Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie French Theory (oder in jüngerer Zeit auch Italian Theory)[1] herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm.[2] Dennoch bietet die Rede von einer French Theory – im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Frankreich entstandenen und popularisierten Sammelbegriffen Poststrukturalismus oder Postmoderne – einige Vorteile. Sie verpflichtet die disparaten Theorien erstens nicht auf ein gemeinsames Programm und verweist zweitens darauf, dass die Produktion von Theorie an einem bestimmten Ort geschieht, in diesem Fall im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre, und ihre Entstehung an einen gesellschaftlich-politischen Kontext sowie an institutionelle Rahmenbedingungen gebunden ist. In jüngerer Vergangenheit drängt sich zunehmend die Frage nach einer möglichen Brazilian Theory auf. Bereits 2014 erschien in Deutschland, allerdings in englischer Sprache, unter dem Titel The Forest and the School eine erste Anthologie.[3] In den folgenden Jahren nahm das Interesse an Theorie aus (und über) Brasilien spürbar zu, was sich nicht zuletzt in einer Reihe von Übersetzungen niederschlug.[4] Als Timo Luks diese Entwicklung 2020 unter dem Titel »Brasilianische Interventionen« im Merkur reflektierte, konnte er bereits feststellen: »Brasilen ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken«.[5] Selbst von einer sich andeutenden »Brasilianisierung der Theorie« ist hier die Rede.
Anthropophagie und Anthropologie
Doch lässt sich angesichts der zunehmend vernetzten, internationalen und multilingualen Welt, in der diese Theorie entsteht, überhaupt noch sinnvoll das Label eines Nationalstaats verwenden? Für Luks jedenfalls sind es vor allem zwei Charakterzüge, die es erlauben, in einem emphatischen Sinn von einer ›brasilianischen‹ Theorie zu sprechen. Zunächst verweist er auf die weit verbreitete kreative Aufnahme des Konzepts der ›Anthropophagie‹, das von den modernistischen Avantgarden der 1920er Jahre auch als Antwort auf die Frage nach einer eigenständigen brasilianischen Identität entwickelt wurde – eine Identität allerdings, die im Kern Nicht-Identität ist. Methode und Ziel der symbolischen ›Verschlingung‹, des kulturellen ›Kannibalismus‹, den die Gruppe um Oswald de Andrade seinerzeit vertrat, lassen sich als eine Art universalisierte ›kulturelle Aneignung‹ beschreiben, die aber gerade durch ihre Universalisierung und Radikalisierung auf eine allgemeine ›Enteignung‹ kultureller Werte und Artefakte abzielt: Produkt dieser intellektuellen und künstlerischen Praxis wäre eine brasilianische Nicht-Identität, die respektlos alle Kulturen verschlingt, sie mundgerecht zerlegt, verzehrt und in Neues verwandelt.
Diese in den 1920er Jahren entwickelte Idee einer ›Verschlingung‹ und ›Verdauung‹ feierte in den 1960er Jahren, insbesondere im Umkreis des »anderen«,[6] brasilianischen 68 eine Renaissance und wurde selbst wiederum in der brasilianischen Literatur und Musik, in der Kunst und im Kino auf vielfältige Weise angeeignet und weiterentwickelt.[7] Darüber hinaus kam sie bei dem in Brasilien lehrenden Anthropologen Claude Lévi-Strauss (der Oswald de Andrade persönlich kannte), mehr noch aber bei seinem Schüler Eduardo Viveiros de Castro zu theoretischen Ehren: ›Anthropophagie‹ wurde so nicht nur zu einem Schlagwort avantgardistischer Künstlereliten, sondern auch zu einem zentralen Motiv der Erforschung und theoretischen Durchdringung indigener Mythologien, Riten und Lebensweisen.
