Leander Scholz: SYMBIOTISCHE EXISTENZEN – ZUR GESCHICHTE DES ÖKOLOGISCHEN IMAGINÄREN

I.

Am zweiten Wochenende des Oktobers 1913 versammelten sich weit über zweitausend junge Frauen und Männer auf dem Hohen Meißner in Hessen. Eingeladen zu diesem Treffen hatte eine lose Vereinigung von Jugendbünden, die den patriotischen Auswüchsen des Kaiserreichs etwas entgegensetzen wollten. Denn im gleichen Monat fanden die offiziellen Festakte zum hundertjährigen Jubiläum der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig statt, in der die napoleonischen Truppen ihre entscheidende Niederlage erlitten hatten. Anlässlich des Rückblicks auf dieses historische Ereignis sollte ein monumentales Denkmal eingeweiht werden.

Zu den jugendlichen Gegnern der Reichspolitik gehörten Gruppierungen der Wandervögel und Lebensreformer, die sich für einen fundamentalen Wandel einsetzten. Ihr politisches Ziel war es, die Geschlossenheit einer Jugendbewegung zu demonstrieren, die nichts mehr mit den alten Feindschaften zu tun hatte. Die Alternativveranstaltung war als ein »Fest der Jugend« gedacht, das die Sehnsucht nach einem anderen Leben zum Ausdruck bringen sollte. Die Bewegung forderte unter anderem ein neues Naturverhältnis, das den Ausgangspunkt einer sozialen und ökologischen Gegenwelt zur modernen Gesellschaft mit ihren zerstörerischen Tendenzen bilden sollte.

Das Grußwort zu diesem »Ersten Freideutschen Jugendtag« hat Ludwig Klages geschrieben, abgedruckt in der Festschrift unter dem Titel Mensch und Erde. Es gilt als ein frühes Manifest der ersten Umweltbewegung in Deutschland. Der Text beginnt mit einer »Totenliste«, in der die Pflanzen und Tiere aufgezählt werden, die bereits durch die Menschen ausgerottet wurden, und zeichnet das Bild einer geschändeten Erde:

»Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die ›Zivilisation‹ trägt die Züge entfesselter Mordlust, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch.«[1]

Die Bilanz des Fortschritts, die Klages mit Blick auf die vergangenen zwei Jahrhunderte zieht, fällt verheerend aus. Der »moderne Vernichtungskrieg« der Menschen gegen die Natur münde in einer »Selbstzersetzung des Menschentums«.[2] Das Grußwort endet mit einer Mahnung zur Umkehr, die sich in der Hoffnung auf eine neue Zivilisation an die versammelten Jugendlichen richtet.

In der Kritik steht bei Klages alles, was die neuzeitliche Philosophie zu bieten hat. Der Lebensphilosoph rechnet das gesamte Gerüst der modernen Rationalität einem »Logozentrismus« zu, der für die Unfähigkeit der europäischen Zivilisation verant­wort­lich sei, die Konsequenzen ihres Handelns zu begreifen:

»Mit jeder Tatsache, die es findet, hat sich das findende Ich in die geurteilte Welt hinausverlegt. Die Objekte sind entfremdete Subjekte, und das Sein überhaupt ist entfremdeter Geist. Darnach wäre ›Erkenntnis‹ das Ergebnis einer logozentrischen Umdeutung des Wirklichen und, falls nur die Menschheit dem Logos zur Stätte dient, auch einer anthropozentrischen.«[3]

Im Zuge einer neuen ›biozentrischen Meta­physik‹ solle daher an die Stelle moderner Subjekte eine kosmische Gemeinschaft aller Lebensformen treten, deren Horizont prinzipiell die gesamte Erde darstellt. Bemerkenswert dabei ist, dass Klages im Unterschied zu einigen Lebensphilosophien seiner Zeit nicht den ›Kampf ums Dasein‹ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hat. Im Gegenteil, die Evolutionstheorie und alle sozialdarwinistischen Zuspitzungen gelten ihm als Ausläufer einer Moderne, die nicht in der Lage ist, die zahlreichen Symbiosen wahrzunehmen, die »durch das ganze Tierreich und über die ganze Erde verbreitet sind«.[4]

