Moritz Neuffer/Morten Paul: Periodische Formgebung. ZEITSCHRIFTEN UND ÖFFENTLICHKEIT IN DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK

In der Geschichte moderner Gesellschaften sind Zeitschriften und Öffentlichkeit so eng aufeinander bezogen, dass sie nahezu synonym erscheinen. Schließlich soll Öffentlichkeit derjenige Raum sein, in dem freie Menschen sich als Gleiche begegnen und über Belange kommunizieren, die von allgemeinem Interesse sind. In Gemeinwesen, in denen gesellschaftliche Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung nicht durch unmittelbaren Kontakt garantiert sind, helfen Zeitschriften dabei, Öffentlichkeit – oder ausdifferenzierte Teilöffentlichkeiten – herzustellen. Sie tun dies, indem sie Texte und Bilder, Gattungen und Disziplinen, Stimmen und Stimmungen versammeln und bündeln, und indem sie in mal mehr, mal weniger regelmäßiger Folge öffentlichen Austausch auf Dauer stellen.

Unzählige Zeitschriftentitel und -manifeste proklamieren ein Verständnis von Journalen und Magazinen als Medien des Zeitgemäßen bzw. der geistigen Situation ›ihrer‹ oder ›der‹ Zeit. Dieser Zeitbezug wirkt in dem Status nach, den Zeitschriften als Quellen historischer Forschung genießen: Medien, die einmal viel über die eigene Zeit zu sagen hatten, werden auch im historiografischen Rückblick als Zeugen herangezogen. Doch Zeitschriften sind immer auch eigensinnige Akteure und somit Indikatoren und Faktoren historischer Bewegung zugleich. Das Verhältnis von Zeitschriften und Öffentlichkeit(en) ist von Heteronomie und Kontingenz, Interessen, Konflikten und Aushandlungsprozessen geprägt. Was Öffentlichkeit sein soll und darf, ist nicht selbstverständlich, sondern umkämpft und historisch wandelbar. Daher lohnt es sich zu fragen, welche Zeitschriften unter welchen Bedingungen und mit welchen Absichten Öffentlichkeit produzieren: Welche Bilder ›ihrer‹ Zeit entwerfen sie und mit welchen Absichten und Effekten tun sie es?

Am 31. März und 1. April 2022 richtete das Deutsche Literaturarchiv Marbach in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und dem Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung deshalb die Tagung Wandlungszonen: Zeitschriften und Öffentlichkeit, 1945–1969 aus.[1] Ihr Gegenstand war die Konstitution und Rekonstitution von Öffentlichkeit im Medium Zeitschrift im langen Nachkrieg und vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Überlegungen galten dabei nicht nur der Frage, wofür oder für wen Zeitschriften Öffentlichkeit (wieder-)herstellten, sondern auch, wie sie das als Zeitschriften taten. Journale, so die Ausgangsthese, sind aufgrund ihrer spezifischen Gestalt und Machart ›Zonen‹, in denen sich etwas ereignen kann: Sie sind mediale Räume, die Wandel und Prozess, Anfang und Aufbruch versprechen und vollziehen.

Folgerichtig gehören Brüche, Kontinuitäten und Übergänge zu den zentralen Figuren, die die Diskussion auf der Tagung dominierten, und die bereits in den Selbstbeschreibungen politisch-intellektueller Zeitschriften nach 1945 angelegt waren. Im Fokus standen Periodika, die sich in Form und Themensetzung teilweise erheblich voneinander unterscheiden und dennoch allesamt an der Neubegründung bundesrepublikanischer Öffentlichkeit mitwirkten: vom Merkur zur Constanze, von der Historischen Zeitschrift zur alternative, von der twen zum studentischen Forum Academicum. Einen historischen Idealtypus für die Untersuchung des Verhältnisses von Zeitschriften und Öffentlichkeit scheint dabei das intellektuelle Kulturjournal zu modellieren, für das auf der Tagung insbesondere die Monatsschrift Die Wandlung stand. Bereits an ihrem Titel ist das Versprechen des Übergangs abzulesen, das ihr die Gründungsmitglieder Dolf Sternberger, Karl Jaspers, Werner Krauss und Alfred Weber einschrieben. Zeitschriften, die sich derart als Foren der Erneuerung präsentierten, erlebten besonders in den Zwischenjahren 1945 bis 1949, also während der Besatzungszeit bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, eine Blüte. Sie bauten dabei nicht zuletzt auf Traditionen und Netzwerken auf, die schon das intellektuelle Leben der Weimarer Republik geprägt hatten. Zu den Intellectual Journals, die in der Regel ein weiter Kulturbegriff auszeichnet und in deren Zentrum die Gattung des Essays steht, zählen in dieser Zeit auch Der Ruf, Merkur, die Frankfurter Hefte oder Wiedergründungen wie die Neue Rundschau. Von diesem Modell lassen sich andere Typen absetzen, die auf je unterschiedliche Weise ebenfalls zwischen Tradition und Erneuerung manövrierten: wissenschaftliche Fachzeitschriften, literarische, politische oder breitenwirksamere Publikumszeitschriften mit ihren jeweils eigenen Öffentlichkeiten und Öffentlichkeitskonzepten. Diese Typen, so zeigt sich bei näherer Betrachtung, lassen sich selten klar voneinander trennen bzw. weisen sie vielfach Übergänge und Zwischenformen auf. Damit bestätigen sie nicht zuletzt eine zentrale These kulturwissenschaftlicher Zeitschriftenforschung, nämlich dass Zeitschriften Medien sind, die sich eindeutigen Typologisierungen und Definitionen entziehen und gerade darin ihre spezifische Produktivität finden.[2]

