Einer bekannten Redensart zufolge soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Zynisch könnte man fragen: Gilt das auch für Epochenwenden? Sind die auch hinzunehmen wie wiederkehrende Feiertage, Grippewellen oder unerwartete Naturkatastrophen? Dass die Covid-19-Pandemie schon jetzt in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen als Epochenwende verstanden wird, merkt man nicht nur an der Häufung des vordem eher vermiedenen Epochenbegriffs, sondern auch am Gebrauch der Formel ›vor und nach Corona‹ – obwohl doch ein Ende der Pandemie derzeit nicht in Sicht ist und deshalb auch und gerade Feste nicht wie üblich begangen werden können (oder sollten).
Eigentlich wissen wir aber alle, dass diese Pandemie weder eine Grippewelle ist (obwohl US-Präsident Trump und andere Verschwörungstheoretiker das hartnäckig und wider alle Fakten behaupten) noch ein Schicksalsschlag oder eine Naturkatastrophe. Covid-19 hängt sehr direkt mit der Globalisierung zusammen, und die wieder mit dem Klima, dessen Wandel nach Wende und Wandel im Handel und Wandel aller verlangt. Wie genau sich hier eins aufs andere reimt, wissen wir vorläufig nicht. Das zuzugeben, wäre ein Gebot der Redlichkeit. Aber es gilt derzeit nicht viel, weder in der Politik noch in der Zeitgeschichtsschreibung, von manchen Intellektuellenkreisen ganz zu schweigen. In seinem ZfL-Blogbeitrag zur »Unsouveränität in der Pandemie« hat Henning Trüper auf das Paradoxe aller Versuche hingewiesen, unter diesen Umständen Orientierung zu gewinnen oder zu stiften.
Jedenfalls gehört diese Pandemie, ob sie nun tatsächlich eine Epochenwende schon gezeitigt hat oder ob eine solche erst noch einzuläuten ist, chronologisch der 2016 von der Wissenschaft aus der Taufe gehobenen Epoche des Anthropozäns an: Die geläufige Unterscheidung zwischen historischen Epochen und solchen der Natur- bzw. Erdgeschichte findet hier keine Anwendung mehr. Dass wir nicht wissen, ob wir mitten in einer Epochenwende sind oder gerade jetzt eine solche brauchen, ist jedenfalls nichts Neues. Solche Ungewissheiten und Doppeldeutigkeiten stecken im Konzept der Epochenwenden. Sie können einerseits als sich quasi eigengesetzlich vollziehende (aber meistens ex post erst zugeschriebene) Veränderungen verstanden werden. Sie können andererseits aber auch als zu vollbringende Aktion für die Zukunft eingefordert werden. Im einen wie im anderen Fall sind aktuelle (Herrschafts-)Absichten, ist Zukunftsplanung im Spiel. Aber auch Altes klingt nach, denn Metaphern wie die des Einläutens oder des Zeitigens entstammen dem religiösen Register. Sie bergen mindestens so viele erhellende wie verdunkelnde Deutungspotentiale. Das ist ein Dilemma.
Statt zu entscheiden, was für oder gegen eine Epochenwende in dem einen oder anderen Sinne spricht, treten wir daher einen Schritt zurück. Die aktuellen Ereignisse, Debatten und Spekulationen sind uns Anlass für die Erprobung des Konzepts der Epochenwenden in unterschiedlichen Kontexten und unter verschiedenen Bedingungen. In diesem Sinne adressieren die Beiträge von Pola Groß, Ernst Müller und Henning Trüper für das Faltblatt zum Jahresthema den Gegenstand aus ihren jeweiligen Forschungsperspektiven. Nicht zufällig geht es in allen drei Beiträgen um Epochenwenden in der Moderne, die als Epochenbegriff besonders umstritten ist.
Dass Epochen stets provisorische Konstrukte sind, die manches verschatten und anderes hervorheben, ist kein hinreichender Grund, ihnen jede Berechtigung abzusprechen. Gerade der Konstruktcharakter sorgt ja dafür, dass es eine wechselvolle und immer wieder offene Geschichte der Epochenzuschreibungen, Epochenbegriffe, Periodisierungen – und gegenwärtig einen Kampf um die Deutungshoheit über die Pandemie – geben kann. Die überlieferte Dreiteilung Antike, Mittelalter und Moderne ist durch das ›lange Mittelalter‹ und das Einrücken der ›Frühen Neuzeit‹ in Bewegung gekommen. Auch bei abgeschlossenen Epochen stellt die Frage nach Epochenwenden, Epochenumbrüchen und Epochenwandel eine dauernde Herausforderung dar. So haben Historiker*innen im 20. Jahrhundert vor allem Übergangszeiten und Epochenschwellen in den Blick genommen. Kosellecks ›Sattelzeit‹ ist mit einer Spanne von 100 Jahren (1750–1850) selbst zu einer Epoche geworden. Dass es für die Zeit danach, je näher man unserer Gegenwart rückt, mit der Bestimmung von Epochenbegriffen und Epochenwenden zunehmend schwieriger wird, bezeugen Behelfskonstruktionen wie das ›lange 19. Jahrhundert‹, das ›kurze 20. Jahrhundert‹ oder Früh-, Hoch-, Spät-, Post- und Postpostmoderne ebenso wie das bis zur Jahrtausendwende vielfach bemühte Posthistoire. Mit diesen und weiteren Fragen wollen wir uns in den kommenden Semestern beschäftigen.
Was wir jetzt, nicht nur für unsere wissenschaftlichen Tätigkeiten, brauchen, ist jedenfalls Gelassenheit, Umsicht, Solidarität und: Abstand. (»Abstand« lautet das Thema der mit dem Literaturhaus Berlin organisierten ZfL-Literaturtage für den Sommer 2021.)
In diesem Jahr hatten Hegel und Hölderlin 250. Geburtstag. Die fälligen Feierlichkeiten konnten nicht in der erwarteten Weise begangen werden. Für Hölderlin waren Fest und Zeitenwende nach 1789 lange eins. Seine spätesten Gedichte kreisen um die Jahreszeiten. Eines mit dem Titel »Frühling« aus der Zeit seiner sogenannten Umnachtung beginnt mit den Versen:
Wie selig ists, zu sehen, wenn Stunden wieder tagen,
Wo sich vergnügt der Mensch umsieht in den Gefilden,
Wenn Menschen sich um das Befinden fragen,
Wenn Menschen sich zum frohen Leben bilden.
Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL. Dieser Beitrag erschien erstmals als Editorial auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2020/21, »Epochenwenden«.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Jahresthema 2020/21, Epochenwenden, in: ZfL BLOG, 10.11.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/11/10/eva-geulen-jahresthema-2020-21-epochenwenden/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20201011-01