Nebiha Guiga: SOZIALE LEBENSWELTEN UND DER ALLGEMEINE HUMANITARISMUS

Abb. 1: Farbige gusseiserne Spendenbüchse in Form eines überdachten Rettungsbootes der Hospitaliers Sauveteurs Bretons, Rennes, Musée national de la Marine, Paris, CC BY-SA 4.0

Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im bretonischen Rennes gegründeten Société des Hospitaliers Sauveteurs Bretons (SHSB) hingegen ging es allgemein um die Rettung von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren (Abb. 1, Spendenbüchse). Die Seenotrettung war für diese Gesellschaft also nur Teil eines weit größeren Projekts. So sahen die umfangreichen Regularien der SHSB den Aufbau einer Verwaltung vor, zu der auch Priester und Ärzte gehörten, die sich um das Wohlergehen aller Beteiligten kümmern sollten. Eine eigene Sektion zu Disziplinarmaßnahmen legte sogar Strafen für Gewalt gegen Tiere oder Mangel an Höflichkeit fest. Doch schon nach wenigen Jahren konzentrierte sich die SHSB entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung fast ausschließlich auf die Rettung schiffbrüchiger Seeleute. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Spannung, ein erklärungsbedürftiges Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen, allgemeinen humanitären Anspruch und der praktischen Umsetzung konkreter Maßnahmen. „Nebiha Guiga: SOZIALE LEBENSWELTEN UND DER ALLGEMEINE HUMANITARISMUS“ weiterlesen

Maud Meyzaud: AL-ANDALUS – EINE GEGENWELT INMITTEN EUROPAS

I.

Noch in den 1980er Jahren stand in französischen Geschichtslehrbüchern dieser Satz: »732: Charles Martel arrête les Arabes à Poitiers.« Wie konnte ein Mann namens Charles Martel im Alleingang so viele Menschen auf­halten, mag sich so manches Schulkind gefragt haben. Und was machten die sogenannten Araber überhaupt im tiefen französischen Westen? Der Satz über die Schlacht von Poitiers fand im 19. Jahrhundert Eingang in Unterrichtsmaterialien, als die Kolonialpolitik Frankreichs sich auf den Maghreb ausdehnte. Er brachte die mutmaßliche Überlegenheit des Westens über die vermeintlich rückständige islamische Welt zum Ausdruck und fügte sich somit nahtlos in jenen Orient-Diskurs ein, den Edward Said in seinem grundlegenden Werk Orientalism analysiert hat. So erklärt sich auch, dass der Satz in Algerien noch während des Unabhängigkeitskriegs 1954–­1962 von den einheimischen Kindern auswendig gelernt werden musste.[1] „Maud Meyzaud: AL-ANDALUS – EINE GEGENWELT INMITTEN EUROPAS“ weiterlesen