Neben Genredefinitionen standen in Marbach die spezifischen Techniken und Verfahren im Mittelpunkt, mit denen Zeitschriften nach 1945 Bezüge zu ihrer‹ Zeit herstellten. Im Falle wissenschaftlicher Zeitschriften war es nicht selten die Rezension, die es ermöglichte, in ›kleiner Form‹ Position zu Gegenwärtigem und damit auch zur Vergangenheit des Nationalsozialismus zu beziehen – selbst in einem vermeintlich gegen den direkten Gegenwartsbezug abgedichteten fachwissenschaftlichen Journal wie der Historischen Zeitschrift. Besondere Aufmerksamkeit fand die Rolle dokumentarischer Techniken und Strategien. Denn in der Konfrontation mit den deutschen Verbrechen war das Zugänglichmachen von Tatsachenmaterial, etwa in der Wandlung und der Gegenwart, ein aufklärerischer Akt in serieller Folge. Von dieser Politik des Faktischen zehrte noch die linksintellektuelle Publizistik der späten 1950er und 1960er Jahre, die ihre Analyse, Theorie und Kritik mit der ausgestellten Evidenz von sogenannten Dokumentationen verband. Gebündelte Veröffentlichungen von Dokumenten oder Kompilationen von Zitaten schufen die Grundlage der politischen Kritik am Bestehenden, wobei schließlich auch ein naiver Begriff von Tatsachen selbst zum Gegenstand der sich etablierenden Ideologiekritik werden konnte.

Den Massenmedien hingegen wird in der von links als restaurativ wahrgenommenen Adenauer-Ära statt der Ausprägung eines kritischen Bewusstseins traditionell eher kulturindustrielle Affirmation zugeschrieben. Doch auch populäre Zeitschriften wie Constanze oder twen lassen sich gewinnbringend auf ihre Produktionsweisen von Öffentlichkeit hin befragen: Im Nebeneinander der Text- und Bildsorten (zum Beispiel der Werbung) fallen dort insbesondere Verfahren auf, mit denen die oft einseitig wirkende Kommunikation zwischen Zeitschriften und Leserschaften erweitert wurde. Die Frage, ob die Einbeziehung von Leserbriefen dabei tatsächlich der Herstellung einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion oder nicht doch eher der Inszenierung von Partizipation diente, verweist auf ein Auseinanderfallen von Adressierungsrhetorik und Adressierungsleistung von Zeitschriften.

Der Blick auf die komplexe Kommunikationssituation und Vielstimmigkeit von Zeitschriften steht dabei in einem Spannungsverhältnis zu der Beobachtung, dass in der Intellectual History – aus forschungstechnisch naheliegenden Gründen – starke Herausgeber:innen- und Autor:innenfiguren zentrale Rollen einnehmen. Die Zeitschrift tritt als Verkörperung der Intentionen ihrer Macher:innen auf, die sich der Zeitschrift als Organ der Umsetzung geistig-politischer Programmatiken bedienen. Was sich an den veröffentlichten Heften nicht immer ablesen lässt, zeigt der spätere Blick in die Archive. In Selbstzeugnissen und Briefwechseln werden Aushandlungsprozesse und Spannungsverhältnisse sichtbar, denen nicht zuletzt der Umgang mit der eigenen historischen Erfahrung und Verstrickung eingeschrieben und in denen der positive Bezug auf die neue demokratische Öffentlichkeit keineswegs immer ausgemacht war. Viele Akteure blickten mit Skepsis auf den Entstehungsprozess der zweiten parlamentarischen Demokratie in Deutschland, den sie mit Unsicherheit und Chaos verbanden.[3] Das sollte sich erst im Zuge der Konsolidierung der Bundesrepublik ändern, die sich im Medium Zeitschrift in ihrer Prozesshaftigkeit ebenso nachvollziehen lässt wie der Wandel von Bildungsvorstellungen und öffentlich-intellektuellen Kommunikationsweisen, die vielerorts noch von einem elitären Aufklärungsverständnis geprägt waren.

