In Das Elend der Philosophie seziert Marx das Vorgehen der »bürgerlichen« Ökonomen in wenigen Sätzen:
»Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. Wenn die Ökonomen sagen, daß die gegenwärtigen Verhältnisse – die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion – natürliche sind, so geben sie damit zu verstehen, daß es Verhältnisse sind, in denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind diese Verhältnisse selbst von dem Einfluß der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr; es hat eine Geschichte gegeben, weil feudale Einrichtungen bestanden haben und weil man in diesen feudalen Einrichtungen Produktionsverhältnisse findet, vollständig verschieden von denen der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Ökonomen als natürliche und demgemäß ewige angesehen wissen wollen.«[1]
Demnach basiert das bürgerliche Verfahren der Historisierung auf einem System von Entgegensetzungen: Das Künstliche und Erfundene steht dem Natürlichen und Naturgegebenen gegenüber, das Zeitliche und Veränderliche dem Ewigen und Unveränderlichen. Die Grundannahme, dass alles Menschliche historisch wandelbar ist und deshalb wissenschaftlich historisiert werden muss – das historische Apriori des 19. Jahrhunderts, das zum Historismus führen wird –, basiert auf einer scharfen Markierung der Grenzen von Historisierung. Und diese Grenzen sind politisch motiviert, sie präsentieren sich aber (vielleicht wie alle Grenzen) als natürliche und unwandelbare. Für die von Marx kritisierte Ideologie des Historischen ist die Gegenwart als End- und Zielpunkt der Geschichte dieser gerade nicht unterworfen, sondern erscheint ins Überzeitlich-Ewige entrückt. Das Bestehende sichert sich dadurch ab, dass alles Vergangene historisch eingeordnet wird als Hinführung zur Gegenwart.
Marx’ Kritik weist indes auch eine Rückseite auf. Denn die Marx’sche Geschichtskonstruktion entkommt der kritisierten Ideologie keineswegs (und die spätere marxistische Konstruktion noch viel weniger); sie installiert vielmehr selbst eine Ideologie, die umso wirksamer ist, als sie die bürgerliche in sich »aufhebt« und damit in gesteigerter logischer Konsistenz fortsetzt. Zugespitzt: Dem Heute, das dem historisch gewordenen (und historisierbaren) Gestern in der bürgerlichen Ideologie als ewig und überzeitlich gegenübergestellt wird, entspricht in der marxistischen das Morgen. Das Heute gilt im Marxismus bloß als Transitorium, das erst im Morgen endgültig überwunden sein wird: Somit wird es eine Geschichte gegeben haben … Auch im Marxismus bleibt somit eine Hintergrundideologie wirksam, in der das 19. Jahrhundert gleichsam zu sich selbst kommt: Die Ideologie des Historischen in Reinform ist die des Fortschritts.
Idee und Ideologie des Fortschritts wurden im 19. Jahrhundert nicht zuletzt von den historischen Wissenschaften hervorgebracht und durch die enormen Fortschritte der Wissenschaften ungemein plausibilisiert. Nach einer These Walter Benjamins liegt die Voraussetzung jedes konkreten Begriffs von Fortschritt in der Vorstellung einer »homogene[n] und leere[n] Zeit«, die von den Menschen in der Geschichte durchlaufen wird.[2] Genau diese Zeitvorstellung liegt auch jener Ideologie des Historischen zugrunde, wie sie Marx kritisiert und fortgesetzt hat.
Vielleicht müssen wir rabiat werden, wenn wir den uns immer noch selbstverständlichen ideologischen Komplex von Fortschritt, Zeit und Historisierung verstehen und überwinden wollen; Immanuel Wallerstein hat dafür einmal die sprachlich gewöhnungsbedürftige Formel eines »Unthinking the 19th Century« ins Spiel gebracht.[3] Vielleicht müssen wir unsere begrifflichen und rhetorischen Routinen – die auch in Deckbegriffen wie der Moderne, der Gesellschaft oder der Wissenschaft noch wirksam sind – irritieren, etwa durch ›illegitime‹, ›unwissenschaftliche‹ oder verrufene Formen des Historisierens.
Einen unfreiwilligen Hinweis darauf, wo solche Verfahren zu finden wären, hat Lucien Febvre gegeben, als er den Anachronismus als »die schlimmste, die unverzeihlichste aller Sünden« identifiziert hat, deren ein Historiker sich schuldig machen kann.[4] Von dieser Todsünde haben sich Nicole Loraux und Jacques Rancière willig locken lassen. Gegen die Vorstellung einer determinierenden Epochentotalität, die den Rahmen aller möglichen Handlungs- und Reflexionsweisen der historischen Akteur*innen absteckt, setzt Loraux eine »kontrollierte Praxis des Anachronismus«.[5] Nur wer etwa die anachronistische Frage nach dem modernen Konzept der öffentlichen Meinung in den Poleis der griechischen Antike nicht von vornherein ausschließt, kann in der Differenz antike Formen kollektiver Willens- und Urteilsbildung entziffern, die umso schärfer gefasst werden, je länger und sturer man am (unpassenden) modernen Vergleichskonzept festhält. Das historistische Vorurteil, dass damals alles ganz anders war, wird so auf eine strenge Probe gestellt – und womöglich punktuell auch widerlegt. Vor allem aber wird durch das anachronistische Verfahren schließlich die Identität der Historikerin mit ihrer eigenen Epoche aufgebrochen.