An die Stelle der Konkurrenz zwischen den Lebewesen rückt im Programm des Kosmologen deren planetarische Verbundenheit. Die politische Ökonomie, die im 19. Jahrhundert nicht nur die maßgeblichen Fassungen des menschlichen Soziallebens geprägt hat, sondern auch die revolutionäre Erklärung der Entstehung der Arten, gehört zu den Wissensbeständen, die es für Klages zu überwinden gilt, will das »Menschentum« weiterhin existieren. Die ökologischen Gegenwelten beginnen mit einem neuen Blick auf die Natur, in der nicht mehr die »höheren Raubtiere« das entscheidende Prinzip verkörpern, sondern die »Pflanzenseele« und das Vegetative mit seiner »Gabe der Wandlung einer es durchdringenden Umwelt«.[5]

Wie viele konservative Zivilisationskritiker seiner Zeit hat sich auch Klages von den Nationalsozialisten eine Umsetzung seines Programms erhofft. Dabei passte der von Nietzsche übernommene Antichristianismus und Antijudaismus, dem Klages eine antisemitische Wendung gab, problemlos zu dem Versuch einer Allianz mit den neuen Machthabern und ihrem Rassenwahn. Selbst große Teile der emanzipatorischen Jugend umarmten den faschistischen Vitalismus. Dass die völkische Bewegung dem modernen ›Willen zur Macht‹ jedoch keinen Einhalt gebot, sondern ihn auf allen Ebenen zu einer ›totalen Mobilmachung‹ steigerte, gehörte zu den Enttäuschungen des Antimilitaristen, der bereits angesichts der Kriegsbegeisterung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs in die Schweiz ausgewandert war. Aber auch dieses politische Bündnis und die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, die über die demokratischen Formen des Liberalismus hinausgeht, gehören zum Erbe der ersten Umweltbewegung und ihrer ›tellurischen Wende‹, die nicht nur Klages als Zeichen einer neuen ökologischen Epoche verstanden hat.

II.

Im Kontext der zweiten Umweltbewegung, die zeitgleich mit den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit entstand, hat die Biologin Lynn Margulis in ihrem Buch Symbiotic Planet (1998) eine Sicht auf die Evolution entfaltet, bei der ebenfalls nicht die Konkurrenz der Lebewesen maßgeblich ist, sondern deren Verbundenheit. Von der Zellsymbiose bis zur Symbiose zwischen Tieren und Bakterien seien gewissermaßen alle Lebewesen symbiotisch. Kaum ein Lebewesen lebt allein. Auf Dauer sind aus solchen Partnerschaften neue Spezies hervorgegangen, ohne die es keine Evolution auf der Erde gegeben hätte:

»Wir sind Symbionten auf einem symbiontischen Planeten, und wenn wir genau hinschauen, finden wir überall Symbiose. Für viele verschiedene Arten von Leben ist dieser körperliche Kontakt unentbehrliche Lebensbedingung.«[6]

Die Fokussierung der Kooperation anstelle der Konkurrenz verändert die Auffassung des Lebendigen, nicht nur als Naturordnung, sondern ebenso als Sozialordnung. Symbiosen produzieren die Lebensbedingungen aller Lebewesen, auch der Menschen. Ihre Erforschung bringt nicht nur neues Wissen hervor, sondern auch eine neue Selbstdeutung der menschlichen Gesellschaft:

»Nach meiner Vermutung wird es für die Zukunft der Spezies Homo sapiens schon sehr bald notwendig sein, sich der Verschmelzung und Vermischung unserer Mitbewohner auf der Erde, die uns im Mikrokosmos vorausgegangen sind, bewusster zu werden.«[7]

Ausgehend von ihren Arbeiten zur Evolutionsbiologie hat Margulis in der zentralen Rolle der Symbiose einen Beleg für die Gaia-Hypothese des Biophysikers James Lovelock gesehen. Benannt nach der personifizierten Erde in der griechischen Mythologie, ist damit das irdische Lebenssystem gemeint, das wie ein einziger Organismus betrachtet werden soll, der sich selbst erhält. Alle Lebewesen der Biosphäre sorgen demnach mit ihrer Interdependenz zusammen für ein chemisch und physikalisch stabiles Milieu als Grundlage ihrer Existenz. Sie halten den Salzgehalt in den Meeren konstant und begrenzen die Schwankungen des Klimas.

