Maud Meyzaud: AL-ANDALUS – EINE GEGENWELT INMITTEN EUROPAS

I.

Noch in den 1980er Jahren stand in französischen Geschichtslehrbüchern dieser Satz: »732: Charles Martel arrête les Arabes à Poitiers.« Wie konnte ein Mann namens Charles Martel im Alleingang so viele Menschen auf­halten, mag sich so manches Schulkind gefragt haben. Und was machten die sogenannten Araber überhaupt im tiefen französischen Westen? Der Satz über die Schlacht von Poitiers fand im 19. Jahrhundert Eingang in Unterrichtsmaterialien, als die Kolonialpolitik Frankreichs sich auf den Maghreb ausdehnte. Er brachte die mutmaßliche Überlegenheit des Westens über die vermeintlich rückständige islamische Welt zum Ausdruck und fügte sich somit nahtlos in jenen Orient-Diskurs ein, den Edward Said in seinem grundlegenden Werk Orientalism analysiert hat. So erklärt sich auch, dass der Satz in Algerien noch während des Unabhängigkeitskriegs 1954–­1962 von den einheimischen Kindern auswendig gelernt werden musste.[1]

Heute steht der Satz für eine größere, keineswegs geschlagene ideologische Schlacht: Französischen Rechtsradikalen dient er seit Jahren als ein Beleg für Huntingtons These vom clash of civilizations. Jean-Marie Le Pen rückte den berüchtigten Charles, der zwar in einer mittelalterlichen Geschichts­chronik von seinem Helfer Christus unterstützt wurde, davon abgesehen aber eher für die Plünderung von Kirchengütern bekannt war, schon um die Jahrtausendwende in die Nähe der im Diskurs der Rechten fest etablierten Jeanne d’Arc. Eine unerwartete Aktualität erlangte Martel im Januar 2015 nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und der Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt. Während Millionen Menschen in Frankreich auf die Straße gingen und sich die Hashtags #JeSuisCharlie, #JeSuisAhmed und #JeSuisJuif rasant verbreiteten, berief sich Le Pen auf Twitter auf den vermeintlichen Retter des christlichen Abendlandes: »Je suis Charlie Martel«.[2]

Zu größerer Bekanntheit war die Schlacht von Poitiers erst im frühen 18. Jahrhundert gelangt: Voltaire bedauerte, dass sich durch den Sieg von Charles Martel die Aufklärung in Europa um Jahrhunderte verzögert hatte.[3] Damit vermittelte auch die islamophile Aufklärung das Bild zweier einander gegenüberstehender Zivilisationen, einschließlich der Vorstellung, dass die eine der anderen zwangsläufig überlegen sein müsse und das Schick­sal der Menschheit davon abhinge, wer am Ende wen besiegt. Um 1800 drehte der gegenrevolutionäre Schriftsteller François René de Chateau­briand das Argument um. Angesichts des Schreckgespensts einer Eroberung der gesamten Welt durch die ›Mohammedaner‹ führte er die Schlacht von Poitiers ins Feld, um die Kreuzzüge zu verteidigen. Als Frankreich 1830 Algerien eroberte, entstand schließlich jene Formel von der mission civilisatrice, die Kolonisierung und Zivilisierung gleichsetzte. Zusammen mit der französischen Laizität sollte sie später in das Erbe der Dritten Republik eingehen.