Und damit wären wir auch schon beim zweiten Spezifikum einer möglichen Brazilian Theory: Neben den ›anthropophagen‹ Avantgarden der 1920er und 1960er Jahre speist sie sich wesentlich aus einer Begegnung mit einer bestimmten Schule der Anthropologie, die sich insbesondere mit den indigenen Kulturen der brasilianischen Küstenregionen und des Amazonasbeckens beschäftigt. Diese jüngere, dem ontological turn verpflichtete Strömung der Anthropologie interessiert sich besonders für das, was man als das Weltbild, oder präziser als die Kosmologie dieser Völker bezeichnen könnte. Für die Brazilian Theory sind die amerindianischen Kosmologien nicht nur Gegenstand der interessierten ethnologischen Beobachtung, sondern stehen auf einer Stufe mit der eigenen, von der abendländischen Philosophie und Wissenschaft geprägten Kosmologie. In einem gewissen Sinn sind die indigenen Kosmologien selbst Theorie und stehen seit über 500 Jahren in einem unreflektierten, aber produktiven Austausch mit der entstehenden modernen Philosophie und Anthropologie – eine zwar sporadische, aber folgenreiche Theoriegeschichte avant la lettre. Und auch heute noch, so der Einsatz der Brazilian Theory, können wir von diesen eigenartigen Kosmologien, in denen alles auf dem Kopf zu stehen scheint, in denen die Tiere von den Menschen abstammen, es nur eine Kultur, aber viele Naturen gibt, in denen es von exotischen Tieren, von Tapiren, Jaguaren und Pekaris nur so wimmelt, etwas lernen. Im Zeitalter der ökologischen Katastrophen erscheint ihr ›animistisches‹ Paradigma, zu allen Lebewesen ›politische‹ Beziehungen zu unterhalten, nicht mehr als ontologisches Kuriosum, sondern als visionärer Denkansatz.
A perfect storm
Im Februar 2022 launchte das Berliner »zentrum für theoretische peripherie | diffrakt« eine Website, die die Frage nach einer Brazilian Theory erneut auf die Tagesordnung setzt: Unter dem Titel a perfect storm werden Essays, Fotografien, Video- und Audioarbeiten brasilianischer Theoretiker*innen und Künstler*innen kuratiert. Die aufwendig gestaltete und materialreiche Seite legt den Fokus auf ein weiteres Charakteristikum der Brazilian Theory: die kritische Analyse der katastrophalen gesellschaftlich-ökologisch-politischen Lage Brasiliens. Sie ist nicht nur der Kontext, aus dem heraus die Entstehung dieser Theorie verständlich wird, sondern auch ihr zentrales Thema: An der Situation Brasiliens lässt sich, so die Annahme, etwas Entscheidendes über die Lage der Welt erfahren.
A perfect storm – der Ausdruck meint zunächst die Kombination verschiedener widriger meteorologischer Faktoren, im übertragenen Sinn aber die Verbindung und wechselseitige Verstärkung politischer, ökologischer und gesellschaftlicher Krisen, wie sie sich in Brasilien beobachten lassen. Die Zerstörung des Amazonas, die Gewalt in den Städten, die ungebrochene Macht des Militärs, der Milizen und der korrupten Eliten, die ständigen, durch den Raubbau an Ressourcen ausgelösten Umweltkatastrophen, der Aufstieg des Rechtsextremismus, die soziale Ungleichheit, der oft verborgene Rassismus, all diese Probleme hängen zusammen, verstärken sich wechselseitig und konvergieren zu einem perfect storm. Dieser Sturm ist einerseits geographisch lokalisiert, er scheint nur in der ökonomisch-politischen Peripherie des globalen Südens möglich. Zugleich ist er andererseits unlokalisierbar: In ihm konvergieren und kulminieren zahllose regionale und globale Konflikte und Entwicklungen. Auch seine Auswirkungen werden auf der ganzen Welt zu spüren sein. Wie kann man dieses ›Brasilien‹ verstehen, ohne in alte und vereinfachende Kategorien der Dependenz- oder Imperialismustheorien zurückzufallen? Und welche politischen Perspektiven gibt es jenseits der sogenannten Modernisierungspolitik der Arbeiterpartei? Wenn es eine Brazilian Theory gibt, so lässt sie sich zweifellos nur vor dem Hintergrund dieser hier nur angedeuteten politischen Problematiken verstehen.
