Clara Fischer: HEIMELIGES HELDINNENTUM. Anne Webers »Annette, ein Heldinnenepos«

Das Epos ist ein fruchtbares Klischee: irgendetwas mit Siegfried, Drachen, Odysseus oder Troja. Eine alte Heldengeschichte, die an sich womöglich sogar spannend ist, die man aber nicht gelesen hat und auch nicht lesen möchte. Denn das Epos ist dick und sperrig. Diese Vorannahmen sitzen tief. Mit Leichtigkeit lässt sich ein ganzes Germanistikstudium eposfrei absolvieren und selbst unter den wenigen Gattungsfreundinnen und -freunden beschränkt sich das Interesse meist auf die kanonischen Werke der Antike und des Mittelalters. Man mag die Versepik daher für tot erklären; das Klischee hat aber an Lebendigkeit nicht eingebüßt und ist heute, da Namen und Taten der Besungenen zwar zitiert, sogar verfilmt, aber jenseits der Fachgelehrtenstube nicht mehr gelesen werden, vielleicht munterer denn je. Ein Versepos zu schreiben und zu veröffentlichen scheint allerdings regelrecht töricht. „Clara Fischer: HEIMELIGES HELDINNENTUM. Anne Webers »Annette, ein Heldinnenepos«“ weiterlesen

Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN

Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Fachs (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Geschichtslektion: Die große Zeit der Geisteswissenschaften lag in dem Jahrhundert zwischen Romantik und Erstem Weltkrieg. Danach ging es etappenweise bergab, mit verzweifelter, auch vor schlimmsten Ideologien nicht Halt machender Anbiederung an die sogenannte Öffentlichkeit; aber auch Rückzug in den Elfenbeinturm und zunehmende Verwissenschaftlichung trugen zur Selbstzerstörung der Geisteswissenschaften bei. „Eva Geulen: ALTES UND NEUES AUS DEN LITERATURWISSENSCHAFTEN“ weiterlesen

Ross Shields: READING THE AESTHETICS OF RESISTANCE

The Aesthetics of Resistance. Already the title demands interpretation. Depending on whether the preposition ‘of’ is interpreted as a subjective or as an objective genitive, it could refer either to ‘the aesthetic position upheld by those fighting for the resistance’ or to ‘the aesthetic aspect of resistance as such.’ As one might expect, Peter Weiss’s novel supports both readings, insofar as it concerns a group of resistance fighters who conceive of art—whether ancient, aristocratic, bourgeois, or proletarian—as closely related to their own political activity: “If we want to take on art, literature, we have to treat them against the grain, that is, we have to eliminate all the concomitant privileges and project our own demands into them.”[1] The aesthetic position of those fighting in the resistance is that art is eminently political. But the first person plural is misleading, and introduces an additional ambiguity concerning the novel’s message: does “we” stand for the unnamed narrator and his comrades in the 1930’s, for Weiss’s milieu in the 1970s, or for the international readership of the perpetually advancing present? „Ross Shields: READING THE AESTHETICS OF RESISTANCE“ weiterlesen

Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani

Städte sind in einem fortwährenden Wandel begriffen, Aufbau und Zerstörung gehen Hand in Hand. Was bleibt, sind urbane Landschaften, in denen sich die Zeitläufte mal mehr, mal weniger sichtbar sedimentieren; Straßen, Häuser und eine ausdifferenzierte Infrastruktur, die uns Orientierung im urbanen Raum verschaffen. Zwei Bücher aus dem Verlag Klaus Wagenbach beschäftigen sich anhand konkreter Gestaltungsfragen mit den Veränderungen unserer städtischen Umgebung. Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts (2018), ein Buch der Hamburger Kunsthistorikerin Monika Wagner, widmet sich auf originelle Weise speziell der Berliner Stadtlandschaft: »Gegenüber der Formgeschichte und dem Interesse an Strukturmerkmalen«, so Wagner über ihren Ansatz, »stehen vielmehr Beobachtungen alltäglicher Symptome im öffentlichen Raum der Stadt zur Debatte« (S. 11). „Dirk Naguschewski: AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEINER STADT. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani“ weiterlesen

Carlo Ginzburg: GERTRUD BING ÜBER ABY WARBURG UND EINE PHILOLOGIE DER ÜBERLIEFERUNG

1.

Habent sua fata libelli, »Bücher haben ihre Schicksale.« – Diese oft zitierten Worte des lateinischen Grammatikers Terentianus Maurus lassen sich auch auf ein ungeschriebenes Buch beziehen: die Biographie Aby Warburgs, an der seine Assistentin Gertrud Bing bis an ihr Lebensende gearbeitet hat. Ihr unvollendetes Projekt wurde später von Ernst Gombrich wieder aufgegriffen, der damit seine Dankbarkeit gegenüber Bing zum Ausdruck brachte. Der große Wiener Kunsthistoriker hat es dann zu Ende geführt, mit stupender Gelehrsamkeit, aber nur begrenzter intellektueller Sympathie für den, der Objekt dieser Biographie war.[1] Ganz entgegen Gombrichs Absicht hat das Buch eine wahre Warburg-Renaissance ausgelöst, die bis heute andauert. Man könnte also sagen, dass Bings Projekt Erfolg beschieden war, wenn auch auf verschlungenen und unvorhersehbaren Wegen. „Carlo Ginzburg: GERTRUD BING ÜBER ABY WARBURG UND EINE PHILOLOGIE DER ÜBERLIEFERUNG“ weiterlesen

Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«

Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, vom Suhrkamp-Verlag im Juli 2019 als schwarzer, mit oranger und weißer Schrift ebenso schlicht wie eindringlich wirkender Vorabdruck veröffentlicht.[1] Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf »erstaunliche Parallelen« zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den »gegenwärtigen Entwicklungen«.[2] Die meisten Rezensionen, von der Süddeutschen Zeitung über die Welt bis zur ZEIT, konstatieren in eben diesem Sinne eine verblüffende Aktualität von Adornos Vortrag, die Redaktion von Spiegel Online attestiert Adorno gar hellseherische Fähigkeiten, wenn sie titelt: »Was Adorno 1967 schon über die Neue Rechte wusste„Pola Groß: STILISIERUNG ZUM KUSCHEL-PHILOSOPHEN. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«“ weiterlesen

Daniel Weidner: TRANSITIONS, THRESHOLDS, TRADITIONS. Hans Blumenberg and Historical Thought

Like identical twins, philosophy and history seem to be tied together in an uneasy way. On the one hand, philosophy is very concerned to engage with the history of philosophy. There are not many other branches of knowledge so preoccupied with continually referring back to their own ‘classics’. On the other hand, quite a few of these classical authors did not hold history in high esteem. Aristotle, as is well known, even preferred drama to history, arguing that the latter merely concerned contingent issues. The marriage between history and philosophy quite often results in monsters like Hegelian philosophy of history: grand narratives that are all too easy to criticize and to debunk. „Daniel Weidner: TRANSITIONS, THRESHOLDS, TRADITIONS. Hans Blumenberg and Historical Thought“ weiterlesen

Matthias Schwartz: GESCHICHTE ALS UNUNTERBROCHENE PERFORMANCE: Das Queer Archives Institute

Zum 50. Jahrestag des Stonewall-Aufstands berichteten die Medien einmal mehr über die angespannten und vielerorts sich sogar verschlechternden rechtlichen und sozialen Lebensumstände queerer Menschen in Osteuropa. Regelmäßig gibt es Meldungen von LGBTIQ*-Demonstrationen in den Hauptstädten der Ukraine, Russlands, Polens oder Georgiens, die von nationalistischen und religiösen Gruppierungen attackiert werden oder nur mithilfe von massivem Polizeieinsatz durchgeführt werden können – wenn sie nicht gleich ganz verboten werden. Der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und autoritärer Staatsführer, die ihre gottgewollte Ordnung und nationale Tradition durch ein aus dem Westen eindringendes Sodom und Gomorrha bedroht sehen, verschärft diese Lage noch. „Matthias Schwartz: GESCHICHTE ALS UNUNTERBROCHENE PERFORMANCE: Das Queer Archives Institute“ weiterlesen

Maria Kuberg: DRAMA, NACH DER HISTORISIERUNG

Für die Literaturwissenschaft bedeutet Historisierung inzwischen eine nahezu selbstverständliche Übung, wenn es um die Analyse von Diskursen und produktions- oder rezeptionsästhetischen Aspekten in Einzelwerken geht – bei literarischen Gattungen ist sie aber noch immer eine Herausforderung. Die Versuche, die Großgattungen Epik – Lyrik – Dramatik nicht als überzeitliche Grundformen der Dichtung, sondern als geschichtlich wandelbare Konstrukte zu beschreiben, haben nicht selten zum Verschwinden der Gegenstände geführt. So ist etwa das Epos, das freilich ohnehin bis dahin in der deutschsprachigen Literatur nicht recht floriert hatte, mit F. A. Wolffs Annahmen über die historischen Entstehungsbedingungen der antiken Epen und endgültig mit Hegels Bemerkungen über die Archaik und Ursprünglichkeit der epischen Dichtung zu einer Gattung der fernen Vergangenheit degradiert und das Verfassen von modernen Epen zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt worden.[1] Ähnlich ist es, wenn auch wesentlich später, dem modernen Drama ergangen. „Maria Kuberg: DRAMA, NACH DER HISTORISIERUNG“ weiterlesen

Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN

Die Lage ist ernst, ja dramatisch, doch ihr liegt ein Sachverhalt zugrunde, der keineswegs neu ist. Dies könnte man als die Quintessenz einer Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) verstehen, die sich in einem Schwerpunkt den Alternativen Fakten widmet (Heft 9/2, 2018, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Hamburg: Felix Meiner Verlag). Sie greift damit eine bereits in Heft 9/1 geführte Diskussion um den Verlust sicher geglaubter Kriterien für die Bestimmung von Objektivität auf, dessen politische Brisanz Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway im Januar 2017 medienwirksam vorführte: Sie hatte bekanntlich erklärt, der Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, habe mit der Behauptung, bei der Amtseinführung Trumps seien mehr Zuschauer zugegen gewesen als bei derjenigen Barack Obamas, nicht etwa die Unwahrheit gesagt, sondern ›alternative Fakten‹ dargestellt. Im Kontext einer Selbstreflexion der Geistes- und Kulturwissenschaften ist diese Debatte von Bruno Latour bereits 2004 angestoßen worden; sein Aufsatz »Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Facts to Matters of Concern«[1] gehört in den fünf Beiträgen des Heftschwerpunkts dann auch zu den am häufigsten zitierten. „Mareike Schildmann / Patrick Hohlweck: AUF DEM BODEN DER TATSACHEN“ weiterlesen