In Poitiers standen sich unter der Führung von Charles Martel und Abd ar-Rahman zwei Kriegsparteien gegenüber, die sich in gewisser Hinsicht nicht unähnlich waren. Die einen plünderten Kirchen und bekriegten sich vornehmlich untereinander, die anderen wagten sich von Süden her kommend bei einem ihrer zahlreichen Raubzüge bis weit in den Norden vor. In den jeweils anderen sahen sie ›Heiden‹ bzw. ›Ungläubige‹. Histo­riker*innen be­tonen mittlerweile, wie anachronistisch die Vorstellung vom Zusammenprall einer ›christlichen‹ und einer ›muslimischen‹ bzw. ›islamischen‹ Zivilisation in diesem Zusammenhang ist. Wenn der Begriff der ›Zivilisation‹ hier anwendbar sein soll, bedarf er einer anderen Konturierung. Als Oberbegriff für eine hegemoniale Einheit, die über die Grenzen einzelner Kulturen hinausgeht, ließe sich der Begriff allenfalls auf die eine mittelalterliche islamische Zivilisation anwenden, deren Handelsrouten zeitweise bis nach Indien und China reichten. Die ältere Weltgeschichtsschreibung hat für die analytische Beschreibung der Komplexität dieser vormodernen Wirklichkeit eine Reihe von Neologismen geprägt. Mit Begriffen wie Islamdom, islamicate und Afro-Eurasian ecumene sollte eine hegemoniale Macht erfasst werden, der gegenüber Europa sich im frühen 8. Jahrhundert weltgeschichtlich – und noch für lange Zeit – an der Peripherie befand.[4]

II.

Die spezifisch französische Sicht auf die Schlacht von Poitiers hat die periphere Position des damaligen Europas unkenntlich werden lassen. Verdrängt wurde damit vor allem, dass zu diesem Zeitpunkt südlich von Poitiers islamische Herrscher nicht nur Nordafrika, sondern auch weite Teile Europas erreicht hatten. Al-Andalus, das islamische Spanien (711–1492), war zum Zeitpunkt der Schlacht weit mehr als ein islamischer Außenposten auf europäischem Boden. Nicht nur, dass sich die Grenzen zwischen al-Andalus und dem kastilischen Spanien im Zuge der jahrhundertelangen Reconquista ständig verschoben, sie waren auch ausgesprochen durchlässig für Sprachen, Wissen und Literatur. Diese inter- und transkulturelle Gegenwelt von al-Andalus hat in der philosophischen und literarischen Tradition Europas vielfältige Spuren hinterlassen.

Angesichts des Miteinanders verschiedener Religionen lässt sich die Welt, die die ursprünglich aus Mekka stammenden Umayyaden auf der iberischen Halbinsel eingerichtet hatten, als ein Gegenentwurf zum ›christlichen Europa‹ betrachten, dessen Religionspolitik vor allem das Instrument der (Zwangs-)Christianisierung kannte. Eine Gegenwelt ist al-Andalus deshalb, weil hier vor dem Hintergrund der Duldung und des Schutzes von Andersgläubigen, den das damalige islamische Recht bot, ein gemeinsamer Raum für alle drei monotheistischen Religionen entstehen konnte. Auch wenn die Toleranz im islamischen Spanien pragmatisch bedingt gewesen sein mag, entwickelte sich hier eine wechselseitige Hilfsgemeinschaft und eine Welt der transkulturellen Interdependenz. Ab dem 10. Jahrhundert ging von Córdoba und Granada eine Förderung der jüdisch-arabischen Gelehrtenkultur einschließlich der dazugehörigen Infrastrukturen aus, wodurch ein weitreichender Wissenstransfer möglich wurde. Bis heute ist al-Andalus unter dem Schlagwort Convivencia Gegenstand von Projektionen, Polemiken und Aktualisierungsversuchen.

Für die Wissensmigrationen in das mittel­europäische Europa erweist sich im 12. Jahr­hundert das von der kastilischen Krone zurückeroberte Toledo als zentraler Umschlagplatz. Durch das Werk der Übersetzerschule von Toledo wurden zahlreiche Schriften arabischer und jüdischer Philosophen und Dichter aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen. Es ging jedoch um weit mehr als nur die schlichte Übertragung aus einer Ausgangs- in die Zielsprache, wie Gerald Raunig in einer fiktionalen Szene auf Grundlage historischer Quellen dargestellt hat.[5] Darin lernt der junge Ibn Rushd (Averroes), dessen Kommentare zu Aristoteles’ Werken bis weit in die italienische Renaissance hinein die europäische Gelehrsamkeit prägen sollten, in Toledo ein mehrsprachiges Denken kennen, das Arabisch schreibende Christen und Juden wie auch Mudejaren (Muslime, die nach 1085 trotz christlicher Herrschaft in Toledo blieben) um Ibn Sīnās Kompendium der Seele versammelt. Der junge Philosoph beobachtet so den Austausch zwischen dem Hocharabischen, dem Hebräischen, dem gesprochenen vernakularen Kastilischen, dem gesprochenen andalusischen Arabischen und dem Lateinischen.