Ob sich der Begriff Brazilian Theory etablieren wird, lässt sich schwer abschätzen. An drängenden Fragen und Problemen mangelt es ebenso wenig wie an neuen Denkansätzen. Das Interesse von außen jedoch, dem sich derartige Kategorisierungen zumeist verdanken, ist unbeständig und kann genauso schnell wie es kam wieder vorübergehen. Auch die ›Produktionsbedingungen‹ dieser Theorie sind alles andere als gesichert, fast alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Institutionen, alle Möglichkeiten der Kunst- und Kulturförderung stehen spätestens seit der Wahl Jair Bolsonaros unter massivem finanziellen und politischen Druck. Im Moment jedoch entsteht inmitten dieses perfect storms eine Theorieströmung, von der man mit gleichem Recht behaupten kann, dass sie sich hinreichend präzise verorten lässt und dass sie ortlos ist. Eigentlich eine gute Voraussetzung dafür, dass sie auch diesseits des Atlantiks aufgenommen und angeeignet wird.
Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Oliver Precht arbeitet mit seinem Projekt »Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–1995)« am ZfL.
[1] Vgl. dazu: Antonio Lucci/Esther Schomacher/Jan Söffner (Hg.): Italian Theory, Leipzig 2020.
[2] Zur Genese dieser Kategorien vgl. Johannes Angermüller: Why there is no poststructuralism in France, London/New York 2015.
[3] Neben Texten von inzwischen etablierten Autor*innen wie Suely Rolnik oder Eduardo Viveiros de Castro enthält der Band auch Ausschnitte von im deutschsprachigen Raum noch weniger bekannten wichtigen Figuren wie dem Schamanen und Aktivisten Davi Kopenawa oder den Anthropologinnen Tânia Stolze Lima oder Manuela Carneiro da Cunha, vgl. Pedro Neves Marques (Hg.): The Forest and the School. Where to Sit at the Dinner Table? Berlin/Köln 2014.
[4] Vgl. beispielsweise: Eduardo Viveiros de Castro: Die Unbeständigkeit der wilden Seele, übers. v. Oliver Precht, Wien 2016; ders.: Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalen Anthropologie, übers. v. Theresa Mentrup, Berlin 2019; Deborah Danowski/ders.: In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende, übers. v. Clemens u. Ulrich van Loyen, Berlin 2019; Suely Rolnik: Zombie Anthropophagie. Zur neoliberalen Subjektivität, übers. v. Oliver Precht, Wien 2019; Hélène Clastres: Land ohne Übel. Der Prophetismus der Tupi-Guarani, übers. v. Paul Maercker, Wien 2022.
[5] Timo Luks: »Brasilianische Interventionen. Über Avantgarde, Anthropologie und Anthropophagie«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 849 (2020), S. 54–63.
[6] »The other 68: Anthropophagic Revolutions in Brazilian Counterculture after 1968« hieß eine internationale Tagung, die anlässlich des fünfzigsten Jahrestages von ›1968‹ in Frankfurt am Main stattfand.
[7] Nicht nur Dichter wie Haroldo de Campos oder Décio Pignatari haben sich auf Oswald de Andrades Konzept der Anthropophagie berufen und es sich zu eigen gemacht, auch Künstler*innen wie Lygia Pape, Lygia Clark oder Hélio Oiticica, Musiker*innen wie Caetano Veloso oder die Band Os Mutantes und die Filmemacher*innen des Cinema Novo. Vgl. dazu beispielsweise: Haroldo de Campos: »Von der anthropophagen Vernunft«, in: Oswald de Andrade: Manifeste, übers. v. Oliver Precht, Wien/Berlin 2016, S. 145–185; Lygia Pape: The Skin of ALL, Stuttgart 2022; Caetano Veloso: Verdade tropical, São Paulo 2008; Christopher Dunn: Brutality Garden: Tropicália and the Emgergence of Brazilian Counterculture, Chapel Hill/London 2001; Peter W. Schulze: Strategien ›kultureller Kannibalisierung‹: Postkoloniale Repräsentationen vom brasilianischen Modernismo zum Cinema Novo, Bielefeld 2008.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Oliver Precht: Gibt es eine ›Brazilian Theory‹?, in: ZfL BLOG, 1.6.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/01/oliver-precht-gibt-es-eine-brazilian-theory/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220601-01