Die Zentralperspektive auf Intention und Selbstverständnis der »great editors«[4] und ihrer Autor:innen, die bestimmte Zeitschriftentypen wie das intellektuelle Kulturjournal oder Textsorten wie den Essay privilegiert, lässt sich, auch das ist eine Erkenntnis der Marbacher Tagung, durch dezentrierende Forschungen darüber ergänzen, was genau den Text der Zeitschrift hervorbringt bzw. die Möglichkeiten seiner Hervorbringung bestimmt. Dazu gehören nicht zuletzt die materiellen Bedingungen und Abhängigkeiten, die Auswahl, Zirkulation und Transfer von Text – und damit Öffentlichkeit – begünstigen oder einschränken. Die Zeitschrift wird so nicht nur als Dokument und Quelle der geistigen Situation ihrer Zeit, sondern als Akteurin, die dieser Situation periodisch Form gibt, lesbar. Den produktiven Austausch über solche methodischen Perspektiven und Zugriffe auf Dauer zu stellen, ist das fortlaufende Anliegen des Arbeitskreises Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung, der allen Interessierten zur Teilnahme offensteht. 

 

Der Historiker Moritz Neuffer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL, wo sein Projekt zur »Erforschung des persönlichen Archivs der Germanistin, Publizistin und Kulturhistorikerin Hildegard Brenner« von der DFG gefördert wird.

Der Germanist Morten Paul ist einer der Herausgeber des August Verlags und Lektor im Verlag Matthes & Seitz Berlin..

 

[1] Konzipiert wurde die Tagung von Anna Kinder (DLA Marbach), Barbara Picht (ZfL Berlin), Anke Jaspers (Universität Graz) sowie den Autoren dieses Beitrags. Referent:innen waren Rainer Bayreuther, Jan-Eike Dunkhase, Gunilla Eschenbach, Moritz Neuffer, Barbara Picht, Philipp Pabst, Roman Yos, Jens Hacke, Aleš Urválek und Paweł Zajas. Auf der Abendveranstaltung diskutierten Liliane Weissberg und Udo Bermbach über den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Dolf Sternberger. Das Programm zum Nachlesen findet sich hier. – Im Rahmen der Tagung fand auch das Jahrestreffen des Arbeitskreises Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung statt, der sich methodischen und theoretischen Fragen der Erforschung periodischer Publikationen widmet. Dabei sprach Stefan Reiners-Selbach über die interaktive Erschließung von Zeitschriftenkorpora mithilfe digitaler Methoden und Petra Boden über die Geschichte interdisziplinärer Praxis im Spiegel von Fachzeitschriften. Das nächste Treffen des Arbeitskreises, der seit 2017 Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen zusammenbringt, findet voraussichtlich im Herbst 2022 statt.

[2] Gustav Frank/Madleen Podewski/Stefan Scherer: »Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ›kleine Archive‹«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34.2 (2009), S. 1–45, hier S. 4.

[3] Zu dezidiert demokratiefeindlicher Publizistik nach 1945, die nicht Gegenstand der Marbacher Tagung war, vgl. Moritz Neuffer/Morten Paul: »Rechte Hefte. Zeitschriften der alten und neuen Rechten nach 1945«, in: Eurozine (Dossier Worlds of Cultural Journals), 7.11.2018.

[4] Matthew Philpotts: »What makes a great magazine editor? Seven theses on editorial plurality«, in: Eurozine, 4.5.2018.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Moritz Neuffer/Morten Paul: Periodische Formgebung. Zeitschriften und Öffentlichkeit in der frühen Bundesrepublik, in: ZfL BLOG, 9.6.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/09/moritz-neuffer-morten-paul-periodische-formgebung-zeitschriften-und-oeffentlichkeit-in-der-fruehen-bundesrepublik/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220609-01

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