Über Jahrhunderte hinweg verbreiteten sich aufgrund innerer und äußerer Migrationen die komplexen Hinterlassenschaften des islamischen Spaniens und der Reconquista in Richtung Norden. Miguel de Cervantes verweist auf die Gelehrtenkultur von al-Andalus und auf die im Zuge der Reconquista zum Christentum zwangskonvertierten Muslime, die Morisken, indem er den Erzähler des Don Quijote auf dem Markt von Toledo ein Manuskript des fiktiven Historikers Cide Hamete Benengeli finden lässt, der als der wahre Autor des Don Quijote inszeniert wird.[6] Die autobiographische Form des pikaresken Romans (beispielsweise des Lazarillo de Tormes, 1554) legt wiederum einen engen Bezug zu den Überlebensstrategien der sogenannten Marranen nahe, jenen zum Katholizismus konvertierten spanischen Juden, die im Geheimen weiterhin jüdische religiöse Praktiken pflegten.[7] Spuren des Marranismus führen auch in Richtung Bordeaux – in Michel de Montaignes Essais ist eine »marranische Zugehörigkeit« angedeutet[8] – oder nach Amsterdam zu Baruch de Spinoza.

Lassen wir also Charles Martel, den Großvater von Karl dem Großen, in Poitiers. Denn für die Genese einer europäischen Kultur waren ganz andere Prozesse von Bedeutung. Die Geschichte von der Begegnung ›Europas‹ mit den ›Arabern‹ wird heute in Frankreich übrigens ganz anders erzählt. Eine audiovisuelle Dokumentation des Fernsehsenders France TV in Koproduktion mit dem Pariser Institut du monde arabe heißt Nos ancêtres sarrasins: »Unsere sarazenischen Vorfahren«.

 

Die Literaturwissenschaftlerin Maud Meyzaud ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL mit dem Projekt »Al-Andalus und die Anfänge des Orientalismus: ›Ḥayy ibn Yaqẓāns‹ Reise durch die europäische Aufklärungszeit«. Ihr Beitrag wurde erstmals auf dem Faltblatt des ZfL zum »Jahresthema 2022/23, Gegenwelten« veröffentlicht.  

 

[1] Vgl. Salah Guemriche: »Comment le mythe de Charles Martel et de la bataille de Poitiers en 732 s’est installé dans l’histoire«, in: Le Monde, 5.6.2015.

[2] William Blanc/Christophe Naudin: »Charles Martel, une récupération identitaire«, in: Mondes Sociaux, 17.5.2016.

[3] Dieses Argument hat sich in jüngerer Zeit auch der Historiker David Levering Lewis zu eigen gemacht: God’s Crucible: Islam and the Making of Europe, 570–1215, New York 2008.

[4] Vgl. Marshall G. S. Hodgson: The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization, 3 Bde., Chicago/London 1974.

[5] Gerald Raunig: Ungefüge: Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Bd. 2, Wien u. a. 2021, S. 31–61.

[6] Vgl. Monika Walter: »Der Hochstapler Don Quijote. Zu den arabischen Wurzeln seiner Verstellungskunst«, in: PhiN-Beiheft 8 (2014), S. 149.

[7] Vgl. Yirmiyahu Yovel: The Other Within. The Marranos. Split Identity and Emerging Modernity, Princeton/Oxford 2009.

[8] Vgl. Susanne Zepp: Herkunft und Textkultur. Über jüdische Erfahrungswelten in romanischen Literaturen 1499–1627, Göttingen 2010, S. 109–133.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Maud Meyzaud: Al-Andalus – Eine Gegenwelt inmitten Europas, in: ZfL BLOG, 13.5.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/05/13/maud-meyzaud-al-andalus-eine-gegenwelt-inmitten-europas/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220513-01

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