Für Rancière ist der Anachronismus nicht nur eine historische Methode, sondern ein Moment der untersuchten Objektebene selbst. Der Anachronismus erscheint bei ihm als Handlungsoption der historischen Akteur*innen; ja, Handlung im emphatischen Sinn verändernder Praxis kann es überhaupt nur geben, wenn die Akteur*innen einen Anachronismus zwischen sich und ihrer Epoche aufbrechen lassen;[6] wenn, nach einem schönen Wort Jakob Tanners, »Menschen sich der Zumutung widersetzen, mit der Zeit, in der sie leben, ›ähnlich‹ zu werden«.[7]
Neben den Anachronismus treten andere, durchaus traditionsreiche Todsünden, etwa Romantik, Melancholie und Nostalgie: So, wie Michael Löwy das despektierlich gemeinte Urteil Georg Lukács’ vom »romantischen Antikapitalismus« umkehrt und zum positiven Beweggrund der meisten antikapitalistischen Bewegungen und Theorieprojekte der letzten zweihundert Jahre erklärt,[8] so wendet Enzo Traverso die von Walter Benjamin lancierte Polemik gegen die »linke Melancholie«, um diese zu einer imaginativen Ressource linker Zukunftsaussichten zu machen.[9]
In seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte hat Benjamin die Vergangenheitsseligkeit des bürgerlichen Historismus genauso angegriffen wie die sozialdemokratische und stalinistische Fortschrittsgläubigkeit. Er zielte dabei auf das Zentrum jeder Geschichtsideologie: die Vorstellung einer stabilen Gegenwart, die bloßer Übergangspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft sein soll. Gegen diese Vorstellung will Benjamin die Gegenwart aus dem »Kontinuum der Geschichte« heraussprengen; er konzipiert eine (»messianisch« aufgeladene) »Jetztzeit«, in der über alles Vergangene je neu entschieden werden muss.[10] Benjamins historischer Messianismus zielt, ebenso wie Anachronismus, Nostalgie oder Utopismus, auf eine Kritik der eigenen Gegenwart.
Wenn wir aus Marx’ Spott über die Unfähigkeit der »bürgerlichen« Wissenschaft zur Historisierung ihrer eigenen Gegenwart heute eine radikale Konsequenz ziehen wollen, dann bestünde die vielleicht darin, diese Unfähigkeit zu verallgemeinern: Weder die Vergangenheit noch die Zukunft, geschweige denn die Gegenwart, lassen sich historisieren im Sinne einer einfachen Einordnung in eine kontinuierlich ablaufende Geschichte, in der alles seinen Ort hat. Historisierung muss vielmehr immer auch zeigen, wie Ereignisse, Handlungen, Wörter und Akteur*innen nicht in ihrer Zeit aufgehen, wie sie über diese hinausweisen und hinter ihr zurückbleiben, untergründige Verbindungen über die Zeiten hinweg eingehen, sich in Wiederholungsschlaufen verfangen oder Fixierungen reproduzieren.
Eine Kritik der Ideologie des Historischen mit ihren fixen Zeit- und Geschichtsvorstellungen kann schließlich auch als produktive Irritation verstanden werden: als Anregung, mit verschiedenen Verfahren und Darstellungsweisen der Historisierung zu experimentieren. Indem wir ein »Spiel von heterogenen Zeitreihen« eröffnen,[11] können unsere ›unwissenschaftlichen‹, verrufenen Formen des Historisierens dazu führen, das wissenschaftliche Feld des Historischen genauer zu vermessen und zu erweitern.
[1] Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends«, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 4, Berlin/DDR 1974, S. 63–182, hier S. 139 f.
[2] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2: Abhandlungen, Frankfurt a. M. 1991, S. 691–704, hier These XIII, S. 701.
[3] Immanuel Wallerstein: »Should we unthink nineteenth-century social science?“, in: International Social Science Journal 118 (1988), S. 525–531.
[4] Lucien Febvre: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert: Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002, S. 17.
[5] Vgl. Nicole Loraux: »Éloge de l’anachronisme en histoire«, in: Le genre humain 27 (1993), S. 23–38, hier S. 28. Vgl. auch Caroline Arni: »Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien. Gegenwart und Transformationen der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektive“, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 18.2 (2007), S. 53–76, hier S. 59.
[6] Jacques Rancière: »Der Begriff des Anachronismus und die Wahrheit des Historikers«, in: Eva Kernbauer (Hg.): Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Paderborn 2015, S. 33–50.
[7] Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004, S. 69.
[8] Michael Löwy/Robert Sayre: Romanticism against the Tide of Modernity, Durham 2001.
[9] Enzo Traverso: Mélancolie de gauche: La force d’une tradition cachée, Paris 2016. Vgl. dazu auch S.D. Chrostowska/James D. Ingram (Hg.): Political Uses of Utopia. New Marxist, Anarchist, and Radical Democratic Perspectives, New York 2017.
[10] Benjamin: Thesen, S. 701 und 704.
[11] Rancière: Anachronismus, S. 49.
Der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe leitet am ZfL das Forschungsprojekt »Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik«. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum ZfL-Jahresthema 2019/2020, »Historisieren heute«.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe: Verrufenes historisieren, in: ZfL BLOG, 29.4.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/04/29/patrick-eiden-offe-verrufenes-historisieren/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190429-01