Im Unterschied zu den Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts, bei denen die Anpassungsleistungen des Lebens an seine Umgebung im Zentrum standen, ist das Leben hier schöpferisch und schafft sich seine Umgebung selbst. Aus der Physiologie der Erde wird ein gemeinschaftliches Produkt aller Lebewesen. Da diese in der Lage sind, die Bedingungen ihrer Existenz selbst zu gestalten, stellt ihre Interdependenz nun die entscheidende Größe des Planeten dar. Die Gemeinschaft des Lebendigen erscheint jetzt nicht mehr nur als eine ökologische Gegenwelt zu den überkommenen politischen Traditionen, sondern wird zum bestimmenden Faktor für die Zukunft der Menschheit. Will diese überleben, muss sie die verschiedenen Dimensionen ihrer symbiotischen Existenz verstehen lernen.

III.

In der Fernsehserie Sense8, die in Zusammenarbeit der Geschwister Wachowski mit J. Michael Straczynski entstanden ist, wird diese Thematik als Programm einer gesellschaftlichen Avantgarde entfaltet. Eine Gruppe von Menschen entdeckt nach und nach ihre unfreiwillige symbiotische Existenz. Die acht Protagonisten sind sich bis dahin noch nie begegnet, leben in verschiedenen Teilen der Welt, gehören verschiedenen Kulturen an und sind auch in sexueller Hinsicht divers. Es dauert eine Weile, bis sie herausfinden, dass zwischen ihnen eine enge Verbindung besteht, die es möglich macht, nicht nur einzelne Erinnerungen und Wahrnehmungen, sondern auch besondere Fähigkeiten in der Gruppe zu teilen. Sie müssen ihre symbiotische Existenz erst begreifen, um zu erkennen, welche ungeheuren Möglichkeiten sie ihnen bietet. Als Erklärung für dieses Phänomen, mit dem nicht nur die acht Protagonisten, aber eben nicht alle Menschen konfrontiert sind, bietet die Fernsehserie an, dass es sich um eine andere Spezies mit dem Namen ›Homo sensorium‹ handelt, die sich als evo­lutionärer Seitenstrang zugleich mit dem Homo sapiens herausgebildet hat. Im Unterschied zum aggressiven Verhalten der dominanten Menschenart ist die neue Spezies mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden. Auch diese Fantasie einer neuen gemeinschaftlichen Existenz, mit der die modernen Konzepte zum ›Neuen Menschen‹ noch übertroffen werden, gehört zum ökologischen Imaginären im Zwischenraum von Politik und Natur.

 

Der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz  ist Forschungsstipendiat im Programmbereich LebenswissenSein Beitrag wurde erstmals auf dem Faltblatt des ZfL zum »Jahresthema 2022/23, Gegenwelten« veröffentlicht.

 

[1] Ludwig Klages: Mensch und Erde (1913), in: ders.: Mensch und Erde. Sieben Abhandlungen, Jena 1938,
S. 11–41, hier S. 26.

[2] Ebd.

[3] Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele (1929–1932), Bonn 1981, S. 121.

[4] Klages: Mensch und Erde (Anm. 1), S. 13.

[5] Klages: Der Geist als Widersacher der Seele (Anm. 3), S. 1111.

[6] Lynn Margulis: Der symbiotische Planet oder Wie die Evolution wirklich verlief, Frankfurt a. M. 2017, S. 14.

[7] Ebd., S. 21.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Leander Scholz: Symbiotische Existenzen – Zur Geschichte des ökologischen Imaginären, in: ZfL BLOG, 23.5.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/05/23/leander-scholz-symbiotische-existenzen-zur-geschichte-des-oekologischen-imaginaeren/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220523-01

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