Eva Geulen: Jahresthema 2020/21, EPOCHENWENDEN

Einer bekannten Redensart zufolge soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Zynisch könnte man fragen: Gilt das auch für Epochenwenden? Sind die auch hinzunehmen wie wiederkehrende Feiertage, Grippewellen oder unerwartete Naturkatastrophen? Dass die Covid-19-Pandemie schon jetzt in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen als Epochenwende verstanden wird, merkt man nicht nur an der Häufung des vordem eher vermiedenen Epochenbegriffs, sondern auch am Gebrauch der Formel ›vor und nach Corona‹ – obwohl doch ein Ende der Pandemie derzeit nicht in Sicht ist und deshalb auch und gerade Feste nicht wie üblich begangen werden können (oder sollten). „Eva Geulen: Jahresthema 2020/21, EPOCHENWENDEN“ weiterlesen

Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN

Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Geschichtslektion: Die große Zeit der Geisteswissenschaften lag in dem Jahrhundert zwischen Romantik und Erstem Weltkrieg. Danach ging es etappenweise bergab, mit verzweifelter, auch vor schlimmsten Ideologien nicht Halt machender Anbiederung an die sogenannte Öffentlichkeit; aber auch Rückzug in den Elfenbeinturm und zunehmende Verwissenschaftlichung trugen zur Selbstzerstörung der Geisteswissenschaften bei. „Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN“ weiterlesen

Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«

Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf »erstaunliche Parallelen« zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den »gegenwärtigen Entwicklungen«.[2] Die meisten Rezensionen, von der Süddeutschen Zeitung über die Welt bis zur ZEIT, konstatieren in eben diesem Sinne eine verblüffende Aktualität von Adornos Vortrag, die Redaktion von Spiegel Online attestiert Adorno gar hellseherische Fähigkeiten, wenn sie titelt: »Was Adorno 1967 schon über die Neue Rechte wusste„Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«“ weiterlesen

Maria Kuberg: DRAMA, NACH DER HISTORISIERUNG

Für die Literaturwissenschaft bedeutet Historisierung inzwischen eine nahezu selbstverständliche Übung, wenn es um die Analyse von Diskursen und produktions- oder rezeptionsästhetischen Aspekten in Einzelwerken geht – bei literarischen Gattungen ist sie aber noch immer eine Herausforderung. Die Versuche, die Großgattungen Epik – Lyrik – Dramatik nicht als überzeitliche Grundformen der Dichtung, sondern als geschichtlich wandelbare Konstrukte zu beschreiben, haben nicht selten zum Verschwinden der Gegenstände geführt. So ist etwa das Epos, das freilich ohnehin bis dahin in der deutschsprachigen Literatur nicht recht floriert hatte, mit F. A. Wolffs Annahmen über die historischen Entstehungsbedingungen der antiken Epen und endgültig mit Hegels Bemerkungen über die Archaik und Ursprünglichkeit der epischen Dichtung zu einer Gattung der fernen Vergangenheit degradiert und das Verfassen von modernen Epen zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt worden.[1] Ähnlich ist es, wenn auch wesentlich später, dem modernen Drama ergangen. „Maria Kuberg: DRAMA, NACH DER HISTORISIERUNG“ weiterlesen

Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN

Die Lage ist ernst, ja dramatisch, doch ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der keineswegs neu ist. Dies könnte man als die Quintessenz einer Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) verstehen, die sich in einem Schwerpunkt den Alternativen Fakten widmet (Heft 9/2, 2018, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Hamburg: Felix Meiner Verlag). Sie greift damit eine bereits in Heft 9/1 geführte Diskussion um den Verlust sicher geglaubter Kriterien für die Bestimmung von Objektivität auf, dessen politische Brisanz Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway im Januar 2017 medienwirksam vorführte: Sie hatte bekanntlich erklärt, der Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, habe mit der Behauptung, bei der Amtseinführung Trumps seien mehr Zuschauer zugegen gewesen als bei derjenigen Barack Obamas, nicht etwa die Unwahrheit gesagt, sondern ›alternative Fakten‹ dargestellt. Im Kontext einer Selbstreflexion der Geistes- und Kulturwissenschaften ist diese Debatte von Bruno Latour bereits 2004 angestoßen worden; sein Aufsatz »Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Facts to Matters of Concern«[1] gehört in den fünf Beiträgen des Heftschwerpunkts dann auch zu den am häufigsten zitierten. „Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN“ weiterlesen

Hannes Bajohr: BLUMENBERGS MÖGLICHKEITSGESCHICHTEN

Als Hans Blumenberg 1974 den Kuno-Fischer-Preis für Philosophiegeschichte erhält, fällt in seiner Dankesrede der Satz: »Ich habe den Vorwurf des ›Historismus‹ immer als ehrenvoll empfunden.«[1] Aus dem Mund eines Philosophen muss diese Aussage verwundern, denn polemisch verwendet meint ›Historismus‹ schließlich das glatte Gegenteil von Philosophie: reines positivistisches Faktensammeln ohne alle Wertung. Die Genese der Phänomene klären zu wollen, ohne ihre Geltung bestimmen zu können – so ließe sich der »Vorwurf« zusammenfassen –, endet in einem aussagefreien Relativismus. Als philosophische Haltung löst der Historismus Philosophie in Geschichte auf. Dass er dennoch »ehrenvoll« sein kann, lässt sich für Blumenberg aber durchaus philosophisch begründen. Verstanden als Korrektur falscher Geschichtsverständnisse nämlich ist der Historismus für ein ganzes geschichtstheoretisches Programm nutzbar zu machen: Blumenberg nannte es einmal die »Destruktion der Historie«.[2] „Hannes Bajohr: BLUMENBERGS MÖGLICHKEITSGESCHICHTEN“ weiterlesen

Patrick Eiden-Offe: VERRUFENES HISTORISIEREN

In Das Elend der Philosophie seziert Marx das Vorgehen der »bürgerlichen« Ökonomen in wenigen Sätzen:

»Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. Wenn die Ökonomen sagen, daß die gegenwärtigen Verhältnisse – die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion – natürliche sind, so geben sie damit zu verstehen, daß es Verhältnisse sind, in denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind diese Verhältnisse selbst von dem Einfluß der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr; es hat eine Geschichte gegeben, weil feudale Einrichtungen bestanden haben und weil man in diesen feudalen Einrichtungen Produktionsverhältnisse findet, vollständig verschieden von denen der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Ökonomen als natürliche und demgemäß ewige angesehen wissen wollen.«[1]

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