Pola Groß: SCHREIBEN UND LEBEN – CLARICE LISPECTORS CRÔNICAS

Clarice Lispector (1920-1977) gilt als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Während ihr umfangreiches Werk im angelsächsischen, lateinamerikanischen und französischsprachigen Raum mittlerweile im Kontext von Feminismus, Posthumanismus und postkolonialer Literatur diskutiert wird, ist die brasilianische Autorin im deutschsprachigen Raum nur Wenigen bekannt.[1] Das mag vor allem an veralteten, vergriffenen, zuweilen schlicht mangelhaften Übersetzungen liegen. Doch auch die Literaturkritik hat dazu beigetragen: Eine vorrangig biographische Lektüre hat Lispectors Romane und Erzählungen einerseits viel zu lange in Richtung ›Frauenliteratur‹ gerückt, andererseits wurde sie vorschnell als zu komplex bzw. unverständlich abgetan oder als ›hermetisch‹ verklärt.[2] Lispectors literarische Ausdrucksformen und ihr spezifischer Zugriff auf Sprache und Welt lassen sich mit derartigen Etiketten nicht fassen. „Pola Groß: SCHREIBEN UND LEBEN – CLARICE LISPECTORS CRÔNICAS“ weiterlesen

Oliver Precht: GIBT ES EINE »BRAZILIAN THEORY«?

Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie French Theory (oder in jüngerer Zeit auch Italian Theory)[1] herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm.[2] Dennoch bietet die Rede von einer French Theory – im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Frankreich entstandenen und popularisierten Sammelbegriffen Poststrukturalismus oder Postmoderne – einige Vorteile. Sie verpflichtet die disparaten Theorien erstens nicht auf ein gemeinsames Programm und verweist zweitens darauf, dass die Produktion von Theorie an einem bestimmten Ort geschieht, in diesem Fall im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre, und ihre Entstehung an einen gesellschaftlich-politischen Kontext sowie an institutionelle Rahmenbedingungen gebunden ist. In jüngerer Vergangenheit drängt sich zunehmend die Frage nach einer möglichen Brazilian Theory auf. Bereits 2014 erschien in Deutschland, allerdings in englischer Sprache, unter dem Titel The Forest and the School eine erste Anthologie.[3] In den folgenden Jahren nahm das Interesse an Theorie aus (und über) Brasilien spürbar zu, was sich nicht zuletzt in einer Reihe von Übersetzungen niederschlug.[4] Als Timo Luks diese Entwicklung 2020 unter dem Titel »Brasilianische Interventionen« im Merkur reflektierte, konnte er bereits feststellen: »Brasilen ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken«.[5] Selbst von einer sich andeutenden »Brasilianisierung der Theorie« ist hier die Rede. „Oliver Precht: GIBT ES EINE »BRAZILIAN THEORY«?“ weiterlesen