschaftlich-aufklärerischen Heroismus beseitigen, für den der Unterschied zwischen der eigenen und der Gegenwelt mit demjenigen von Wissen und Nicht-Wissen zusammenfällt und somit selbst zu einem Widerstand wird, den nur der eigene Scharfsinn und die eigene Willenskraft über­winden können.

Vielleicht gilt es stattdessen einen Zwischenbereich zu betreten, der aber laut Merleau-Ponty selbst nie gänzlich frei von Zauberei ist:

»So wie Spiegel, die man im Kreis aufstellt, eine kleine Flamme in eine Zauberwelt verwandeln, so nehmen auch die Handlungen […], wenn sie sich in der Konstellation verschiedener Bewusstseine spiegeln, eine andere Gestalt an, und die Spiegelungen dieser Spiegelungen schaffen einen Anschein, welcher der eigentliche Ort […] der historischen Tat ist.«[7]

In der Wahrnehmungswelt – jenem Zwischenbereich, in dem sich für Merleau-Ponty die geteilte Geschichte abspielt – können zwar alle Handlungen verdinglicht und verzaubert werden, doch nur dort können sie auch wieder entzaubert, kann die Grenze der Ultra-Dinge wieder verschoben werden. Der unabschließbare Übergang in die Erwachsenenwelt, in der »der Mensch dem Menschen kein Zauberer mehr ist«,[8] ist kein individueller, sondern ein sozialer, vielleicht sogar weltgeschichtlicher Prozess.

 

Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Oliver Precht arbeitet am ZfL mit seinem Projekt »Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–1995)«. Sein Beitrag wurde erstmals auf dem Faltblatt des ZfL zum »Jahresthema 2022/23, Gegenwelten« veröffentlicht.  

 

[1] Nina Leonhard/Astrid Mignon Kirchhof: »Einführung: Gegenwelten«, in: Geschichte und Gesellschaft (Themenheft: Gegenwelten), 41.1 (2015), S. 5–16, hier S. 7.

[2] Vgl. exemplarisch Lee McIntyre: Post-Truth, Cambridge, MA 2018.

[3] Maurice Merleau-Ponty: Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne (1949–1952), hg. v. Bernhard Waldenfels, übers. v. Antje Kapust, München 1994, S. 251.

[4] Für viele Autor*innen ist das Bedürfnis nach Kohärenz der entscheidende Faktor für die Herausbildung von Gegenwelten. So schreibt etwa Nicola Gess, dass im Universum des Postfaktischen »die narrative Kohärenz oder die Konsensfähigkeit einer Aussage über deren Erfolg entscheidet, nicht aber die ›Unterscheidung von Wahrheit oder Unwahrheit‹«, in: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin 2020, S. 8.

[5] Ausgehend von Luc Boltanskis Untersuchungen zur Kriminal- und Spionageliteratur, die in vielerlei Hinsicht an die Stelle der Ritterromane getreten ist, ließe sich dieser heroische Weltbezug dahingehend näher bestimmen, dass er wesentlich ›enthüllend‹ ist: Die Ritter der Gegenwart verstehen sich als heroische Detektive und Geheimagenten. Vgl. dazu Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, übers. v. Christine Pries, Berlin 2013.

[6] Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha, hg. u. übers. v. Su­sanne Lange, München 2008, S. 77.

[7] Maurice Merleau-Ponty: »Anmerkung zu Machiavelli«, in: Zeichen, hg. u. übers. v. Christian Bermes, Hamburg 2007, S. 311–331, hier S. 319.

[8] Merleau-Ponty: Keime der Vernunft (Anm. 3), S. 236.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Oliver Precht: Gegen-Welten und Ultra-Dinge: Don Qanon de la Mancha, in: ZfL BLOG, 4.5.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/05/04/oliver-precht-gegen-welten-und-ultra-dinge-don-qanon-de-la-mancha/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220504-01

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